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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 53

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 146/19, Urteil v. 12.09.2019, HRRS 2020 Nr. 53


BGH 4 StR 146/19 - Urteil vom 12. September 2019 (LG Aachen)

Revisionsbegründung (Ermittlung des Angriffsziels durch Auslegung); Kognitionspflicht (revisionsgerichtliche Anforderungen); Gefährdung des Straßenverkehrs (Fahrunsicherheit; Begriff des geistigen oder körperlichen Mangels); Tatmehrheit (Zäsurwirkung einer unerledigten Verurteilung).

§ 344 StPO; § 264 StPO; § 315c Abs. 1 Nr. 1b) StGB; § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Fahrunsicherheit im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 1b) StGB liegt vor, wenn die Gesamtleistungsfähigkeit des Fahrzeugführers infolge des geistigen oder körperlichen Mangels soweit herabgesetzt ist, dass er nicht mehr fähig ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke, und zwar auch bei plötzlichem Eintritt schwieriger Verkehrslagen, sicher zu steuern.

2. Der Begriff des geistigen oder körperlichen Mangels im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 1b) StGB ist umfassend zu verstehen; er erfasst sämtliche psychopathologischen und körperlichen Defektzustände, die die Gefahr einer Aufhebung der Fahrsicherheit mit sich bringen. Unerheblich ist dabei, ob der Mangel dauerhafter oder nur vorübergehender Natur ist. Auch Anfallsleiden, die zwar außerhalb akuter Phasen keine beeinträchtigenden Wirkungen entfalten, aber die erhebliche Gefahr jederzeit auftretender Anfälle und damit einer plötzlich eintretenden Fahrunsicherheit begründen, unterfallen der Vorschrift. Von § 315c Abs. 1 Nr. 1b) StGB werden insbesondere auch seelische Anomalien wie Psychosen, Persönlichkeitsstörungen und abnorme Erlebnisreaktionen (Neurosen) erfasst.

3. Widersprechen sich Revisionsantrag und Inhalt der Revisionsbegründung, ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Angriffsziel des Rechtsmittels durch Auslegung zu ermitteln.

4. Die Kognitionspflicht gebietet, dass der - durch die zugelassene Anklage abgegrenzte - Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Fehlt es daran, so stellt dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar.

5. Die Zäsurwirkung einer unerledigten Verurteilung entfällt nicht deshalb, weil das Tatgericht von der Möglichkeit Gebrauch macht, eine der zäsurbildenden Verurteilung zugrundeliegende Geldstrafe gemäß § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB gesondert neben Freiheitsstrafe bestehen zu lassen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 3. September 2018 mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) soweit der Angeklagte im Fall 4 der Anklageschrift (Abschnitt VI. 2 der Urteilsgründe) freigesprochen worden ist;

b) im Strafausspruch zu Fall II. 2 der Urteilsgründe;

c) im Ausspruch über die Gesamtstrafe; d) im Maßregelausspruch.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Amtsgericht - Strafrichter - Aachen zurückverwiesen.

2. Die Revision des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betrugs (Fall II. 1 der Urteilsgründe) und unerlaubten Entfernens vom Unfallort (Fall II. 2 der Urteilsgründe) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Von weiteren Tatvorwürfen, unter anderem von dem Vorwurf einer vorsätzlichen Gefährdung des Straßenverkehrs (Fall 4 der Anklageschrift; Abschnitt VI. 2 der Urteilsgründe), hat es ihn freigesprochen. Darüber hinaus hat es ihm die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und eine lebenslange Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis angeordnet. Gegen dieses Urteil wenden sich die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte mit ihren jeweils auf die Verletzung formellen und sachlichen Rechts gestützten Revisionen. Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hat in dem beschränkten Umfang des Rechtsmittels Erfolg; die Revision des Angeklagten bleibt hingegen erfolglos.

A.

Revision der Staatsanwaltschaft I.

Das Landgericht hat zu den Fällen 4 der Anklageschrift und II. 2 der Urteilsgründe folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Am frühen Morgen des 8. Juli 2017 zwischen 3 und 4 Uhr befuhr der Angeklagte in Begleitung eines seiner Brüder und einer unbekannt gebliebenen weiteren Person mit einem Pkw öffentliche Straßen in A. Er wurde von den Polizeibeamten H. und S. einer Kontrolle unterzogen. Der Angeklagte händigte den Beamten seinen Führerschein und seinen Personalausweis aus und stieg mit seinem Bruder aus dem Fahrzeug aus. Als der Bruder des Angeklagten über Herzschmerzen klagte und weitere zur Unterstützung angeforderte Polizeibeamte eintrafen, erlitt der Angeklagte, der bereits seit 2013 unter einer im Zusammenhang mit Polizeieinsätzen auftretenden Panikstörung leidet, die mit Herzrasen, Händezittern und dem dringenden Bedürfnis, sich der jeweiligen Situation durch Flucht zu entziehen, einhergeht, eine Panikattacke. Infolgedessen lief er zurück zum Fahrzeug, startete dieses und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Seinen Bruder ließ er zurück. Während der anschließenden Flucht beschleunigte er das Fahrzeug auf über 100 km/h. Mit ähnlich hoher Geschwindigkeit befuhr er sodann die He. straße, auf der eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h galt. Es gelang ihm, die ihn mit einem Polizeifahrzeug verfolgenden Beamten H. und S. „abzuhängen“. An einer leichten Rechtskurve der He. straße, an der sich ein übersichtlicher und gut einsehbarer Kreuzungsbereich befand, verlor der Angeklagte aufgrund der überhöhten Geschwindigkeit die Kontrolle über das von ihm geführte Fahrzeug; dieses brach aus und schleuderte um 3.46 Uhr in die Garagenzufahrt eines dort befindlichen Hauses, an dem ein Sachschaden von über 5.000 Euro entstand (Fall 4 der Anklage).

Der Angeklagte flüchtete sodann gemeinsam mit dem nicht identifizierten weiteren Fahrzeuginsassen vom Unfallort, um sich der Feststellung seiner Person als Fahrzeugführer und Unfallverursacher zu entziehen. Als die ihn verfolgenden Polizeibeamten um 3.48 Uhr den Unfallort erreichten, hatte er sich bereits zu Fuß von dort entfernt (Fall II. 2 der Urteilsgründe).

2. Das Landgericht hat den Angeklagten im Fall 4 der Anklage freigesprochen. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 315c Abs. 1 Nr. 2 d) StGB seien nicht gegeben. Die Beweisaufnahme habe ergeben, dass die Kurve, in deren Verlauf es zu dem Unfall gekommen sei, keine unübersichtliche Stelle im Sinne dieser Vorschrift gewesen sei. Auch dass es sich bei der Unfallstelle um eine Straßenkreuzung gehandelt habe, führe nicht zum Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen; denn zum Unfall habe nicht die besondere Verkehrssituation der Kreuzung geführt, sondern allein die überhöhte Geschwindigkeit des vom Angeklagten geführten Fahrzeugs.

Im Fall II. 2 der Urteilsgründe hat das Landgericht den Angeklagten wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort gemäß § 142 Abs. 1 StGB verurteilt. Es hat hierbei angenommen, dass die Schuldfähigkeit des Angeklagten im Tatzeitpunkt infolge der Panikattacke im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert gewesen sei.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat in dem beschränkten Umfang des Rechtsmittels Erfolg.

1. Das Rechtsmittel ist wirksam auf den Freispruch im Fall 4 der Anklage, den Strafausspruch im Fall II. 2 der Urteilsgründe, den Ausspruch über die Gesamtstrafe sowie die Maßregelanordnung nach §§ 69, 69a StGB beschränkt.

a) Zwar hat die Staatsanwaltschaft ausweislich ihrer Revisionsbegründungsschrift beantragt, das landgerichtliche Urteil insgesamt aufzuheben. Mit diesem Antrag stimmt aber der übrige Inhalt der Revisionsrechtfertigung nicht überein, derzufolge die Beschwerdeführerin das Urteil allein deshalb für rechtsfehlerhaft hält, weil die Strafkammer den Angeklagten im Fall 4 der Anklage freigesprochen hat und im Fall II. 2 der Urteilsgründe von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten ausgegangen ist. Da sich Revisionsantrag und Inhalt der Revisionsbegründung insoweit widersprechen, ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Angriffsziel des Rechtsmittels durch Auslegung zu ermitteln (vgl. BGH, Urteile vom 30. November 2017 - 3 StR 385/17, NStZ-RR 2018, 86, 87; vom 18. Dezember 2014 - 4 StR 468/14, NStZ-RR 2015, 88). Nach dem insoweit maßgeblichen Sinn der Revisionsrechtfertigung ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin den Freispruch vom Vorwurf der vorsätzlichen Straßenverkehrsgefährdung im Fall 4 der Anklage angreifen will, zudem - durch ihre Beanstandung der Annahme einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten im Fall II. 2 der Urteilsgründe - den Strafausspruch zu diesem Fall und damit zugleich den Ausspruch über die Gesamtstrafe. Ãœberdies ist von der Anfechtung auch die Maßregelanordnung nach §§ 69, 69a StGB umfasst; sie steht mit der Frage des Vorliegens erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit in einem untrennbaren Zusammenhang, weil Grundlage für beides die vom Landgericht angenommene Panikstörung des Angeklagten ist.

b) In dem vorbezeichneten Umfang ist die Beschränkung des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft auch rechtswirksam. Insbesondere liegen mit Blick auf Fall II. 2 der Urteilsgründe keine Umstände vor, aus denen sich ausnahmsweise eine Verknüpfung der Schuld- und Straffrage oder ein untrennbarer Zusammenhang mit der vorgeworfenen Fluchtfahrt im Fall 4 der Anklage ergibt.

2. Mit Erfolg wendet sich die Revision gegen den Freispruch des Angeklagten im Fall 4 der Anklage.

a) Allerdings genügt die insoweit erhobene Verfahrensrüge, mit der die Staatsanwaltschaft eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO beanstandet, weil das Gericht eine Videoaufzeichnung u. a. von der Fluchtfahrt sowie eine in den Akten befindliche Karte der Tatörtlichkeit nicht in Augenschein genommen habe, nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO und ist damit unzulässig.

Insoweit kann dahinstehen, ob seitens der Revision überhaupt eine konkrete Beweistatsache und nicht lediglich ein Beweisziel benannt wird. Denn jedenfalls legt die Revision nicht dar, aufgrund welcher Umstände sich die Strafkammer zu der vermissten weiteren Beweiserhebung gedrängt sehen musste (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2016 - 3 StR 193/16, NStZ-RR 2017, 119; Urteile vom 13. Januar 2011 - 3 StR 337/10, NStZ 2011, 471; vom 15. September 1998 - 5 StR 145/98, NStZ 1999, 45; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 244 Rn. 102), obwohl sie über die örtlichen Verhältnisse und die konkreten Sichtverhältnisse am Unfallort bereits Beweis erhoben hatte, unter anderem durch die Vernehmung der beiden Polizeibeamten H. und S., die dem Angeklagten in der Tatnacht gefolgt waren und den Unfallort kurz nach ihm erreicht hatten, sowie die Inaugenscheinnahme von Lichtbildern vom Unfallort und die Verlesung eines Aktenvermerks über die Auswertung der Videoaufzeichnung. Warum die durchgeführte Beweisaufnahme nicht ausreichend gewesen sein sollte und welcher Mehrwert einer Inaugenscheinnahme des Videos oder der in den Akten befindlichen Karte von der Tatörtlichkeit insbesondere gegenüber den Angaben der vor Ort anwesenden Polizeibeamten zugekommen wäre (vgl. BGH, Urteile vom 6. Oktober 1987 - 1 StR 455/87, BGHR StPO § 244 Abs. 5 Augenschein 2; vom 31. März 1981 - 1 StR 40/81, NStZ 1981, 310; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 244 Rn. 78), ergibt sich aus dem Revisionsvorbringen nicht.

b) Jedoch hält der Freispruch des Angeklagten im Fall 4 der Anklage sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

aa) Keinen sachlich-rechtlichen Bedenken begegnet es allerdings, dass das Landgericht eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs in der Variante des zu schnellen Fahrens an unübersichtlichen Stellen oder an Straßenkreuzungen gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 d), Abs. 3 Nr. 1 StGB verneint hat.

(1) Die aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme getroffene Feststellung des Landgerichts, dass es sich bei der Kurve, in deren Verlauf es zu dem Unfall kam, nicht um eine unübersichtliche Stelle im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 2 d) StGB handelte, lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin ergibt sich aus dem angefochtenen Urteil hinreichend deutlich, dass die Strafkammer bei der Beurteilung, ob es sich bei der Kurve um eine unübersichtliche Stelle im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 2 d) StGB handelte, auf die im Tatzeitpunkt herrschenden Umstände, insbesondere die konkreten Lichtverhältnisse, abgestellt hat (vgl. BGH, Urteile vom 15. Januar 1953 - 3 StR 707/52, DAR 1953, 58, 59; vom 11. Januar 1951 - III ZR 158/50, VRS Bd. 3, 247, 249; SSW-StGB/Ernemann, 4. Aufl., § 315c Rn. 18; LK-StGB/König, 12. Aufl., § 315c Rn. 108); denn die Strafkammer stellt ausdrücklich klar, dass die Kurve „breit und gut einsehbar war“, und bezieht sich hierfür insbesondere auf die zeugenschaftlichen Bekundungen der kurz nach dem Unfallgeschehen am Unfallort anwesenden Polizeibeamten H. und S. (UA S. 59).

(2) Soweit das Landgericht eine Strafbarkeit des Angeklagten gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 d) StGB auch unter dem Blickwinkel, dass sich der Unfallort im Bereich einer Kreuzung befand, verneint hat, da zum Unfall nicht die spezifische Gefährlichkeit der Kreuzung, sondern allein die überhöhte Geschwindigkeit des Angeklagten geführt habe und es daher am erforderlichen inneren Zusammenhang zwischen der Kreuzung und dem Unfallgeschehen fehle, ist hiergegen von Rechts wegen ebenfalls nichts zu erinnern (vgl. zum erforderlichen Gefahrverwirklichungszusammenhang BGH, Beschlüsse vom 5. Juni 2019 - 4 StR 130/19, juris, Rn. 12; vom 21. November 2006 - 4 StR 459/06, NStZ 2007, 222, 223; LK-StGB/König, 12. Aufl., § 315c Rn. 113).

bb) Einer Strafbarkeit des Angeklagten gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 e) StGB (Nichteinhalten der rechten Fahrbahnseite an unübersichtlichen Stellen) - wie ebenfalls angeklagt - steht bereits entgegen, dass auch diese Tatbestandsvariante des § 315c StGB das Vorliegen einer unübersichtlichen Stelle voraussetzt, was das Landgericht rechtsfehlerfrei verneint hat.

cc) Rechtsfehlerhaft hat die Strafkammer jedoch den festgestellten Sachverhalt nicht unter allen rechtlichen Gesichtspunkten geprüft und damit gegen die ihr obliegende umfassende Kognitionspflicht (§ 264 StPO) verstoßen. Diese gebietet, dass der - durch die zugelassene Anklage abgegrenzte - Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 29. Oktober 2009 - 4 StR 239/09, NStZ 2010, 222, 223). Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen (vgl. BGH, Urteil vom 24. Oktober 2013 - 3 StR 258/13, NStZ-RR 2014, 57). Fehlt es daran, so stellt dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar (vgl. BGH, Urteil vom 26. Januar 2017 - 3 StR 479/16, NStZ 2017, 410 f.).

So liegt es hier. Das Landgericht hat nicht geprüft, ob sich der Angeklagte im Fall 4 der Anklage wegen einer Gefährdung des Straßenverkehrs in der Tatbestandsvariante nach § 315c Abs. 1 Nr. 1b) StGB strafbar gemacht hat, obwohl sich eine solche Erörterung hier aufdrängte.

(1) Nach § 315c Abs. 1 Nr. 1b) StGB macht sich strafbar, wer im Straßenverkehr ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge geistiger oder körperlicher Mängel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet.

Fahrunsicherheit im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn die Gesamtleistungsfähigkeit des Fahrzeugführers infolge des geistigen oder körperlichen Mangels soweit herabgesetzt ist, dass er nicht mehr fähig ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke, und zwar auch bei plötzlichem Eintritt schwieriger Verkehrslagen, sicher zu steuern (vgl. BGH, Urteile vom 15. April 2008 - 4 StR 639/07, NZV 2008, 528, 529; vom 20. März 1959 - 4 StR 306/58, BGHSt 13, 83, 90; Beschluss vom 3. November 1998 - 4 StR 395/98, BGHSt 44, 219, 221).

Der Begriff des geistigen oder körperlichen Mangels im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 1b) StGB ist umfassend zu verstehen; er erfasst sämtliche psychopathologischen und körperlichen Defektzustände, die die Gefahr einer Aufhebung der Fahrsicherheit mit sich bringen (vgl. LK-StGB/König, 12. Aufl., § 315c Rn. 48, 52; MüKo-StGB/Pegel, 3. Aufl., § 315c Rn. 33). Unerheblich ist dabei, ob der Mangel dauerhafter oder nur vorübergehender Natur ist (vgl. Schönke/Schröder/Hecker, StGB, 30. Aufl., § 315c Rn. 9; SSW-StGB/Ernemann, 4. Aufl., § 315c Rn. 8). Auch Anfallsleiden, die zwar außerhalb akuter Phasen keine beeinträchtigenden Wirkungen entfalten, aber die erhebliche Gefahr jederzeit auftretender Anfälle und damit einer plötzlich eintretenden Fahrunsicherheit begründen, unterfallen der Vorschrift (vgl. BGH, Urteil vom 17. November 1994 - 4 StR 441/94, BGHSt 40, 341, 344 [epileptisches Anfallsleiden]; SSW-StGB/ Ernemann, 4. Aufl., § 315c Rn. 8; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl., § 315c StGB Rn. 5). Von § 315c Abs. 1 Nr. 1b) StGB werden insbesondere auch seelische Anomalien wie Psychosen, Persönlichkeitsstörungen und abnorme Erlebnisreaktionen (Neurosen) erfasst (vgl. LK-StGB/König, 12. Aufl., § 315c Rn. 55, 61a; MüKo-StGB/Pegel, 3. Aufl., § 315c Rn. 36).

(2) Gemessen hieran und mit Blick auf die Ausführungen der Strafkammer zur Schuldfähigkeit des Angeklagten sowie zur Maßregel nach §§ 69, 69a StGB drängte sich im Fall 4 der Anklage die Prüfung einer Strafbarkeit wegen einer Gefährdung des Straßenverkehrs in der Tatbestandsvariante nach § 315c Abs. 1 Nr. 1b) StGB auf.

(a) So hat die sachverständig beratene Strafkammer im Rahmen der Schuldfähigkeitsprüfung zu Fall II. 2 der Urteilsgründe, der das unerlaubte Sichentfernen vom Unfallort unmittelbar nach dem Tatgeschehen zu Fall 4 der Anklage betrifft, ausgeführt, sie sei positiv davon überzeugt, dass der Angeklagte an einer krankhaften seelischen Störung in Gestalt einer Panikstörung leide und bei ihm an der polizeilichen Kontrollstelle vor dem Wiedereinsteigen in sein Fahrzeug - wie bereits mehrfach in der Vergangenheit - eine von diversen körperlichen Symptomen bis zu einer Katastrophenangst begleitete und von ihm erkannte Panikattacke eingesetzt habe, die mit einem sehr starken Fluchtanreiz einhergegangen sei. Aufgrund der Panikstörung sei seine Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert gewesen.

(b) Auch im Rahmen der Maßregelanordnung nach §§ 69, 69a StGB hat die Strafkammer zur Begründung, warum der Angeklagte zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet sei, darauf abgestellt, dass er an einer Panikstörung leide. Wegen dieser Störung habe er sich der polizeilichen Kontrolle durch Flucht entziehen wollen und sei deshalb mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren, was letztlich zu dem Verkehrsunfall geführt habe. Die Panikstörung dauere auch fort und werde immer wieder dazu führen, dass er als Autofahrer beim Zusammentreffen mit Polizeibeamten Panik und körperliche Symptome verspüre und bei ihm eine Fluchtreaktion hervorgerufen werde, durch die er sich selbst und andere Verkehrsteilnehmer erheblich gefährde.

(c) Angesichts dieser Ausführungen zum Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung des Angeklagten in Form einer Panikstörung zum Zeitpunkt seiner Fluchtfahrt und zu den Auswirkungen der Panikstörung war die Strafkammer gehalten, im Fall 4 der Anklage das Vorliegen der Voraussetzungen einer Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1b) StGB zu erörtern. Denn es lag hier nahe, dass infolge der festgestellten Panikattacke des Angeklagten bei seiner Flucht vor der Polizei zumindest seine Risikoeinschätzung im Hinblick auf sein Fahrverhalten erheblich beeinträchtigt und damit seine Gesamtleistungsfähigkeit soweit herabgesetzt war, dass er nicht mehr fähig war, sein Fahrzeug im Straßenverkehr sicher zu führen.

3. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat ebenfalls Erfolg, soweit sie sich gegen den Strafausspruch im Fall II. 2 der Urteilsgründe wendet.

a) Da die rechtsfehlerhaft unterbliebene Prüfung einer Fahrunsicherheit des Angeklagten aufgrund körperlicher oder geistiger Mängel im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 1b) StGB untrennbar mit den Grundlagen für die Prüfung einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten verbunden ist, zieht der dargestellte Rechtsfehler die Aufhebung des angefochtenen Strafausspruchs im Fall II. 2 der Urteilsgründe nach sich.

b) Der Aufhebung des Schuldspruchs wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort bedurfte es hingegen nicht. Der Senat kann - auch mit Blick auf die im Urteil wiedergegebene Einschätzung des von der Strafkammer gehörten psychiatrischen Sachverständigen, dass ein Fall einer vollständigen Aufhebung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten im Sinne des § 20 StGB sicher nicht gegeben sei (UA S. 42) - ausschließen, dass die neue Hauptverhandlung zur Annahme einer Schuldunfähigkeit des Angeklagten bei seiner Fluchtfahrt führen wird.

4. Die Aufhebung des Strafausspruchs für Fall II. 2 der Urteilsgründe entzieht dem Ausspruch über die Gesamtstrafe die Grundlage.

Es kommt deshalb nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, dass auch die Bildung der Gesamtstrafe einen Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten aufweist. Das Landgericht hat verkannt, dass die Zäsurwirkung einer unerledigten Verurteilung - hier: der Strafbefehl des Amtsgerichts Aachen vom 22. April 2016 - nicht deshalb entfällt, weil das Tatgericht von der Möglichkeit Gebrauch macht, eine der zäsurbildenden Verurteilung zugrundeliegende Geldstrafe gemäß § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB gesondert neben Freiheitsstrafe bestehen zu lassen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 12. August 1998 - 3 StR 537/97, BGHSt 44, 179, 184; Beschluss vom 23. November 2000 - 3 StR 353/00, NStZ-RR 2001, 103; vom 7. Dezember 1983 - 1 StR 148/83, BGHSt 32, 190, 194). Die vom Landgericht vorgenommene Bildung einer Gesamtstrafe aus den Einzelstrafen für die Taten zu II. 1 und II. 2 der Urteilsgründe war daher - unabhängig von einem gesonderten Bestehenlassen der Gesamtgeldstrafe aus dem Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Mönchengladbach vom 19. Juni 2017 gemäß § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB - rechtsfehlerhaft.

5. Schließlich kann auch der Maßregelausspruch nach §§ 69, 69a StGB nicht bestehen bleiben, da die unterbliebene Prüfung der Fahrunsicherheit des Angeklagten aufgrund körperlicher oder geistiger Mängel auch mit den Voraussetzungen für die Anordnung der Maßregel in einem untrennbaren Zusammenhang steht.

B.

Revision des Angeklagten Die Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg. Die unausgeführte Rüge der Verletzung formellen Rechts ist nicht in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Weise erhoben und daher unzulässig.

Auch die aufgrund der erhobenen Sachrüge veranlasste umfassende Rechtsprüfung des Urteils hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Soweit das Landgericht bei der Erörterung der Voraussetzungen für die Entziehung der Fahrerlaubnis auch auf die Verhängung von Fahrverboten gegen den Angeklagten in den Jahren 2007 und 2009 abgestellt hat, ohne deren Hintergrund mitzuteilen und nachvollziehbar darzulegen, dass sie nicht der Tilgungsreife unterlagen, kann der Senat ausschließen, dass die Entscheidung über die Maßregelanordnung darauf beruht.

Die Anordnung einer lebenslangen Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis hält rechtlicher Überprüfung ebenfalls stand. Das Landgericht hat die lebenslange Sperre damit begründet, dass die Panikstörung des Angeklagten, die zu seiner Ungeeignetheit zum Führen eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr führe, seit ihrem erstmaligen Auftreten im Jahr 2013 trotz mehrjähriger - auch medikamentöser - Behandlung unverändert fortbestehe, es seither immer wieder zum Auftreten von Panikattacken gekommen sei, die Störung nach wie vor zu erheblichen Fluchtreaktionen beim Zusammentreffen mit der Polizei führe und eine Besserung nicht ersichtlich sei, so dass sich die fünfjährige Höchstfrist für eine zeitlich befristete Sperre gemäß § 69a Abs. 1 Satz 1 StGB als nicht ausreichend erweise. Auf Grundlage der getroffenen Feststellungen lassen diese Ausführungen des Landgerichts keinen Rechtsfehler erkennen.

C.

Der Senat hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung über Fall 4 der Anklage an das Amtsgericht - Strafrichter - Aachen zurückverwiesen (§ 354 Abs. 3 StPO), da dessen Strafgewalt für die Rechtsfolgenerwartung der in diesem Verfahren verbleibenden Tatvorwürfe ausreichend ist.

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass das neue Tatgericht, sofern sich im Fall 4 der Anklage der Nachweis einer Strafbarkeit des Angeklagten wegen Gefährdung des Straßenverkehrs nicht führen lässt, in den Blick zu nehmen haben wird, ob dem Angeklagten insoweit Verkehrsordnungswidrigkeiten zur Last fallen (vgl. § 24 Abs. 1 StVG i.V.m. § 49 Abs. 1 Nr. 1 und 3, Abs. 3 Nr. 1, § 1 Abs. 2, § 3 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 36 Abs. 1, Abs. 5 Satz 4 StVO).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 53

Externe Fundstellen: NStZ 2020, 297; StV 2020, 607

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner