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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 554

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 252/22, Urteil v. 16.03.2023, HRRS 2023 Nr. 554


BGH 4 StR 252/22 - Urteil vom 16. März 2023 (LG Kaiserslautern)

Beweiswürdigung (beschränkte Revisibilität; Notwehr); Notwehr (gegenwärtiger Angriff: maßgeblicher Zeitpunkt, unmittelbares in eine Verletzung Umschlagen Können, andauernder Angriff; Notwehrlage: Maßgeblichkeit der objektiven Sachlage, subjektive Befürchtungen, Zweifelssatz; Verteidigungswille: andere Beweggründe, Zurücktreten des Verteidigungswillens).

§ 261 StPO; § 32 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ein gegenwärtiger Angriff liegt nicht erst vor, wenn der Angreifer tatsächlich eine Verletzungshandlung begangen hat. Ein Angriff ist vielmehr bereits dann gegenwärtig, wenn das Verhalten des Angreifers unmittelbar in eine Rechtsgutsverletzung umschlagen kann, so dass durch das Hinausschieben einer Verteidigungshandlung entweder deren Erfolg in Frage gestellt wäre oder der Verteidiger das Wagnis erheblicher eigener Verletzungen auf sich nehmen müsste. Maßgeblich ist insoweit bereits der Zeitpunkt der durch den bevorstehenden Angriff geschaffenen bedrohlichen Lage; als Angriff in diesem Sinne ist daher auch ein Verhalten zu werten, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlichen nicht hinnehmbaren Risiken aussetzen würde. Hat der Angreifer bereits eine Verletzungshandlung begangen, dauert der Angriff an, solange mit einer Wiederholung zu rechnen und ein erneuter Umschlag in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist.

2. Für die Prüfung der Notwehrlage in diesem Sinne ist die objektive Sachlage maßgeblich. Es kommt auf die tatsächlichen Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer Rechtsgutsverletzung an, die zugleich das Maß der erforderlichen und gebotenen Abwehrhandlung bestimmen. Allein die subjektive Befürchtung, ein Angriff stehe unmittelbar bevor, begründet noch keine Notwehrlage.

3. Nach gefestigter Rechtsprechung ist ein Verteidigungswille auch dann noch als relevantes Handlungsmotiv anzuerkennen, wenn andere Beweggründe wie etwa Vergeltung, Verärgerung oder Wut hinzutreten; erst wenn diese anderen Beweggründe so dominant sind, dass hinter ihnen der Wille, das Recht zu wahren, ganz in den Hintergrund tritt und deshalb von einem Abwehrverhalten keine Rede mehr sein kann, scheidet die Annahme eines Verteidigungswillens aus (vgl. BGH NJW 2013, 2133, 2135 mwN).

Entscheidungstenor

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger gegen das Urteil des Landgerichts Kaiserslautern vom 7. Februar 2022 werden verworfen.

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die im vorbezeichneten Urteil ausgesprochene Anordnung, dass der Angeklagte für den erlittenen Freiheitsentzug aus der Staatskasse zu entschädigen ist, wird verworfen.

Die Kosten der Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen. Die Nebenkläger tragen die Kosten ihrer Rechtsmittel.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer vom Generalbundesanwalt vertretenen und auf die Sachrüge gestützten Revision. Die Nebenkläger erstreben mit ihren auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen die Aufhebung des freisprechenden Urteils mit dem Ziel einer Verurteilung des Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung.

Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.

I.

Die zugelassene Anklage hatte dem Angeklagten zur Last gelegt, am 3. Juli 2021 gegen 22.45 Uhr seinen Stiefvater mit zwei Messerstichen vorsätzlich getötet zu haben.

II.

1. Das Landgericht hat im Wesentlichen Folgendes festgestellt:

a) Der zur Tatzeit 15 Jahre alte Angeklagte und der mit der Mutter des Angeklagten verheiratete Geschädigte gerieten ab Anfang des Jahres 2018 häufig wegen schlechter Schulnoten, nicht erledigter Hausarbeiten und übermäßigen Medienkonsums des Angeklagten in Streit. In diesen Auseinandersetzungen agierte der Geschädigte regelmäßig aufbrausend, aggressiv und laut. Zwischen dem Jahresende 2019 und Anfang des Jahres 2021 kam es in einigen Fällen zu Handgreiflichkeiten des Geschädigten gegenüber dem Angeklagten. In mindestens zwei Fällen stieß der körperlich deutlich überlegene Geschädigte den Angeklagten zu Boden und hielt ihn dort fest. Die körperlichen Übergriffe wurden jeweils durch ein Eingreifen der Mutter bzw. der Schwester des Angeklagten beendet. In einem weiteren Fall stieß der Geschädigte den Angeklagten auf ein Sofa und würgte ihn kurzzeitig, bis die Mutter, die zuvor von ihrem Sohn beleidigt und getreten worden war, die Auseinandersetzung beendete. In den folgenden Monaten kam es zwar nicht mehr zu körperlichen Übergriffen des Geschädigten auf den Angeklagten; das familiäre Klima war jedoch durch anhaltenden Streit belastet und erfuhr auch nach Einrichtung einer Erziehungsbeistandschaft keine Verbesserung. Nach einem körperlichen Übergriff des Angeklagten auf seine Mutter am 18. Juni 2021 trat der Geschädigte, der eine Fremdunterbringung des Angeklagten anstrebte, hinzu und wollte den Angeklagten festhalten, woraufhin dieser in Richtung des Bauches des Geschädigten trat und ihn ohrfeigte. Der Geschädigte drohte daraufhin, die Polizei zu verständigen, wozu es tatsächlich nicht kam. In der Folgezeit vermied der Angeklagte Begegnungen mit dem Geschädigten.

b) Am Abend des 3. Juli 2021 verließ der Angeklagte die Wohnung. Als der Geschädigte entdeckte, dass der Angeklagte absprachewidrig in seinem Zimmer gegessen hatte, geriet er in Wut und wurde laut. Im Verlaufe des sich daraufhin entwickelten Streits packte der aufgebrachte Geschädigte seine Frau an der Schulter, schüttelte sie und erklärte ihr, er wolle den Angeklagten nicht mehr im Haus haben. Er entfernte den vor der Haustür deponierten Ersatzschlüssel und stellte die Klingel ab. Die Mutter des Angeklagten ging zu Bett und schlief ein.

Als der Angeklagte gegen 22.30 Uhr nach Hause kam, stellte er fest, dass der Ersatzschlüssel nicht an der üblichen Stelle abgelegt, die Klingel abgestellt war und er seine Mutter über Handy nicht erreichte, um ihn einzulassen. Verärgert machte der Angeklagte durch lautes Klopfen an die Haustür auf sich aufmerksam. Der nach wie vor aufgebrachte und leicht alkoholisierte Geschädigte öffnete dem Angeklagten schließlich gegen 22.45 Uhr die Haustür und es kam unmittelbar zum Streit. Der Geschädigte beleidigte den Angeklagten als „Pisser“ und „Bengel“, worauf der Angeklagte mit dem Ausruf „Halts Maul“ reagierte. Daraufhin erwiderte der Geschädigte „Ich geb’ dir gleich halts Maul“ und verfolgte den Angeklagten, der die Treppe zum ersten Obergeschoss hinauflief. Er nahm wahr, dass der Geschädigte ihm folgte, und befürchtete, dass es nun zu einer körperlichen Auseinandersetzung kommen werde. Daher begab er sich in die Küche, um sich für die erwartete körperliche Auseinandersetzung mit dem ihm körperlich deutlich überlegenen Geschädigten zu bewaffnen. Er öffnete eine Schublade, ergriff ein Küchenmesser mit einer mehr als 19 Zentimeter langen Klinge und forderte den mittlerweile hinter ihm stehenden Geschädigten auf, wegzugehen. Dieser Aufforderung kam der Geschädigte nicht nach. Der Angeklagte wandte sich mit dem Messer in der Hand zum Geschädigten um, der ihm in diesem Moment mit der flachen Hand eine schmerzhafte Ohrfeige gegen die linke Wange versetzte. Unmittelbar darauf stach der Angeklagte dem Geschädigten mit bedingtem Tötungsvorsatz und in Verteidigungsabsicht das Messer in den linken Oberbauch. Der Geschädigte trat einen Schritt zurück und bewegte sich anschließend mit nach vorne gebeugten Schultern einen Schritt auf den Angeklagten zu, so dass er in „unmittelbarer Schlagdistanz“ vor dem Angeklagten stand. Dabei hatte er weder die Arme erhoben noch die Hände zu einer Faust geballt. Nicht ausschließbar wäre es in der Folge zu weiteren Schlägen des Geschädigten gegen den Angeklagten gekommen. Der Angeklagte versetzte diesem aus Furcht und weiterhin in der Absicht, sich zu verteidigen und einen weiteren Schlag zu verhindern, mit bedingtem Tötungsvorsatz einen zweiten, wuchtigen Stich in den oberen rechten Brustkorb. Die Stichverletzung führte unter anderem zu einer vollständigen Durchsetzung der vierten Rippe sowie einer Verletzung des Herzens, an deren Folgen der Geschädigte verstarb.

2. Das Landgericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Messerstiche durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt waren. Der mit Verteidigungswillen handelnde Angeklagte habe sich nicht ausschließbar bei Ausführung beider mit bedingtem Tötungsvorsatz geführten Stiche in einer Notwehrlage befunden. Beide Messerstiche seien zur Abwehr des Angriffs des Geschädigten erforderlich und geboten gewesen.

III.

Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft und die Revisionen der Nebenkläger haben keinen Erfolg. Das angefochtene Urteil hält sachlich-rechtlicher Überprüfung stand.

Spricht das Tatgericht den Angeklagten frei, weil es Zweifel an dessen Täterschaft oder Schuld nicht zu überwinden vermag, ist dies durch das Revisionsgericht hinzunehmen. Denn die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt insoweit nur, ob ihm dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Rechtlich zu beanstanden sind die Beweiserwägungen weiterhin dann, wenn sie erkennen lassen, dass das Gericht überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Ãœberzeugungsbildung gestellt hat oder von einem unzutreffenden Verständnis der Reichweite des Zweifelssatzes ausgegangen ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 12. Februar 2015 ? 4 StR 420/14, NStZ-RR 2015, 148 mwN; Urteil vom 26. August 2004 ? 4 StR 236/04, NStZ 2005, 85, 86).

Derartige Mängel weist das angegriffene Urteil nicht auf. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht seine Überzeugung begründet hat, dass beide Messerstiche durch Notwehr gerechtfertigt waren, lassen einen durchgreifenden Rechtsfehler zu Gunsten des Angeklagten nicht erkennen.

1. Das Tatgericht ist rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass der Angeklagte sich im Zeitpunkt beider Messerstiche nicht ausschließbar in einer Notwehrlage im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB befunden hat.

a) Das Landgericht vermochte nicht zweifelsfrei festzustellen, welche Absichten der Geschädigte verfolgte, nachdem er dem Angeklagten eine Ohrfeige versetzt hatte. Es ist unter Berücksichtigung aller insoweit aussagekräftigen Indizien ? insbesondere aufgrund des Umstands, dass der aggressiv gestimmte Geschädigte in der räumlich beengten Küche in unmittelbarer Schlagdistanz zum Angeklagten verblieben ist ? zu dem möglichen Schluss gelangt, dass keine eindeutigen Feststellungen zu den Absichten des Geschädigten in der besonderen Tatsituation am Tatabend getroffen werden können. Die Beweiserwägungen sind tragfähig und entgegen der Auffassung der Revision nicht lückenhaft.

aa) Das Tatgericht hat als ein auf die Absicht einer Fortsetzung des Angriffs hindeutendes Beweisanzeichen rechtlich unbedenklich berücksichtigt, dass der Geschädigte entgegen der Aufforderung des Angeklagten, wegzugehen, „auf engstem räumlichen Bereich bei dem Angeklagten“ geblieben ist, und sich auch nach dem ersten Stich nicht vom Angeklagten entfernt hat. Dabei hat es bedacht, dass der Geschädigte nach dem ersten Stich einen Schritt zurückgetreten ist, bevor er sich erneut auf den Angeklagten zubewegte, wobei er seine Hände nicht erhoben hatte. Dem Umstand, dass der Geschädigte sich „weiterhin in unmittelbarer Schlagdistanz zum Angeklagten“ befand, durfte das Landgericht rechtlich unbedenklich als ein auf die Absicht der Fortsetzung des Angriffs hindeutendes Indiz werten.

Soweit der Generalbundesanwalt in diesem Zusammenhang die Erörterung vermisst, ob die auf der Grundlage der glaubhaften Einlassung des Angeklagten festgestellte „Rückwärts- und Vorwärtsbewegung“ des Geschädigten mit nach vorne gebeugten Schultern und hängenden Armen nicht „naheliegend eine Verletzungs- und Schmerzreaktion infolge des erlittenen Messerstichs in den Bauchraum dargestellt haben könnte“, deckt er einen auf die Sachrüge hin beachtlichen Erörterungsmangel nicht auf. Denn es fehlt an entsprechenden, eine sachlich-rechtliche Erörterungspflicht auslösenden Feststellungen, die eine Deutung als Schmerzreaktion nahelegen könnte.

bb) Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ist weiterhin zu entnehmen, dass das Landgericht nicht zweifelsfrei zu belegen, aber auch nicht auszuschließen vermochte, dass der alkoholisierte und aggressive Geschädigte, der den Angeklagten am Tatabend aus dem Haus ausgeschlossen hatte, möglicherweise weitere Schläge gegen den ihm deutlich unterlegenen Angeklagten geführt hätte. Dabei hat das Landgericht ? entgegen der Auffassung der Revision ? in den Blick genommen, dass es in jüngerer Vergangenheit nicht mehr zu aggressiven Übergriffen des Geschädigten auf den Angeklagten gekommen ist.

cc) Entgegen der Auffassung der Revision sind die Beweiserwägungen zur Frage einer Notwehrlage nach dem ersten Stich auch nicht deshalb lückenhaft, weil das Landgericht nicht ausdrücklich erörtert hat, dass der sich dem Angeklagten erneut auf „Schlagdistanz“ annähernde Geschädigte dabei seine Hände nicht nur nicht erhoben, sondern diese auch nicht zur Faust geballt hatte. Denn es handelte sich insoweit nicht um ein gegen eine Angriffsabsicht des Geschädigten sprechendes, selbstständiges weiteres Indiz, welches ausdrücklicher Erörterung bedurfte.

b) Das Landgericht ist bei dieser Beweislage unter Anwendung des Zweifelssatzes hinsichtlich beider Messerstiche im Ergebnis zu Recht vom Vorliegen eines gegenwärtigen Angriffs im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB ausgegangen.

aa) Ein gegenwärtiger Angriff in diesem Sinne liegt nicht erst vor, wenn der Angreifer tatsächlich eine Verletzungshandlung begangen hat. Ein Angriff ist vielmehr bereits dann gegenwärtig, wenn das Verhalten des Angreifers unmittelbar in eine Rechtsgutsverletzung umschlagen kann, so dass durch das Hinausschieben einer Verteidigungshandlung entweder deren Erfolg in Frage gestellt wäre oder der Verteidiger das Wagnis erheblicher eigener Verletzungen auf sich nehmen müsste (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2022 ? 2 StR 263/21 Rn. 18 mwN). Maßgeblich ist insoweit bereits der Zeitpunkt der durch den bevorstehenden Angriff geschaffenen bedrohlichen Lage; als Angriff in diesem Sinne ist daher auch ein Verhalten zu werten, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlichen nicht hinnehmbaren Risiken aussetzen würde (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juni 2017 ? 4 StR 197/17, NStZ-RR 2017, 270; Beschluss vom 13. April 2017 ? 4 StR 35/17, NStZ-RR 2017, 271; Urteil vom 21. März 2017 ? 1 StR 486/16, StV 2018, 727; Beschluss vom 1. Februar 2017 ? 4 StR 635/16, StV 2018, 730; Urteil vom 24. November 2016 ? 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38, 39). Hat der Angreifer bereits eine Verletzungshandlung begangen, dauert der Angriff an, solange mit einer Wiederholung zu rechnen und ein erneuter Umschlag in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2016 ? 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38, 39; Urteil vom 9. August 2005 ? 1 StR 99/05, NStZ 2006, 152, 153).

Für die Prüfung der Notwehrlage in diesem Sinne ist die objektive Sachlage maßgeblich. Es kommt auf die tatsächlichen Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer Rechtsgutsverletzung an, die zugleich das Maß der erforderlichen und gebotenen Abwehrhandlung bestimmen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2019 ? 2 StR 177/19, NStZ 2020, 147; Urteil vom 21. März 2017 ? 1 StR 486/16, StV 2018, 727, 730). Allein die subjektive Befürchtung, ein Angriff stehe unmittelbar bevor, begründet noch keine Notwehrlage (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2022 ? 2 StR 263/21 Rn. 19; Urteil vom 18. April 2002 ? 3 StR 503/01, NStZ-RR 2002, 203, 204).

bb) Zwar läge ? entgegen einer möglicherweise missverständlichen Formulierung des Landgerichts ? allein in den durch den Geschädigten ausgesprochenen verbalen Beleidigungen („Pisser“, „Bengel“) noch kein gegenwärtiger Angriff auf die körperliche Unversehrtheit des Angeklagten; ein lediglich verbaler Streit ist noch kein gegenwärtiger Angriff in diesem Sinne, so lange der Rahmen des Wortgefechts nicht überschritten wird (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2022 ? 2 StR 263/21 Rn. 24). Das Landgericht hat aber die Ohrfeige des Geschädigten rechtsfehlerfrei als rechtswidrigen Angriff des Geschädigten auf die körperliche Unversehrtheit des Angeklagten gewertet. Da es nicht zu klären vermochte, welche konkreten Absichten der Geschädigte nach dieser Ohrfeige hegte, und es an objektiven Anhaltspunkten für die Annahme fehlte, „der aggressive Geschädigte habe sich auf einen einzigen Schlag beschränken wollen“, ist es in Anwendung des Zweifelssatzes jeweils von der für den Angeklagten günstigsten Möglichkeit ausgegangen (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 21. März 2017 ? 1 StR 486/16, StV 2018, 727, 730; Urteil vom 26. August 2004 ? 4 StR 236/04, NStZ 2005, 85, 86; siehe auch BGH, Urteil vom 22. Februar 2022 ? 6 StR 493/21 Rn. 12). Es hat daher vor dem ersten Stich des Angeklagten angenommen, dass ein weiterer Schlag des Geschädigten unmittelbar bevorstand. Gleiches gilt für den zweiten Stich; auch insoweit ist das Landgericht in Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo davon ausgegangen, dass ein weiterer Angriff des sich weiterhin „in Schlagdistanz“ befindlichen Geschädigten unmittelbar bevorstand. Das Landgericht ist daher im Rahmen der rechtlichen Würdigung tragfähig davon ausgegangen, dass der Angeklagte sich jeweils nicht ausschließbar in einer objektiven Notwehrlage befand.

2. Auch die Erwägungen, mit denen das Landgericht seine Überzeugung begründet hat, dass die beiden Messerstiche vom Verteidigungswillen des Angeklagten getragen und zur Verteidigung gegen den drohenden Angriff erforderlich und geboten waren, sind von Rechts wegen nicht zu beanstanden.

a) Die Ausführungen, mit denen das Landgericht seine Überzeugung begründet hat, dass der Angeklagte jeweils handlungsleitend mit Verteidigungswillen gehandelt hat, sind rechtsfehlerfrei.

aa) Nach gefestigter Rechtsprechung ist ein Verteidigungswille auch dann noch als relevantes Handlungsmotiv anzuerkennen, wenn andere Beweggründe wie etwa Vergeltung, Verärgerung oder Wut hinzutreten; erst wenn diese anderen Beweggründe so dominant sind, dass hinter ihnen der Wille, das Recht zu wahren, ganz in den Hintergrund tritt und deshalb von einem Abwehrverhalten keine Rede mehr sein kann, scheidet die Annahme eines Verteidigungswillens aus (vgl. BGH, Urteil vom 25. April 2013 ? 4 StR 551/12, NJW 2013, 2133, 2135 mwN).

bb) Die Beweiserwägungen zum Verteidigungswillen des Angeklagten sind tragfähig. Revisionsrechtlich beachtliche Lücken weisen sie nicht auf. Das Landgericht hat seine Überzeugung, dass der Angeklagte gehandelt hat, um den bevorstehenden Angriff auf sich abzuwehren, auf die glaubhafte Einlassung des Angeklagten und auf die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. R. gestützt. Dass ihm dabei die Persönlichkeit des Angeklagten aus dem Blick geraten sein könnte, schließt der Senat aus, zumal das Landgericht ausdrücklich berücksichtigt hat, dass ? auch ? aufgestaute Wut infolge vorangegangener Demütigungen untergeordnet motivierend gewirkt haben könne. Als handlungsleitend hat das Landgericht aber ? rechtlich tragfähig ? den Verteidigungswillen angesehen und ausgeschlossen, dass ausschließlich Wut und Aggression handlungsleitend gewesen sind.

b) Das Landgericht hat seiner Prüfung, ob die von Verteidigungswillen getragenen Handlungen zur Abwehr des bevorstehenden Angriffs erforderlich und geboten waren, einen rechtlich zutreffenden Maßstab (vgl. zur Erforderlichkeit der Notwehrhandlung BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2022 ? 5 StR 276/22, NJW 2023, 166; Beschluss vom 13. September 2018 ? 5 StR 421/18, NStZ 2019, 136; Urteil vom 25. Oktober 2017 ? 2 StR 118/16, NStZ-RR 2018, 69; Beschluss vom 22. Juni 2016 ? 5 StR 138/16, NStZ 2016, 593, 594; Urteil vom 27. September 2012 ? 4 StR 197/12, NStZ-RR 2013, 139; Urteil vom 26. August 2004 ? 4 StR 236/04, NStZ 2005, 85, 86; zur Gebotenheit der Verteidigungshandlung vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juni 2020 ? 4 StR 658/19, NStZ 2021, 93, 94; Urteil vom 17. Januar 2019 ? 4 StR 456/18, NStZ 2019, 263 f.; Urteil vom 15. Mai 1975 ? 4 StR 71/75, BGHSt 26, 143, 145) zugrunde gelegt. Es ist auf der Grundlage dieses zutreffenden rechtlichen Maßstabs nachvollziehbar zu der Auffassung gelangt, dass beide Messerstiche zur Verteidigung erforderlich waren. Hiergegen ist von Rechts wegen nichts zu erinnern. Gleiches gilt für die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine Einschränkung des Notwehrrechts abgelehnt hat. Die gegen die Annahme der Erforderlichkeit und Gebotenheit der Verteidigung des Angeklagten gerichteten Angriffe der Revision greifen nicht durch. Der Erörterung bedarf nur das Folgende:

aa) Die tatgerichtliche Annahme, der Geschädigte habe den Angeklagten im Rahmen des unmittelbaren Tatvorgeschehens mit seiner Äußerung „Ich geb’ dir gleich halts Maul“ und der sich hieran anschließenden Verfolgung des Angeklagten nicht nur ? wie die Staatsanwaltschaft meint ? barsch verbal diszipliniert, sondern konkludent einen körperlichen Übergriff angedroht, ist tragfähig begründet. Das Landgericht hat die verbale Äußerung des Geschädigten unter Berücksichtigung der Begleitumstände dahin ausgelegt, dass hierin bereits die Androhung eines körperlichen Übergriffs lag, wie er wenig später tatsächlich erfolgt ist. Dies ist ein möglicher Schluss, der von Rechts wegen nicht zu beanstanden ist, auch wenn eine abweichende Würdigung möglich gewesen wäre.

bb) Schließlich sind auch die Erwägungen, mit denen das Landgericht angesichts des zerrütteten Verhältnisses zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten eine sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts wegen eines familiären Näheverhältnisses (vgl. MüKo-StGB/Erb, 4. Aufl., § 32 Rn. 219 mwN) abgelehnt hat, von Rechts wegen nicht zu beanstanden.

IV.

Die gegen die Entscheidung über die Gewährung von Entschädigung wegen erlittener Untersuchungshaft gerichtete sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist zulässig, aber unbegründet.

V.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 554

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede