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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 431

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 314/15, Beschluss v. 27.01.2016, HRRS 2016 Nr. 431


BGH 2 StR 314/15 - Beschluss vom 27. Januar 2016 (LG Wiesbaden)

Schuldunfähigkeit (Anforderungen an die Darstellung im Urteil: Sachverständigengutachten, konkrete Auswirkung einer psychischen Störung auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit).

§ 20 StGB; § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Wenn sich der Tatrichter darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss er dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr).

2. Dies gilt auch in Fällen paranoider Schizophrenie; denn die Diagnose einer solchen Erkrankung führt für sich genommen noch nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit (vgl. BGH NStZ-RR 2012, 239). Erforderlich ist vielmehr die Feststellung eines akuten Schubs der Erkrankung sowie die konkretisierende Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der jeweiligen Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (vgl. BGH NStZ-RR 2012, 306, 307).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 26. März 2015 mit den Feststellungen aufgehoben; die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen bleiben jedoch aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen Diebstahls in vier Fällen unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus einer vorangegangenen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten und wegen Diebstahls in drei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Es hat zudem angeordnet, den Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang weitgehend Erfolg.

1. Nach Überzeugung der Strafkammer entwendete der Angeklagte im Zeitraum von Juli 2012 bis März 2013 in fünf Fällen Tabakdosen, Parfum und Spirituosen aus Supermärkten und Kaufhäusern, um durch deren Verkauf seine Drogen- und Alkoholsucht zu finanzieren; im April 2013 stahl der Angeklagte einen unverschlossenen Pkw, mit dem er umherfuhr, ohne im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis zu sein. Im Dezember 2013 entwendete der Angeklagte in einem Hotelrestaurant aus der Handtasche einer Servicekraft deren Portemonnaie. Das Landgericht hat - stereotyp - in allen diesen Fällen „aufgrund der Psychose des Angeklagten“ einen „Zustand der erheblich verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht auszuschließen“ vermocht.

Hinsichtlich weiterer angeklagter Taten - Nötigung und versuchte Nötigung im Februar 2013, drei Fälle des (versuchten) Diebstahls aus unverschlossenen Kraftfahrzeugen sowie Körperverletzung und Beleidigung im Dezember 2013, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Beleidigung im April 2014 - hat das sachverständig beratene Landgericht den Angeklagten freigesprochen, weil entweder die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund seiner schizophrenen Erkrankung bzw. Psychose aufgehoben bzw. „die vollständige Aufhebung der Steuerungsfähigkeit“ nicht ausgeschlossen werden könne.

Das Landgericht hat sich hinsichtlich der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten dem psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen. Danach bestünde beim Angeklagten eine paranoide, aktuell unvollständig remittierte Schizophrenie und ein Abhängigkeitssyndrom von multiplen psychotropen Substanzen.

2. Das Urteil hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Gegen die Schuldfähigkeitsprüfung der Strafkammer bestehen durchgreifende Bedenken, so dass auch die Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 63 StGB nicht rechtsfehlerfrei belegt sind.

a) Wenn sich der Tatrichter - wie hier - darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss er dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juni 2014 - 4 StR 171/14, NStZ-RR 2014, 305, 306 mwN). Dies gilt auch in Fällen paranoider Schizophrenie; denn die Diagnose einer solchen Erkrankung führt für sich genommen noch nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit (vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 24. April 2012 - 5 StR 150/12, NStZ-RR 2012, 239; vom 17. Juni 2014 - 4 StR 171/14, NStZ-RR 2014, 305, 306 mwN). Erforderlich ist vielmehr die Feststellung eines akuten Schubs der Erkrankung sowie die konkretisierende Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der jeweiligen Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (Senat, Beschluss vom 29. Mai 2012 - 2 StR 139/12, NStZ-RR 2012, 306, 307).

b) Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

Dabei kann dahinstehen, ob die im Allgemeinen verbleibende Darlegung der Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen schon nicht hinreichend deutlich macht, ob die Einschränkung der Schuldfähigkeit auf dem für die Anordnung der Maßregel erforderlichen, länger andauernden Defekt beruht (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 17. November 1987 - 5 StR 575/87, BGHR StGB § 63 Zustand 6 mwN). Jedenfalls fehlt eine nähere Darlegung des Einflusses des diagnostizierten Störungsbildes auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in den jeweils konkreten Tatsituationen, insbesondere in den Fällen, in denen der Angeklagte im Dezember 2013 Gegenstände aus Kraftfahrzeugen entwendet hat, um diese „zur Befriedigung seiner Alkohol- und Drogensucht gewinnbringend zu verkaufen“. Dies gilt umso mehr, als dass das Landgericht andererseits hinsichtlich des wenige Tage zuvor verübten Diebstahls aus einem Hotelrestaurant „lediglich“ nicht ausschließen konnte, dass der Angeklagte im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit gehandelt habe.

Auch der als Anknüpfungstatsache herangezogene Umstand einer Unterbringung des Angeklagten im Dezember 2013 ist hinsichtlich der im Februar 2013 begangenen Tat, bei der die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgehoben gewesen sein soll, von nicht näher erläuterter Aussagekraft, zumal das Landgericht andererseits bei den Taten im März und April 2013 wiederum nicht ausschließen konnte, dass der Angeklagte „lediglich“ im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit gehandelt habe.

c) Die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten - auch als Grundlage für die Anordnung nach § 63 StGB - bedarf daher insgesamt neuer Prüfung durch den Tatrichter. Das gilt auch hinsichtlich der Fälle, in denen das Landgericht „aufgrund der Psychose des Angeklagten“ einen „Zustand der erheblich verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht auszuschließen“ vermocht hat; wegen des untrennbaren Zusammenhangs der Schuldfähigkeitsbeurteilung kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei einer erneuten - einheitlichen - Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten auch insoweit die Einsichts-oder Steuerungsfähigkeit vollständig aufgehoben war (zum Zweifelsgrundsatz bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung vgl. auch BGH, Beschluss vom 19. November 2014 - 4 StR 497/14, NStZ-RR 2015, 71 [Leitsatz]).

3. Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat darauf hin, dass sich der neue Tatrichter zum Vollstreckungsstand des Urteils des Amtsgerichts Wiesbaden vom 10. März 2013 und des Strafbefehls des Amtsgerichts Offenbach am Main vom 14. März 2013 zu verhalten haben wird. Sollten die dort jeweils verhängten Geldstrafen im Zeitpunkt der Verkündung des angefochtenen Urteils erledigt gewesen sein und deshalb im Falle erneuter Verurteilung eine Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 Abs. 1 StGB ausscheiden, wäre ein Härteausgleich zu erwägen (vgl. auch BGH, Urteil vom 25. April 1990 - 3 StR 59/89, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 3; Beschluss vom 17. September 2014 - 2 StR 325/14).

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 431

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2016, 167

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede