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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 237/97, Beschluss v. 03.09.1997, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 237/97 - Beschluss vom 3. September 1997 (LG Berlin)

BGHSt 43, 212; Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Rekonstruktionsverbot bei unrichtiger Wiedergabe einer Zeugenaussage: Ausnahme bei Darlegung durch die Verfahrensakten; Verbot der Heranziehung von Aufzeichnungen bezüglich der Hauptverhandlung); Grundsatz des fairen Verfahrens (fair-trial-Grundsatz; keine Pflicht des Gerichts sich in der Hauptverhandlung über die Wertung einzelner Beweiserhebungen zu erklären; Antrag / Bitte der Verteidigung; Hinweispflicht).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 257 Abs. 2 StPO; § 261 StPO; § 265 StPO

Leitsätze

1. Auch unter dem Gesichtspunkt fairer Verfahrensgestaltung ist in der Hauptverhandlung ein Zwischenverfahren, in dem sich das Gericht zu Inhalt und Ergebnis einzelner Beweiserhebungen erklären müsste, nicht vorgesehen. (BGHSt)

2. Eine Rüge, § 261 StPO sei verletzt, weil Zeugen in der Hauptverhandlung etwas anderes bekundet hätten als im Urteil festgestellt, ist unzulässig (Rekonstruktionsverbot bezüglich der tatrichterlichen Beweisaufnahme). Allerdings ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt, dass die Rüge, § 261 StPO sei verletzt, durchgreifen kann, wenn ohne Rekonstruktion der Beweisaufnahme allein aufgrund der Aktenlage der Nachweis geführt werden kann, dass die im Urteil getroffenen Feststellungen nicht durch die in der Hauptverhandlung benutzten Beweismittel gewonnen werden konnten. Der Bundesgerichtshof hat dies angenommen, wenn der Wortlaut einer in der Hauptverhandlung verlesenen Urkunde im Urteil unrichtig wiedergegeben worden ist (BGH MDR 1976, 989; BGH StV 1983, 321; BGH NStZ 1987, 18; vgl. BGHSt 29, 18, 21; für Fälle der wörtlichen Protokollierung einer Aussage vgl. BGHSt 38, 14, 16 f.). (Bearbeiter)

3. Der Grundsatz des § 261 StPO verbietet ausnahmslos, Aufzeichnungen, die ein Prozessbeteiligter über die Vernehmung eines Zeugen in der Hauptverhandlung abweichend von den tatrichterlichen Feststellungen gemacht hat, zu deren Widerlegung im Revisionsverfahren heranzuziehen (BGHSt: 15, 347). (Bearbeiter)

4. Bestehen gesetzliche Regelungen bleibt kein Raum, aus dem Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren diese durch die Herleitung anderer Rechte / Pflichten zu verdrängen. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

1. Auf Antrag des Generalbundesanwalts wird das Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt, soweit der Angeklagte im Fall 5 b wegen Beleidigung verurteilt worden ist. Insoweit trägt die Staatskasse die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten.

2. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 24. September 1996 wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

3. Der Angeklagte hat die verbleibenden Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung und vorsätzlicher Körperverletzung, wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung und Bedrohung, wegen Beleidigung in sieben Fällen, wegen Bedrohung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Beleidigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Nach der vom Senat vorgenommenen Teileinstellung des Verfahrens ist die Revision unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Das Landgericht hat in den Urteilsgründen acht Beleidigungstaten festgestellt (Fälle 3, 4 a, 4 c bis f, 5 a, b der Urteilsgründe), aber im Schuldspruch nur sieben Beleidigungstaten erfaßt, ohne daß sich aus dem Urteil ergibt, welche der Taten nicht abgeurteilt worden ist. Der Senat hat deswegen auf Antrag des Generalbundesanwalts das Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt, soweit dem Angeklagten in Fall 5 b der Urteilsgründe - die letzte in den Urteilsgründen festgestellte Beleidigungstat - eine Beleidigung zur Last gelegt worden ist. Der Senat kann angesichts der verbleibenden Einzelstrafen ausschließen, daß das Landgericht bei Wegfall der wegen der letzten Beleidigung verhängten Einzelfreiheitsstrafe von einem Monat eine niedrigere als die erkannte Gesamtstrafe festgesetzt hätte.

II.

Der Senat sieht Anlaß, zu einer Verfahrensrüge - ergänzend zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts - Stellung zu nehmen.

1. Mit dieser Verfahrensrüge, die sich allein auf die dem Angeklagten vorgeworfene Vergewaltigungstat bezieht, wird ein "Verstoß gegen § 261 StPO bzw. gegen den fair-trial-Grundsatz" geltend gemacht.

Dem liegt im wesentlichen folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Nach der Vernehmung der Geschädigten und einzigen unmittelbaren Tatzeugin, auf deren Angaben die Strafkammer die Überführung des schweigenden Angeklagten im wesentlichen stützt, hat die Verteidigung eine Erklärung gemäß § 257 Abs. 2 StPO abgegeben. Diese Erklärung ist zudem in schriftlicher Form überreicht und als Anlage zum Protokoll genommen worden. In dieser Erklärung ist die Aussage der Zeugin, so wie die Verteidigung sie verstanden hat, ausführlich niedergelegt. Hieran anknüpfend, hat die Verteidigung folgendes beantragt: "Sollte die vorstehende Wiedergabe der Aussage in einem wesentlichen Punkt unzutreffend sein, bittet die Verteidigung um einen tatsächlichen Hinweis, damit sie bei der Beurteilung des Sachverhaltes nicht von einem Irrtum ausgeht." Die Revision macht geltend, daß ein Hinweis der beantragten Art nicht erteilt worden sei, daß das angefochtene Urteil gleichwohl in einzelnen Punkten von der Aussage der Zeugin in der von der Verteidigung schriftlich festgehaltenen Fassung abweiche und in anderen Punkten zu der solcherart fixierten Aussage der Zeugin schweige.

2. Diese Verfahrensrüge kann keinen Erfolg haben. Es bedarf keiner Entscheidung, ob die von der Revision gesehenen Differenzen zwischen einerseits der Aussage der Zeugin, wie diese Aussage in der Erklärung der Verteidigung gemäß § 257 Abs. 2 StPO ihren Niederschlag gefunden hat, und andererseits den Urteilsgründen besteht oder ob das angefochtene Urteil zu einem in diesem Sinne entsprechend bedeutsamen Gesichtspunkt schweigt.

a) Erfolglos bleibt die Rüge unter dem Gesichtspunkt einer etwaigen Verletzung der Vorschrift des § 261 StPO.

Eine Rüge, § 261 StPO sei verletzt, weil Zeugen in der Hauptverhandlung etwas anderes bekundet hätten als im Urteil festgestellt, ist unzulässig. Der Nachweis für diese Behauptung könnte vom Revisionsgericht nur durch eine ihm grundsätzlich verwehrte Rekonstruktion der Beweisaufnahme des Tatrichters geführt werden (Hürxthal in KK 3. Aufl. § 261 Rdn. 53).

Allerdings ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt, daß die Rüge, § 261 StPO sei verletzt, durchgreifen kann, wenn ohne Rekonstruktion der Beweisaufnahme allein aufgrund der Aktenlage der Nachweis geführt werden kann, daß die im Urteil getroffenen Feststellungen nicht durch die in der Hauptverhandlung benutzten Beweismittel gewonnen werden konnten (Hürxthal in KK 3. Aufl. § 261 Rdn. 52). Der Bundesgerichtshof hat dies angenommen, wenn der Wortlaut einer in der Hauptverhandlung verlesenen Urkunde im Urteil unrichtig wiedergegeben worden ist (BGH MDR 1976, 989; BGH StV 1983, 321; BGH NStZ 1987, 18; vgl. BGHSt 29, 18, 21; für Fälle der wörtlichen Protokollierung einer Aussage vgl. BGHSt 38, 14, 16 f.).

So liegt der Fall hier aber nicht. Zwar mag aufgrund der zu Protokoll gereichten Erklärung urkundlich belegt sein, daß nach Auffassung der Verteidigung die Zeugin teilweise etwas anderes bekundet hat, als das Gericht im Urteil festgestellt hat. Daraus ergibt sich jedoch nicht, daß die Zeugin tatsächlich so ausgesagt hat. Der Grundsatz des § 261 StPO verbietet ausnahmslos, Aufzeichnungen, die ein Prozeßbeteiligter über die Vernehmung eines Zeugen in der Hauptverhandlung abweichend von den tatrichterlichen Feststellungen gemacht hat, zu deren Widerlegung im Revisionsverfahren heranzuziehen (BGHSt: 15, 347).

b) Die Revision nimmt einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens, dabei insbesondere eine Verletzung des aus der Vorschrift des § 265 StPO folgenden Rechtsgedankens an. Eine solche Rechtsverletzung liegt nicht vor. Das Landgericht war unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt verpflichtet, einen Hinweis darauf zu erteilen, daß es die Aussage der Zeugin etwa anders als die Verteidigung verstanden hat.

aa) Unmittelbar aus der Vorschrift des § 265 StPO folgt eine solche Verpflichtung nicht. Auch ein - differenziert zu beurteilender - Fall einer wesentlichen Abweichung in der Beurteilung tatsächlicher Verhältnisse zwischen Anklage und Hauptverhandlung (vgl. BGHSt 19, 88; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 43. Aufl. § 265 Rdn. 23 m.w.N.) liegt nicht vor.

bb) Vielmehr ergeben wesentliche Verfahrensgrundsätze, daß eine derartige Bescheidungspflicht nicht besteht. Die der Revision zugrundeliegende Auffassung läuft darauf hinaus, daß der Verteidiger innerhalb der Hauptverhandlung ein - weitgehend schriftliches - Zwischenverfahren veranlassen könnte, in dem der Tatrichter zu erklären hätte, wie er den Inhalt einer Beweiserhebung aufgenommen und wie er das Ergebnis der Verwendung eines einzelnen Beweismittels - hier einer Zeugenvernehmung - verstanden hat. Solches würde den in der Vorschrift des § 261 StPO geregelten Prinzipien und dem Grundsatz der Mündlichkeit der Hauptverhandlung widersprechen. Der Tatrichter hat - erst - in der Urteilsberatung darüber zu befinden, wie er die einzelnen verwendeten Beweismittel einschätzt. Ein Zwischenverfahren, in dem sich das Gericht zu Inhalt und Ergebnis einzelner Beweiserhebungen erklären müßte, ist nicht vorgesehen.

cc) Die Vorschrift des § 257 StPO regelt in spezieller Weise, welche Rechte der Angeklagte und der Verteidiger haben, um bereits während der Beweisaufnahme Einfluß darauf zu nehmen, wie das Gericht einzelne erhobene Beweise würdigt. Auch dies spricht gegen die Zulässigkeit eines Zwischenverfahrens der genannten Art. Die Möglichkeit eines offenen Rechtsgespräches wird hierdurch selbstverständlich nicht beschränkt.

dd) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus folgendem: Allerdings gilt im Beweisantragsrecht unter den Gesichtspunkten der "Offenheit und Fairneß" und des danach wünschenswerten "Dialogs", daß die Verfahrensbeteiligten gehalten sind, etwa aufgetretene Mißverständnisse auszuräumen (vgl. Basdorf StV 1995, 310, 318 f. m.N.). Indes kann dies nicht auf Erklärungen im Rahmen der Vorschrift des § 257 Abs. 2 StPO übertragen werden; denn hier gilt gerade nicht das Prinzip der Antragsbescheidung (§ 244 Abs. 6, § 238 Abs. 2 StPO).

ee) Auch ergibt sich hier nichts anderes daraus, daß der Bundesgerichtshof in Sonderfällen Verfahrensrügen der Art anerkannt hat, daß entweder eine Verletzung von § 261 StPO oder eine Verletzung der Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO vorliegt (vgl. Ziegert StV 1996, 279 m.w.N.; andererseits G. Schäfer StV 1995, 147, 154 ff.). Den seltenen Fällen, in denen eine solche Rüge statthaft sein kann, ist die Besonderheit eigen, daß - regelmäßig aufgrund essentieller, nicht erklärlicher Widersprüche zwischen Urteil und Akteninhalt - der Tatrichter entweder die eine oder die andere Vorschrift verletzt haben muß. Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Nicht einmal die Revision behauptet, daß eine Alternativität von Rechtsverletzungen in dem genannten Sinne vorliege.

ff) Angesichts der gesetzlichen Regelungen bleibt kein Raum, etwa aus dem Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren eine Pflicht des Tatrichters herzuleiten, Anträgen der vorliegenden Art durch einen tatsächlichen Hinweis Rechnung zu tragen. Zudem liegt kein Fall vor, in dem der Tatrichter etwa ein schutzwürdiges Vertrauen des Angeklagten bzw. der Verteidigung ausgelöst hätte.

c) Der Beschwerdeführer macht in "Vorbemerkungen" zur Revisionsbegründung geltend, daß eine "Verfälschung des Sachverhalts" durch die Strafkammer vorliege. Sollte der Beschwerdeführer mit der genannten Behauptung ernsthaft eine bewußte Verfälschung des Sachverhalts durch die Strafkammer - wofür der Senat keinerlei Anhaltspunkte sieht - gemeint haben, so gilt der Hinweis auf die Vorschriften der § 336 StGB und § 359 Nr. 3 StPO.

Externe Fundstellen: BGHSt 43, 212; NJW 1997, 3182; NStZ 1998, 51; StV 1997, 561; StV 1998, 113

Bearbeiter: Rocco Beck