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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, StB 4/97, Beschluss v. 30.04.1997, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH StB 4/97 (2 StE 4/95) - Beschluss vom 30. April 1997

BGHSt 43, 91; Besetzung des Strafsenats beim Oberlandesgericht für Haftentscheidungen während der Hauptverhandlung; Anspruch auf den gesetzlichen Richter (gesteigerte Anforderungen; Willkür; Verletzung bei fehlender Regelung; Unzulässigkeit vermeidbarer Spielräume).

§ 122 GVG; § 126 Abs. 2 StPO, Art 101 Abs. 1 S. 2 GG

Leitsätze

1. Soll in dem Zeitraum zwischen Beginn und Ende einer erstinstanzlich vor dem Strafsenat eines Oberlandesgerichts durchgeführten Hauptverhandlung eine Entscheidung über einen Haftbefehl gegen den Angeklagten getroffen werden, so gebietet der Grundsatz des gesetzlichen Richters, dass der Senat in der für die Hauptverhandlung vorgesehenen Besetzung (hier: in der Besetzung mit fünf Richtern einschließlich des Vorsitzenden) entscheidet, auch wenn die Entscheidung außerhalb der Hauptverhandlung getroffen wird. (BGHSt)

2. Die Vorstellungen von den Anforderungen an den gesetzlichen Richter haben sich im Laufe der Zeit allmählich verfeinert und im Zuge dieser Entwicklung hat die Forderung nach einer möglichst präzisen Vorherbestimmung auch der im Einzelfall an der gerichtlichen Entscheidung mitwirkenden Richter zunehmend stärkeres Gewicht gewonnen hat (BVerfG NJW 1997, 1497 f). Aus im voraus generell-abstrakten und hinreichend klaren Regelungen in Rechtssätzen müssen sich der zuständige Spruchkörper und die mitwirkenden Richter herleiten lassen, wobei keine vermeidbaren Spielräume gelassen werden dürfen. Dabei wird das Gebot des gesetzlichen Richters nicht erst durch eine willkürliche Wahl der Besetzung im Einzelfall verletzt, unzulässig ist vielmehr bereits das Fehlen solcher ausreichender Regelungssätze. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

1. Auf die Beschwerde des Generalbundesanwalts wird der Beschluß des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 19. März 1997 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an den 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main zurückverwiesen.

2. Bis zur neuerlichen Entscheidung des Oberlandesgerichts bleibt die Angeklagte auf freiem Fuß.

Gründe

Gegen die Angeklagte wird derzeit vor dem 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main in der Besetzung von fünf Richtern einschließlich des Vorsitzenden (§ 122 Abs. 2 Satz 2 GVG) die erstinstanzliche Hauptverhandlung durchgeführt. Im Fortsetzungstermin vom 27. Februar 1997 beantragte die Angeklagte, den gegen sie bestehenden Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise ihn unter Auflagen außer Vollzug zu setzen. Der Strafsenat hat den Antrag zu Protokoll genommen und den Haftbefehl am 19. März 1997 außerhalb der Hauptverhandlung in der Besetzung mit drei Richtern unter Einschluß des Vorsitzenden aufgehoben. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Generalbundesanwalts, mit der eine Aufrechterhaltung des Haftbefehls erstrebt wird, allenfalls eine Außervollzugsetzung unter Auflagen für vertretbar erachtet wird.

Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung der Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht, weil dieses in der falschen Besetzung entschieden hat. Das Oberlandesgericht war bei der angefochtenen Entscheidung lediglich mit dem Vorsitzenden und zwei Beisitzern und nicht wie in der Hauptverhandlung mit vier Beisitzern besetzt. Der Grundsatz des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebietet, daß der Senat in der für die Hauptverhandlung vorgesehenen Besetzung mit insgesamt fünf Richtern entscheidet, auch wenn die Entscheidung außerhalb der Hauptverhandlung getroffen wird.

Die Handhabung des 5. Strafsenats des Oberlandesgerichts entspricht allerdings der bisherigen am Wortlaut des § 122 GVG orientierten Praxis der Oberlandesgerichte, die - soweit ersichtlich - in Haftfragen außerhalb einer Hauptverhandlung mit drei Richtern entscheiden, auch wenn solche Beschlüsse nach Beginn einer mit fünf Richtern durchgeführten Hauptverhandlung während einer Unterbrechung gefaßt werden. Nach § 122 GVG entscheiden Senate des Oberlandesgerichts gemäß Abs. 1 grundsätzlich mit drei Richtern und nur in den in Abs. 2 genannten Ausnahmefällen der Eröffnung des Hauptverfahrens, der Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses und in der Hauptverhandlung, sofern dies bei der Eröffnung wegen des Umfangs oder der Schwierigkeit der Sache bestimmt worden ist, mit fünf Richtern. Diese Besetzung hat bei der Eröffnung nach § 207 Abs. 4 StPO zugleich über die Haftfortdauer zu entscheiden. Im übrigen ist in der Rechtsprechung und Literatur bislang eine entsprechende Anwendung der Ausnahmevorschrift des § 122 Abs. 2 GVG allenfalls in den Fällen der Begründetheit der Wiederaufnahme, einer Verfahrenseinstellung nach § 206 b StPO und bei der Einziehung im Nachverfahren angenommen worden, da den entsprechenden Entscheidungen ein ähnliches Gewicht wie den in Absatz 2 ausdrücklich genannten Fällen zukomme (vgl. OLG Celle Nds Rpfl 1954, 175; Weber JZ 1967, 351; Schäfer/Harms in LR 24. Aufl. § 122 GVG Rdn. 2; gegen eine analoge Anwendung Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 42. Aufl. § 122 GVG Rdn. 4, 5; Salger in KK 3. Aufl. § 122 GVG Rdn. 3; Kissel GVG 2. Aufl. § 122 Rdn. 4). Dies trifft auf Haftentscheidungen nicht zu.

Der bisherigen Praxis der Oberlandesgerichte entspricht die Handhabung der gerichtlichen Besetzung für Haftfragen bei Amts- und Landgerichten. Danach entscheidet das Gericht in der für die Hauptverhandlung zuständigen Besetzung, also unter Einschluß der Schöffen, wenn die Entscheidung in der Hauptverhandlung getroffen wird, und außerhalb der Hauptverhandlung entsprechend der ausdrücklichen Regelung nach § 30 Abs. 2, § 76 Abs. 1 Satz 2 GVG ohne die Schöffen (vgl. Wendisch in LR 24. Aufl. § 126 StPO Rdn. 15; Kissel GVG 2. Aufl. § 30 Rdn. 7).

Mit der unterschiedlichen Bestimmung der Besetzung der oberlandesgerichtlichen Strafsenate, je nachdem ob sie in oder außerhalb der Hauptverhandlung Haftfragen entscheiden, ist dem Erfordernis des gesetzlichen Richters nicht ausreichend Genüge getan; denn es fehlt an Regelungen, in welchen Fällen der Senat innerhalb oder außerhalb der Hauptverhandlung zu entscheiden hat. Die Notwendigkeit, über Haftfragen zu entscheiden, kann sich jederzeit ergeben, sei es auf Antrag eines Verfahrensbeteiligten oder auf Grund einer Prüfung der Haftvoraussetzungen von Amts wegen (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 42. Aufl. § 120 Rdn. 1), sei es während der laufenden Hauptverhandlung oder während einer Unterbrechung, wobei es nach den Umständen des Einzelfalls erforderlich werden kann, die Entscheidung unverzüglich zu treffen oder erst noch weitere Ermittlungen und Prüfungen vorzunehmen. Soweit das Oberlandesgericht Düsseldorf (StV 1984, 159) für die Besetzung darauf abstellt, ob die Anträge in oder außerhalb der Hauptverhandlung gestellt werden, erscheint dies daher in vielen Fällen wenig sachgerecht. Entscheidend ist jedoch, daß mit einer solchen Lösung es den Verfahrensbeteiligten in die Hand gegeben werden würde, zu bestimmen, ob über die Haftfrage in der Dreier- oder Fünfer-Besetzung befunden wird, damit die Gefahr der Manipulation bestünde. Im übrigen würde dieser Weg ohnehin versagen, wenn zu einer Haftfrage mehrere Anträge, teils in, teils außerhalb der Hauptverhandlung gestellt werden.

Damit würden nach der bisherigen Praxis der Oberlandesgerichte im Zeitraum von Beginn bis Ende einer mit fünf Richtern durchgeführten Hauptverhandlung zwei unterschiedliche besetzte Spruchkörper mit möglicherweise unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen nebeneinander für die Entscheidung der gleichen Haftfragen, etwa des sich aus der bisherigen Beweisaufnahme ergebenden dringenden Tatverdachts, zuständig sein, ohne daß rechtliche Regelungen vorhanden wären, die eine hinreichende Vorausbestimmung des gesetzlichen Richters ermöglichen. Bei zweifelhafter Sach- oder Rechtslage bestünde außerdem die Gefahr divergierender Entscheidungen. Es ließe sich z.B. nicht ausschließen, daß der Haftbefehl in der Dreier-Besetzung außer Vollzug gesetzt oder - wie hier - aufgehoben wird, aber aufgrund anderer Mehrheitsverhältnisse in der Hauptverhandlung wieder in Vollzug gesetzt oder neu erlassen werden müßte.

Diese Handhabung ist mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht vereinbar. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluß des Plenums vom 8. April 1997 (NJW 1997, 1497 f.) darauf hingewiesen, daß sich die Vorstellungen von den Anforderungen an den gesetzlichen Richter im Laufe der Zeit allmählich verfeinert haben und im Zuge dieser Entwicklung die Forderung nach einer möglichst präzisen Vorherbestimmung auch der im Einzelfall an der gerichtlichen Entscheidung mitwirkenden Richter zunehmend stärkeres Gewicht gewonnen hat. Aus im voraus generell-abstrakten und hinreichend klaren Regelungen in Rechtssätzen müssen sich der zuständige Spruchkörper und die mitwirkenden Richter herleiten lassen, wobei keine vermeidbaren Spielräume gelassen werden dürfen. Dabei wird das Gebot des gesetzlichen Richters nicht erst durch eine willkürliche Wahl der Besetzung im Einzelfall verletzt, unzulässig ist vielmehr bereits das Fehlen solcher ausreichender Regelungssätze. Daran ändert nichts, daß in der Praxis der Oberlandesgerichte bisher in aller Regel sachliche Erwägungen für die Wahl des Entscheidungszeitpunktes maßgeblich waren, denn es gilt bereits Vorkehrungen gegen die bloße Möglichkeit und den Verdacht einer Manipulation zu treffen (BVerfG a.a.O. S. 1498).

Eine verfassungskonforme Auslegung der Zuständigkeitsvorschrift des § 122 GVG für die Strafsenate der Oberlandesgerichte erfordert daher, daß während des gesamten Zeitraums von Beginn bis Ende der Hauptverhandlung nur ein Spruchkörper in einer einheitlichen Besetzung zur Entscheidung der Haftfragen berufen sein kann. Wird die Hauptverhandlung mit fünf Richtern durchgeführt, so kann diese einheitliche Besetzung auch nur aus diesem Richtergremium bestehen, da dieses für Haftentscheidungen in der Hauptverhandlung ohnehin schon zuständig ist. Darüberhinaus ist es sachgerecht, den Spruchkörper, der die bisherige Beweisaufnahme durchgeführt hat und zu bewerten haben wird, auch über die Haftvoraussetzungen, insbesondere die Frage des Fortbestehens eines dringenden Tatverdachts, entscheiden zu lassen.

Sofern einzelne dieser Richter durch Urlaub oder Krankheit gleichwohl an der Mitwirkung gehindert sind, wird dem durch die Vertretungsregelungen in den Geschäftsverteilungsplänen Rechnung getragen.

Der Senat weist darauf hin, daß er lediglich die Frage der Besetzung für Haftentscheidungen während der Hauptverhandlung vor Oberlandesgerichten, nicht aber vor Schöffengerichten und Strafkammern zu beurteilen hat.

Die Sache ist zurückzuverweisen, da die angefochtene Entscheidung nicht von dem gesetzlich vorgesehenen Spruchkörper getroffen worden ist und der Mangel im Beschwerdeverfahren nicht in dem Sinne auszugleichen ist, daß das Beschwerdegericht rechtlich voll an die Stelle des an sich zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers treten kann (BGHSt 38, 312).

Entsprechend § 120 Abs. 2, § 307 Abs. 1 StPO ordnet der Senat an, daß die Angeklagte bis zu einer neuerlichen Entscheidung auf freiem Fuß bleibt.

Externe Fundstellen: BGHSt 43, 91; NJW 1997, 2531; NStZ 1997, 606; NStZ 1998, 262; NStZ 1998, 419; StV 1997, 538

Bearbeiter: Rocco Beck