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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 197

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 217/19, Beschluss v. 18.09.2019, HRRS 2020 Nr. 197


BGH 1 StR 217/19 - Beschluss vom 18. September 2019 (LG Landshut)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Aussage-gegen-Aussage-Konstellation: erforderliche umfassende Gesamtbetrachtung).

§ 261 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Landshut vom 14. Dezember 2018 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hatte den Angeklagten zunächst durch Urteil vom 29. September 2015 vom Vorwurf dreier Fälle des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen, in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, freigesprochen. Dieses Urteil hat der Senat auf die Revision der Nebenklägerin wegen durchgreifender Rechtsfehler in der Beweiswürdigung aufgehoben (Urteil vom 16. Juni 2016 - 1 StR 50/16). Das Landgericht hat den Angeklagten nun wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Zur Entschädigung für eine überlange Verfahrensdauer hat es angeordnet, dass hiervon zwei Monate als vollstreckt gelten. Der Angeklagte beanstandet die Verurteilung mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es im Zeitraum vom 21. September 2007 bis 20. Mai 2008 zu drei sexuellen Übergriffen des Angeklagten auf die damals 14-jährige Nebenklägerin, bei der es sich - was das Landgericht nicht abschließend klären konnte - entweder um die leibliche Tochter des Angeklagten oder die Tochter seiner Schwester handelte. Die in Kamerun geborene Nebenklägerin wurde im Alter von fast vier Jahren nach Deutschland mitgenommen und lebte in der Familie des Angeklagten und seiner Ehefrau. Sie wurde von der Ehefrau des Angeklagten adoptiert. Nach den Urteilsfeststellungen legte sich der Angeklagte im Fall 1 der Urteilsgründe zu der Nebenklägerin ins Bett und rieb seinen Penis an ihrem Körper, indem er beischlafähnliche Bewegungen mit seinem Unterleib machte. Im Fall 2 der Urteilsgründe umarmte er die Nebenklägerin und streichelte und knetete ihre Brüste oberhalb des T-Shirts, das sie trug. Im Fall 3 der Urteilsgründe forderte der Angeklagte die in ihrem Bett liegende Nebenklägerin auf, „ihre Beine auseinander zu machen“. Als sie dieser Aufforderung nicht nachkam, drückte er mit beiden Händen ihre Oberschenkel auseinander und griff ihr mit einer Hand in der Unterhose an ihre Vulva. Sodann führte er einen Finger in ihre Scheide ein, wobei sie Schmerzen erlitt. Dort beließ er seinen Finger einige Sekunden lang. Sodann zog er den Finger wieder heraus, legte sich bäuchlings auf die auf dem Rücken liegende Nebenklägerin und führte mit erregtem Glied beischlafähnliche Bewegungen aus.

2. Der Angeklagte hat die Tatvorwürfe bestritten. Das Landgericht hält den Angeklagten im Wesentlichen aufgrund der Angaben der Nebenklägerin für überführt (UA S. 17). Im Rahmen seiner Überzeugungsbildung hat sich das Landgericht auf eine von ihm vorgenommene Glaubhaftigkeitsanalyse der Angaben der Nebenklägerin gestützt und dabei auch berücksichtigt, dass ihre - allerdings nicht uneingeschränkt konstanten (UA S. 55 ff.) - Angaben mit denjenigen der Ehefrau des Angeklagten im Einklang stehen.

II.

Die Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand; sie leidet an einem durchgreifenden Erörterungsmangel.

1. Steht hinsichtlich der Tatvorwürfe „Aussage gegen Aussage“, müssen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98 Rn. 14, BGHSt 44, 153, 159). Diesen Anforderungen hält die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht stand, weil es den möglichen Zusammenhang zwischen den von den Schwestern der Nebenklägerin gegen den Angeklagten in den Jahren 2014 bzw. 2015 und den bereits im Jahr 2012 erhobenen verfahrensgegenständlichen Tatvorwürfen der Nebenklägerin nicht erkannt hat.

2. Das Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten war im November 2012 durch eine Strafanzeige der Nebenklägerin in Gang gekommen. Sie gab an, sich erst zur Anzeige entschlossen zu haben, als sie mitbekommen habe, dass sich die Ehefrau des Angeklagten von diesem trennen würde. Sie habe nicht daran schuld sein wollen, dass die Ehe der Eltern wegen ihrer Missbrauchsvorwürfe gegen den Angeklagten auseinandergehe (UA S. 69). Das Landgericht hat es für die Überzeugungsbildung hinsichtlich der verfahrensgegenständlichen Tatvorwürfe als bedeutungslos angesehen, ob die gegen den Angeklagten erhobenen Vorwürfe, er habe auch seine beiden Kinder L., geboren im Februar 1997, und M., geboren im April 2006, sexuell im Kindesalter missbraucht, zutreffen (UA S. 77). Beide Geschwister der Nebenklägerin hatten nach den Feststellungen des Landgerichts in den Jahren 2014 und 2015 den Angeklagten ebenfalls beschuldigt, sie sexuell missbraucht zu haben. M. hatte mithilfe zweier Puppen sexuelle Übergriffe des Angeklagten dargestellt und erklärt, dass der Angeklagte sie beim Zubettgehen und nach der Dusche an der Brust und im Schambereich berührt habe (UA S. 78). L. hatte gegenüber der Polizei angegeben, sie sei vom Angeklagten 13 Jahre zuvor vergewaltigt worden (UA S. 79). Die wegen dieser Vorwürfe eingeleiteten Ermittlungsverfahren wurden mangels Tatnachweises gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt; im vorliegenden Verfahren haben die beiden Schwestern der Nebenklägerin von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.

3. Das Landgericht hat ausgeschlossen, dass die Tatvorwürfe der Schwestern der Nebenklägerin Anlass geben könnten, an der Richtigkeit der Angaben der Nebenklägerin zu den verfahrensgegenständlichen Taten zu zweifeln (UA S. 77). Denn zum Zeitpunkt der Anzeigeerstattung durch die Nebenklägerin und auch noch bei ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmung am 3. März 2014 sei innerhalb der Familie Z. noch kein Verdacht geäußert worden, dass der Angeklagte (auch) M. und L. missbraucht haben könnte (UA S. 81). Die Verengung der Betrachtung auf die Frage eines zeitlichen Zusammenhangs lässt jedoch besorgen, das Landgericht könnte übersehen haben, dass im Falle einer Falschbelastung des Angeklagten durch die Schwestern der Nebenklägerin gleichwohl Rückschlüsse auf eine mögliche Falschbelastung seitens der Nebenklägerin in Betracht kommen. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn dieselben Gründe, die zu einer Falschbelastung seitens der Schwestern in den Jahren 2014 und 2015 geführt haben können, auch bei der Nebenklägerin im Jahr 2012 vorgelegen haben können. Das Landgericht hätte deshalb erörtern müssen, ob im Falle einer Falschbelastung des Angeklagten durch die beiden Schwestern der Nebenklägerin die falschen Vorwürfe darauf beruhten, dass die Ehefrau des Angeklagten sie hierzu veranlasst hatte. Denn eine solche Veranlassung zu einer Falschaussage könnte ein Indiz dafür sein, dass die Ehefrau des Angeklagten auch bereits im Jahr 2012 die Nebenklägerin zu einer Falschaussage verleitet haben könnte. Mit dieser Möglichkeit hätte sich das Landgericht schon deshalb auseinandersetzen müssen, weil es nach den Feststellungen des Landgerichts der Ehefrau des Angeklagten als gläubiger Christin ein Anliegen war, sich auch nach Kirchenrecht von dem Angeklagten zu lösen, und sie deshalb im Jahr 2018 in der Klagebegründung gegenüber dem Interdiözesanen Offizialat E. den Vorwurf der arglistigen Täuschung durch den Angeklagten auf seine ihr verheimlichte pädophile Veranlagung stützte (UA S. 74). Weder der zeitliche Abstand zwischen der Strafanzeige der Nebenklägerin und der Klage der Ehefrau des Angeklagten auf Feststellung der Ehenichtigkeit (UA S. 74) noch der Umstand, dass sich die Ehefrau des Angeklagten von ihm erst im Sommer 2014 endgültig trennte (UA S. 75), machten die Erörterung dieser Möglichkeit entbehrlich.

Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem Erörterungsmangel beruht.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 197

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede