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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1468

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 239/23, Beschluss v. 14.11.2023, HRRS 2023 Nr. 1468


BGH 4 StR 239/23 - Beschluss vom 14. November 2023

Verwerfung eines unzulässige Ablehnungsantrags (enge Auslegung; tauglicher Grund zur Ablehnung); Besorgnis der Befangenheit (Standpunkt eines besonnenen Angeklagten; Vorbefassung des abgelehnten Richters: Rechtsfehler in Entscheidungen, Hinzutreten besonderer Umstände, Ablehnung eines weiteren Entscheidungsaufschubs).

§ 26a StPO; § 24 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Knüpft die Richterablehnung an eine den Verfahrensgegenstand betreffende Vorbefassung des abgelehnten Richters mit der Sache an, ist dieser Umstand regelmäßig nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen. Auch Rechtsfehler in Entscheidungen bei einer Vorbefassung mit dem Sachverhalt oder im zu Grunde liegenden Verfahren können eine Ablehnung im Allgemeinen nicht begründen. Anders verhält es sich lediglich beim Hinzutreten besonderer Umstände, die über die Tatsache bloßer Vorbefassung als solcher und der damit notwendig verbundenen inhaltlichen Äußerung hinausgehen.

Entscheidungstenor

Die Ablehnungsgesuche des Angeklagten gegen den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Dr. Quentin vom 5. September 2023, 11. September 2023, 18. September 2023, 8. Oktober 2023 und 21. Oktober 2023 werden verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten bei Freispruch im Übrigen wegen „Betruges in 64 Fällen, davon in 12 Fällen in Tateinheit mit Diebstahl, des Diebstahls in einem weiteren Fall und der vorsätzlichen Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis“ unter Einbeziehung der Strafe aus einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten und zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt und Nebenentscheidungen getroffen. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts rügt.

Der Generalbundesanwalt hat am 31. Juli 2023 die Verwerfung der Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO beantragt und die Akten dem Revisionsgericht zugeleitet. Der Antrag wurde dem Pflichtverteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt P., ordnungsgemäß zugestellt. Die Frist des § 349 Abs. 3 Satz 2 StPO ist am 15. August 2023 abgelaufen.

Durch Schreiben eingegangen beim Bundesgerichtshof am 5. August 2023 hat der zu diesem Zeitpunkt durch zwei Pflichtverteidiger vertretene Angeklagte die Mandatierung eines „Hamburger Anwalts“ angekündigt, der zum Verwerfungsantrag des Generalbundesanwalts Stellung nehmen werde und gebeten, „dem Unterzeichner Fristverlängerung zum Antrag des Generalbundesanwalts bis zum 2.9.23 zu gewähren“. Der Vorsitzende hat dem Angeklagten durch Schreiben vom 9. August 2023 mitgeteilt, dass der Senat nicht vor dem 2. September 2023 entscheiden werde.

Durch Schreiben, eingegangen am 23. August 2023, hat Rechtsanwalt S. aus M. die Verteidigung des Angeklagten angezeigt, Akteneinsicht und unter Hinweis darauf, dass erst nach erfolgter Akteneinsicht eine „Begründung der Revision“ gefertigt werden könne, eine „Fristverlängerung bis wenigstens zum 26. September 2023“ beantragt. Der Vorsitzende hat am 24. August 2023 die Aktenübersendung an Rechtsanwalt S. verfügt und ihm mit Schreiben vom selben Tag unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2017 - 3 StR 447/16, NStZ-RR 2017, 148 mwN) mitgeteilt, dass die Frist des § 345 Abs. 1 StPO nicht verlängerbar sei.

Durch Schreiben, eingegangen am 26. August 2023, hat der Angeklagte mitgeteilt, dass der „Schriftsatz an Herrn RA S.“ keinen Bestand haben könne, und um Fristverlängerung bis zum 27. September 2023 gebeten. Rechtsanwalt S. hat am 28. August 2023 seinerseits beantragt, ihm „zur Stellungnahme auf den Antrag des Generalbundesanwalts vom 31.07.2023 eine Frist bis zum 28.09.2023 einzuräumen“. Am 5. September 2023 hat der Angeklagte erneut - nunmehr bis zum 30. September 2023 - eine Fristverlängerung zum Antrag des Generalbundesanwalts beantragt, da seine Wahlverteidiger bis Ende des Monats mit Arbeit ausgelastet seien. Der Vorsitzende hat daraufhin dem Angeklagten schriftlich am 6. September 2023 mitgeteilt, dass eine Fristverlängerung nicht möglich ist.

Durch Schreiben, datiert auf den 5. September 2023, eingegangen am 11. September 2023, hat der Angeklagte „Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Dr. Quentin“ erhoben. Er hat ausgeführt, die „Argumentation des Vorsitzenden mitgeteilt durch die Angestellten der Geschäftsstelle“ gehe „ins Leere“. Sowohl ihm persönlich als auch seinem Verteidiger stehe das Recht zu, auf den Antrag des Generalbundesanwalts zu erwidern. Ihm persönlich sei dieser Antrag nicht zugesandt worden. Seine „Pflichtanwälte“ hätten keine umfassende Stellungnahme abgegeben. Daraus resultiere nach seiner Betrachtung der Sach- und Rechtslage ein „Rechtsanspruch auf neue Wahlverteidiger“, von dem der Vorsitzende „keinen Gebrauch“ gemacht und diesen dadurch missachtet habe. Aus diesem Grunde bestehe Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit.

Durch Schreiben vom 11. September, 18. September, 8. Oktober und 21. Oktober 2023 hat der Angeklagte weitere Ablehnungsgesuche gegen den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Dr. Quentin erhoben. In diesen Gesuchen wiederholt er der Sache nach seine bereits im Ablehnungsantrag vom 5. September 2023 vorgetragene Bewertung, dass sowohl seinen zwischenzeitlich mandatierten Wahlverteidigern als auch ihm persönlich das Recht zur Stellungnahme zum Antrag des Generalbundesanwalts verwehrt werde, was seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletze und Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Vorsitzenden begründe.

Der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof Dr. Quentin hat am 16. Oktober 2023 eine dienstliche Stellungnahme zu den Ablehnungsgesuchen vom 5. September, 11. September, 18. September und 8. Oktober 2023 abgegeben, in der er bestätigt hat, die genannten schriftlichen Mitteilungen auf die entsprechenden Anträge des Angeklagten und seines Verteidigers Rechtsanwalt S. hin verfasst zu haben. Der Angeklagte hatte Gelegenheit, zur dienstlichen Erklärung des abgelehnten Richters Stellung zu nehmen.

Mit Schreiben vom 4. November 2023 hat der Angeklagte erneut Fristverlängerung bis zum 1. Dezember 2023 beantragt.

Eine Verlängerung der Äußerungsfrist zu der dienstlichen Stellungnahme des Vorsitzenden vom 16. Oktober 2023 kam nicht in Betracht, da hierfür ein Bedürfnis weder vorgetragen noch sonst ersichtlich war.

II.

Die Ablehnungsgesuche bleiben ohne Erfolg.

1. Sämtliche Ablehnungsgesuche des Angeklagten richten sich ausschließlich gegen den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Dr. Quentin. Soweit der Befangenheitsantrag vom 8. Oktober 2023 mit „Befangenheitsantrag gegen erkennende Richter des 4. Strafsenats des BGH“ überschrieben ist, ergibt sich aufgrund seines ausschließlich auf prozessleitende Anordnungen des Vorsitzenden rekurrierenden Inhalts und der in der Begründung des Gesuchs mehrfach gebrauchten Singularform („des Richters“) eindeutig, dass auch dieser Ablehnungsantrag ausschließlich gegen den Vorsitzenden gerichtet ist. Weitere Mitglieder des Senats werden hingegen weder namentlich noch in sonst eindeutig bestimmbarer Weise bezeichnet.

2. Die Befangenheitsanträge gegen den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Dr. Quentin vom 11. September, 18. September, 8. Oktober und 21. Oktober 2023 sind bereits unzulässig.

Denn diesen Ablehnungsgesuchen ist - auch eingedenk der gebotenen engen Auslegung des § 26a StPO (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juni 2005 - 2 BvR 625/01 und 2 BvR 638/01, NJW 2005, 3410; BGH, Beschluss vom 9. Juli 2015 - 1 StR 7/15, juris Rn. 16; Beschluss vom 10. Juli 2014 - 3 StR 262/14, juris Rn. 9) - kein tauglicher Grund zur Ablehnung im Sinne von § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO zu entnehmen. Bei dem Vorbringen handelt es sich ausschließlich um Wiederholungen der bereits im Gesuch vom 5. September 2023 ausgeführten eigenen Bewertung der Verfahrenslage durch den Angeklagten. Dies steht dem gänzlichen Fehlen einer Begründung dieser Ablehnungsgesuche gleich (vgl. BGH, Beschluss vom 25. August 2020 - 4 StR 654/19, juris Rn. 1; Beschluss vom 9. Juli 2015 - 1 StR 7/15, juris Rn. 12).

3. Der Senat kann offenlassen, ob das Ablehnungsgesuch vom 5. September 2023 zulässig ist und ihm die Behauptung eines konkreten Verhaltens des Vorsitzenden als Anknüpfungspunkt der Ablehnung sowie die Voraussetzungen der Rechtzeitigkeit des Vorbringens und deren Glaubhaftmachung (§§ 26 Abs. 2 Satz 1, 25 Abs. 2 StPO) noch hinreichend zu entnehmen sind. Der Ablehnungsantrag ist jedenfalls unbegründet.

a) Die Besorgnis der Befangenheit eines Richters ist nur gegeben, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, der Richter nehme ihm gegenüber eine innere Haltung ein, die die gebotene Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 2. September 2020 - 5 StR 630/19, juris Rn. 18; Beschluss vom 28. Februar 2018 - 2 StR 234/16, juris Rn. 21; Urteil vom 10. November 1967 - 4 StR 512/66, BGHSt 21, 334, 341). Maßstab für die Beurteilung dieser Voraussetzungen sind dabei der Standpunkt eines besonnenen Angeklagten und die Vorstellungen, die er sich bei der ihm zumutbaren ruhigen Prüfung der Sachlage machen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Februar 2018 - 2 StR 234/16, juris Rn. 24; Urteil vom 2. März 2004 - 1 StR 574/03, NStZ-RR 2004, 208, 209; Beschluss vom 8. März 1995 - 5 StR 434/94, BGHSt 41, 69, 71). Knüpft die Richterablehnung an eine den Verfahrensgegenstand betreffende Vorbefassung des abgelehnten Richters mit der Sache an, ist dieser Umstand regelmäßig nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Januar 2023 - 4 StR 67/22, juris Rn. 10; Beschluss vom 28. Februar 2018 - 2 StR 234/16, juris Rn. 22 mwN). Auch Rechtsfehler in Entscheidungen bei einer Vorbefassung mit dem Sachverhalt oder im zu Grunde liegenden Verfahren können eine Ablehnung im Allgemeinen nicht begründen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Februar 2018 - 2 StR 234/16, juris Rn. 22 mwN). Anders verhält es sich lediglich beim Hinzutreten besonderer Umstände, die über die Tatsache bloßer Vorbefassung als solcher und der damit notwendig verbundenen inhaltlichen Äußerung hinausgehen (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 2022 - 3 StR 181/21, NStZ-RR 2022, 345, 348 f. mwN).

b) Ausgehend von diesen Maßstäben begründet weder die Ablehnung einer Fristverlängerung durch den Vorsitzenden noch die unterlassene Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers die Besorgnis der Befangenheit.

Die in den Ablehnungsgesuchen thematisierten Mitteilungen des Vorsitzenden an den Angeklagten und an seinen Verteidiger Rechtsanwalt S., wonach eine Fristverlängerung nicht in Betracht komme, entsprechen - sowohl im Hinblick auf die Frist des § 345 Abs. 1 StPO als auch des § 349 Abs. 3 Satz 2 StPO - der Gesetzeslage (vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2021 - 2 StR 189/21, juris Rn. 4; Beschluss vom 24. Januar 2017 - 3 StR 447/16, NStZ-RR 2017, 148; Beschluss vom 13. Dezember 2007 - 1 StR 497/07, juris Rn. 4). Zudem entspricht es der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass Stellungnahmen zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts nach Ablauf der Frist des § 349 Abs. 3 Satz 2 StPO selbst dann nicht abgewartet zu werden brauchen, wenn sie ausdrücklich in Aussicht gestellt worden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 31. August 2021 - 2 StR 189/21, juris Rn. 3; Beschluss vom 30. Juli 2008 - 2 StR 234/08, NStZ-RR 2008, 352). Dies gilt selbst dann, wenn der Beschwerdeführer gleichzeitig um Überlassung der Akten bittet (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Juli 1990 - 4 StR 263/90, juris Rn. 4; Löwe-Rosenberg/Franke, 26. Aufl., § 349 Rn. 20). Die Ablehnung eines weiteren Entscheidungsaufschubs durch den Vorsitzenden war - zumal nach anfänglichem Zuwarten mit einer Entscheidung auf eine entsprechende Eingabe des Angeklagten hin - in Ermangelung eines sachlichen Grundes hierfür unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgrundsatzes sachgerecht.

Gleiches gilt für die von dem Angeklagten angeführten Erwägungen, der Vorsitzende habe ihm einen oder mehrere weitere Pflichtverteidiger beiordnen und für die Übermittlung des Antrags des Generalbundesanwalts an ihn persönlich Sorge tragen müssen. Der Angeklagte ist durch zwei Pflichtverteidiger vertreten. Anhaltspunkte dafür, dass durch diese eine ordnungsgemäße Verteidigung nicht gewährleistet ist, ergeben sich weder aus dem Vortrag des Angeklagten noch sind solche Umstände sonst ersichtlich. Ob ein Verteidiger von der Möglichkeit zur Stellungnahme zum Antrag des Generalbundesanwalts Gebrauch macht, obliegt allein seiner Verantwortung (vgl. KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 349 Rn. 20 mwN). Eine Pflicht des Revisionsgerichts oder des Vorsitzenden, auf die Abgabe einer Stellungnahme nach § 349 Abs. 3 Satz 2 StPO hinzuwirken, existiert ebenso wenig wie eine solche zur zusätzlichen Übermittlung der Antragsschrift nach § 349 Abs. 3 Satz 1 StPO an den verteidigten Beschwerdeführer persönlich (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2001 - 5 StR 278/01, juris Rn. 1 mwN).

Angesichts dieser Sachlage besteht für den Angeklagten bei vernünftiger Würdigung kein Grund zu der Annahme, der Senatsvorsitzende habe ihm gegenüber eine innere Haltung eingenommen, die seine Unparteilichkeit oder Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1468

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede