Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 277/02, Beschluss v. 28.08.2002, HRRS-Datenbank, Rn. X
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 13. März 2002 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Dem Angeklagten liegt zur Last, im März 2001 seinen Halbbruder S. mit mehreren Pistolenschüssen getötet zu haben. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen heimtückischen und aus niedrigen Beweggründen begangenen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
1. Nach den Feststellungen fühlte sich der Angeklagte durch das Tatopfer vielfach gekränkt. Dieser hatte entgegen der anatolischen Sitten und Gebräuche mit der Familie des Angeklagten gebrochen. Er widersetzte sich dem ausdrücklichen Wunsch des Angeklagten, indem er sich nicht für seine Ehefrau F. und deren Kind H., sondern für die Beziehung mit der Zeugin J. K. entschied. Als besonders erniedrigend empfand der Angeklagte, daß das Tatopfer das Gerücht verbreitet hatte, daß er - der Angeklagte - ein Verhältnis mit F. habe und diese von ihm ein Kind erwarte. Der Angeklagte suchte das Tatopfer an seiner Arbeitsstelle auf, um ihn zu töten und damit seine Ehre und seinen Führungsanspruch wieder herzustellen. Dort zog der Angeklagte seine Pistole, ohne daß S. mit einem Angriff rechnete, und sagte auf türkisch: "Jetzt reicht`s. Ich mache Ende". Er richtete die Pistole auf den sich wegdrehenden S. und feuerte auf das in Drehbewegung befindliche Tatopfer in sehr schneller Folge zwei bis vier Schüsse ab. Nach einer Pause traf er S. noch zweimal am Kopf. Die Waffe warf er auf seiner Flucht weg.
Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung nicht eingelassen. In seiner polizeilichen Vernehmung hatte er angegeben, er habe S. nur zur Rede stellen wollen. Er besitze im Gegensatz zu S. keine Waffe. Während S. noch in der linken Hand eine Zigarette gehalten und daran gezogen habe, habe dieser mit der rechten Hand die Waffe aus seiner Hosentasche genommen und gesagt: "Jetzt reicht`s. Ich mache Ende".
S. habe dann aus einem Meter Entfernung auf seinen - des Angeklagten - Oberkörper gezielt. Er habe sofort nach dessen Hand gegriffen. Bei der Rangelei habe sich ein Schuß gelöst, der S. getroffen habe. Dieser sei in die Knie gegangen und habe versucht, ihn mit der rechten Hand an den Beinen zu packen und mit der linken Hand die Waffe zu ergreifen. In dem Handgemenge seien weitere Schüsse gefallen.
Die Strafkammer hat die Behauptung des Angeklagten, S. habe eine Waffe aus der Hosentasche genommen und es sei zu einem Gerangel gekommen, als Schutzbehauptung angesehen. Zwar habe der Waffensachverständige M. ausgeführt, es sei in den Hosentaschen des Tatopfers Schmauch vorhanden gewesen, was für ein Mitführen der Waffe sprechen könne. Es sei aber kein Massivschmauch gefunden worden und der Schmauch auf dem Hosentaschengrund könne auch beim ersten Zugriff vom Hosentaschenrand übertragen worden sein. Für die Rangelei um die Waffe könne auch sprechen, daß an der Kleidung S. s Faserspuren des Angeklagten hafteten und umgekehrt (Wahrunterstellung). Gegen die Rangelei um die Waffe spreche die von den Zeugen beschriebene sehr schnelle und bis auf die Pause rhythmisch gleiche Schußabgabe. Der Angeklagte habe das Gerangel um die Waffe auch nur bis zur Abgabe des ersten Schusses konkret beschrieben; danach sei keine Differenzierung mehr erfolgt. Die Ausführungen des Sachverständigen M. zu den Schüssen sprächen auch gegen eine Notwehrlage. Schließlich habe das Tatopfer auch kein Motiv gehabt, auf den Angeklagten zu schießen.
2. Der Verfahrensrüge liegt folgendes zugrunde:
In der Beweisaufnahme hat der Verteidiger des Angeklagten den Beweisantrag gestellt, einen Sachverständigen zu den sich auf der Oberbekleidung des Tatopfers (Hemd, Weste und Arbeitshose) gefundenen Hautschuppen und Körperhaaren des Angeklagten zu hören. Auch auf der Oberkleidung des Angeklagten hätten sich sowohl Hautschuppen, Körperhaare, Faserspuren sowie Asche und Tabakspuren befunden. Die gegenseitigen Kontaminationen seien nur auf eine direkte Berührung bzw. körperlichen Kontakt des Angeklagten mit dem Tatopfer und umgekehrt zurückzuführen, die erst unmittelbar vor dem Todeszeitpunkt stattgefunden haben könne. Die gegenseitigen Kontaminationen ließen sich aus sachverständiger Sicht ohne weiteres mit der Einlassung des Angeklagten bei der Polizei in Einklang bringen, es "sei zu einer Rangelei um die Waffe gekommen, aus der sodann die Schüsse erfolgten".
Die Schwurgerichtskammer hat die Beweisbehauptung als wahr unterstellt und den Beweisantrag abgelehnt. In den Urteilsgründen ist ausgeführt, die Kammer sei aufgrund der Wahrunterstellung von einem Körperkontakt ausgegangen. Sie ziehe aus den Faserspuren allerdings nicht den Schluß, es habe ein Gerangel stattgefunden. Entweder sei es bei dem gemeinsamen Weg in den Tauch- und Spritzraum zu einem (zufälligen) Körperkontakt gekommen oder es habe bei der Begrüßung eine Umarmung stattgefunden, so daß Faserspuren der jeweiligen Kleidung und Asche gegenseitig übertragen worden seien (UA S. 22, 49), die zur Spurenübertragung geführt habe. Eine eventuelle Umarmung habe sie im übrigen nicht zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt. Weder habe sie dies bei der Beweiswürdigung getan noch bei der rechtlichen Bewertung der Heimtücke; sie habe dem Angeklagten nicht angelastet, er habe S. durch die Umarmung in Sicherheit wiegen wollen.
Mit Recht beanstandet die Revision, die Schwurgerichtskammer habe die Wahrunterstellung nicht eingehalten. Zumindest die Annahme der Heimtücke beruhe auf diesem Verfahrensfehler. Das trifft zu. Die Strafkammer hat die Beweisbehauptung nicht in ihrer vollen, aus Sinn und Zweck sich ergebenden Bedeutung als wahr behandelt, sondern eingeengt und nicht im Sinn des Antragstellers ausgelegt (vgl. dazu Herdegen in KK 4. Aufl. § 244 Rdn. 94 m.w.Nachw.). Mit dem Beweisantrag hat die Verteidigung im Kern die Behauptung aufgestellt, der Sachverständige werde zu dem Ergebnis kommen, die festgestellten Anhaftungen auf dem Hemd, der Weste und der Arbeitshose des Angeklagten und des Tatopfers seien so umfangreich, daß sie sich (allein) mit einer Rangelei - also einem intensiven und länger andauernden Körperkontakt - um die Waffe in Einklang bringen ließen.
Den Weg der insoweit eventuell möglichen Ablehnung des Beweisantrages wegen Bedeutungslosigkeit hat das Landgericht nicht gewählt; dem Revisionsgericht ist die Ersetzung des Ablehnungsgrundes nicht gestattet. Nachdem das Landgericht die Beweisbehauptung als wahr unterstellt hat, muß das Urteil an diesem Ablehnungsgrund gemessen werden. Danach wurde die Wahrunterstellung nicht eingehalten: Anstatt davon auszugehen, daß sich nach der Behauptung im Beweisantrag die gegenseitigen Kontaminationen (gemeint ist: allein) mit einer Rangelei um die Waffe in Einklang bringen ließen, hat das Landgericht im Urteil diesen Inhalt des Beweisantrages durch die Feststellung verändert, die Spuren könnten auch von einer zufälligen Berührung oder einer Umarmung bei der Begrüßung herrühren. Damit zieht die Strafkammer nicht etwa nur, was zulässig wäre, aus der als wahr unterstellten Tatsache - der Vielzahl festgestellter Faserspuren und Hautpartikel - einen anderen als den vom Angeklagten gewünschten Schluß. Sie ersetzt vielmehr diesen Schluß durch eine dem Sinn des Beweisantrags zuwiderlaufende Vermutung (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 9, 27). Das wird der Wahrunterstellung nicht gerecht.
Der Senat kann nicht ausschließen, daß sich der Verfahrensmangel auch auf die Würdigung der übrigen Indizien und Beweisanzeichen ausgewirkt hat. Die Sache muß deshalb insgesamt neu verhandelt werden.
Externe Fundstellen: NStZ 2003, 101
Bearbeiter: Karsten Gaede