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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 239

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 316/23, Beschluss v. 14.12.2023, HRRS 2024 Nr. 239


BGH 1 StR 316/23 - Beschluss vom 14. Dezember 2023 (LG Stuttgart)

Aussetzung einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe zu Bewährung (Feststellung der besonderen Schwere der Schuld: Bestimmung der Mehrverbüßungszeit).

§ 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB; § 57b StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Die gesetzliche Regelung in § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB sieht für die Festsetzung der Mindestverbüßungszeit über 15 Jahre hinaus keinen Automatismus vor. Für den Endzeitpunkt der Verbüßungsdauer einer lebenslangen Freiheitsstrafe als unbedingter Strafe ergibt sich weder aus der Regelung des § 57a StGB noch aus der des § 57b StGB eine absolute Grenze für die aus Gründen der Schuld zu verbüßende Zeit. Vielmehr obliegt den Strafvollstreckungskammern die Prüfung aller in § 57a StGB genannten materiellen Voraussetzungen einer bedingten Entlassung. Die Festsetzung der Mehrverbüßungszeit nach § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB orientiert sich nicht an einer Durchschnittszeit. Sie ist vielmehr auf der Grundlage einer vollstreckungsrechtlichen Gesamtwürdigung des Unrechts- und des Schuldgehalts mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndeter Taten nach §§ 57a, 57b StGB zu bestimmen.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 9. März 2023 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

1. Die auf § 261 StPO gestützte Verfahrensrüge ist bereits nicht in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden Weise erhoben und daher unzulässig. Die Revision enthält keinen Vortrag dazu, ob und wie die Vernehmungsniederschriften der Zeugen D. vom 18. Juli 1995 und Da. vom 16. Juli 1995 betreffend die Passagen zur Identifizierung des Täterfahrzeugs sowie der Ermittlungsbericht des Zeugen KHK L. aus dem Jahr 2008 in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind (vgl. BGH, Urteil vom 10. Oktober 2018 - 5 StR 179/18 Rn. 9; vgl. auch Sander in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 261 Rn. 266). Dieser Vortrag wäre aber zur Prüfung einer Verletzung des § 261 StPO durch Nichtausschöpfung zu berücksichtigender Beweismittel aus dem Ermittlungsverfahren zuungunsten des Angeklagten erforderlich gewesen. Im Ãœbrigen wäre die Verfahrensbeanstandung auch - worauf der Generalbundesanwalt zutreffend hingewiesen hat - unbegründet.

2. Die Beanstandung, das Landgericht habe rechtsfehlerhaft versäumt, mit Blick auf die erledigte und daher nicht nach § 55 StGB einbeziehungsfähige nachträgliche Gesamtfreiheitsstrafe aus der Vorverurteilung des Angeklagten wegen Totschlags von zwölf Jahren und sechs Monaten einen Härteausgleich vorzunehmen, der bei lebenslanger Freiheitsstrafe im Wege der Vollstreckungslösung zu gewähren sei, geht fehl.

a) Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht berücksichtigt, dass es - unabhängig von dem hier die Anwendung des § 55 StGB ausschließenden Zeitablauf - auf der Hand gelegen hätte, gegen den Angeklagten die besondere Schwere der Schuld gemäß § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB festzustellen, und dass dem Angeklagten bereits deswegen kein Nachteil entstanden ist, der durch einen Härteausgleich zu kompensieren wäre (vgl. zu einer solchen Konstellation BGH, Beschlüsse vom 20. Januar 2010 - 2 StR 403/09, BGHSt 55, 1 Rn. 8 f.; vom 28. Mai 2009 - 5 StR 184/09 und vom 23. Juli 2008 - 5 StR 293/08, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 15). Zu dem bereits im vorliegenden Verfahren durch die Verwirklichung zweier Mordmerkmale (Heimtücke und niedrige Beweggründe) außerordentlich schwerwiegenden Tatvorwurf wäre - bei zeitnäherer Aburteilung - im Rahmen der nach § 57b StGB vorzunehmenden zusammenfassenden Würdigung auch der Unrechtsgehalt der Vorverurteilung zu berücksichtigen gewesen. Bei dieser Tat hatte der Angeklagte ebenfalls ein weiteres weibliches Zufallsopfer mittels eines Kehlenschnitts getötet.

b) Soweit die Revision geltend macht, dem Angeklagten sei durch die zu erwartende Gesamtvollstreckungsdauer von 27 Jahren und sechs Monaten im Vergleich zu der durchschnittlichen Vollstreckungsdauer bei Feststellung der besonderen Schwere der Schuld (§ 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB) von 23 Jahren ein nicht durch die unterbliebene Feststellung der besonderen Schuldschwere kompensierter Nachteil entstanden, verkennt sie, dass die gesetzliche Regelung in § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB für die Festsetzung der Mindestverbüßungszeit über 15 Jahre hinaus keinen Automatismus vorsieht. Für den Endzeitpunkt der Verbüßungsdauer einer lebenslangen Freiheitsstrafe als unbedingter Strafe ergibt sich weder aus der Regelung des § 57a StGB noch aus der des § 57b StGB eine absolute Grenze für die aus Gründen der Schuld zu verbüßende Zeit (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. Dezember 1994 - 2 BvR 1697/93 Rn. 41). Vielmehr obliegt den Strafvollstreckungskammern in dem von § 454 StPO festgelegten Verfahren die Prüfung aller in § 57a StGB genannten materiellen Voraussetzungen einer bedingten Entlassung. Die Festsetzung der Mehrverbüßungszeit nach § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB orientiert sich nicht an einer Durchschnittszeit (vgl. Groß/Kett-Straub in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 57a Rn. 21). Sie ist vielmehr auf der Grundlage einer vollstreckungsrechtlichen Gesamtwürdigung des Unrechts- und des Schuldgehalts mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndeter Taten nach §§ 57a, 57b StGB zu bestimmen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. Mai 1995 - 2 BvR 671/95 Rn. 14). Für diese Gesamtwürdigung dürfte vorliegend u.a. maßgebend sein, dass der psychiatrische Sachverständige W. den Angeklagten nach den Urteilsfeststellungen als „hochgradig gefährlich“ eingestuft und das Vorliegen eines Hanges im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB bejaht hat (UA S. 160).

c) Aus alledem folgt, dass dem Angeklagten wegen der Nichtberücksichtigung der verbüßten Gesamtfreiheitsstrafe kein ausgleichspflichtiger Nachteil entstanden ist. Es kommt nicht darauf an, dass ein solcher unter den hier vorliegenden Umständen auch nicht näherungsweise arithmetisch erfassbar wäre. Im Ãœbrigen wird die entgangene Einbeziehung nach § 55 StGB im Vollstreckungsverfahren gemäß § 57a Abs. 1 Satz 2, § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB bedeutsam werden (BGH, Beschluss vom 23. Juli 2008 - 5 StR 293/08, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 15 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 239

Bearbeiter: Christoph Henckel