HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2012
13. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Der Grundsatz "ne bis in idem" und der Europäische Haftbefehl: europäischer ordre public vs. gegenseitige Anerkennung

Besprechung von EuGH, Urt. v. 16.11.2010, Rs. C-261/09 - Gaetano Mantello, HRRS 2011 Nr. 970

Von Prof. Dr. Martin Böse, Universität Bonn

1. Einleitung

Mit dem Europäischen Haftbefehl[1] ist der Auslieferungsverkehr innerhalb der Europäischen Union auf eine neue Grundlage gestellt worden. Nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung (vgl. Art. 67 Abs. 3, Art. 82 Abs. 1 Unterabs. 1 AEUV) ist ein Auslieferungsersuchen in Form eines Europäischen Haftbefehls vom ersuchten Staat zu "vollstrecken" (Art. 1 Abs. 2 RbEuHB). Dies gilt allerdings nicht, sofern eines der im Rahmenbeschluss genannten Vollstreckungshindernisse vorliegt (vgl. Art. 3 - 5 RbEuHb). Die vorliegende Entscheidung des EuGH[2] hat mit dem Grundsatz "ne bis in idem" eines dieser Vollstreckungshindernisse zum Gegenstand (Art. 3 Nr. 2 RbEuHb). Ausgangspunkt der Vorabentscheidung war ein Europäischer Haftbefehl des Tribunale di Catania, mit dem um die Auslieferung des Verfolgten wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Handels mit Betäubungsmitteln im Zeitraum von Januar 2004 bis November 2005 ersucht wird. Das OLG Stuttgart hatte Zweifel an der Zulässigkeit der Auslieferung, da der Verfolgte (ebenfalls vom Tribunale di Catania) bereits wegen einer in diesem Zeitraum begangenen Einzeltat rechtskräftig verurteilt worden war und die Ermittlungsbehörden bereits zu diesem Zeitpunkt über Beweismaterial im Hinblick auf die Tatvorwürfe verfügten, auf die später der Europäischer Haftbefehl gestützt wurde, diese Informationen aber aus ermittlungstaktischen Gründen in dem Erstverfahren nicht offengelegt hatten.[3] Dem OLG Stuttgart stellten sich bei der Prüfung des in Art. 3 Nr. 2 RbEuHb enthaltenen und in § 83 Nr. 1 IRG umgesetzten Vollstreckungshindernisses zwei Fragen, die es dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegte, nämlich erstens, nach welchem Recht das Vorliegen "derselben Tat" (idem) zu beurteilen ist (Recht des Ausstellungsstaates, des Vollstreckungsstaates, Unionsrecht) und zweitens, sofern es sich um eine Frage des Unionsrechts handelt, ob in Konstellationen wie der vorliegenden eine identische Tat anzunehmen ist.[4] Der EuGH beantwortete die erste Frage auf der Grundlage seiner Rechtsprechung zu Art. 54 SDÜ dahingehend, dass der Begriff derselben Tat nach Maßgabe des Unionsrechts, also autonom auszulegen ist (s. dazu unten 2.).[5] Der zweiten Frage wich der Gerichtshof allerdings aus, indem er sie als Frage nach dem Vorliegen einer rechtskräftigen Aburteilung umdeutete, insoweit auf das Recht des Ausstellungsstaates abstellte und die Beurteilung durch die dort zuständige Justizbehörde (in diesem Fall das Tribunale di Catania) als maßgeblich erachtete (s. dazu unten 3.).[6] Die vom OLG Stuttgart gestellte Frage nach der Tatidentität blieb daher letztlich offen (s. dazu unten 4.).

2. Der Tatbegriff im Spannungsfeld von gegenseitiger Anerkennung und europäischem ordre public

Dem EuGH ist darin zuzustimmen, dass die Anforderungen an die Tatidentität im Rahmen des Art. 54 SDÜ einerseits und im Rahmen des Vorbehalts nach Art. 3 Nr. 2 RbEuHb andererseits einheitlich zu bestimmen sind. Das Vollstreckungshindernis nach Art. 3 Nr. 2 RbEuHb wurde aufgenommen, um dem aus Art. 54 SDÜ folgenden grenzüberschreitenden Strafklageverbrauch Rechnung zu tragen:[7] Sofern die Durchführung eines Strafverfahrens nach dem Grundsatz "ne bis in idem" unzulässig ist, darf auch ein zu diesem Zweck ausgestellter Europäischer Haftbefehl (der angesichts des bestehenden Verfol-

gungshindernisses gar nicht hätte erlassen werden dürfen) nicht vollstreckt werden.[8] Der Generalanwalt hat in seinen Schlussanträgen zu Recht darauf hingewiesen, dass der Grundsatz "ne bis in idem" als Verfahrensgrundrecht Bestandteil des europäischen ordre public ist (vgl. Art. 1 Abs. 3 RbEuHb) und die Achtung der nach Art. 6 EUV garantierten Grundrechte (s. Art. 50 GRC) und rechtsstaatlichen Grundsätze auch vom Vollstreckungsstaat sicherzustellen ist.[9] Dementsprechend wird auch von der Kommission ausdrücklich anerkannt, dass keine Pflicht zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls besteht, sofern die Übergabe zur Verletzung von Grundrechten des Verfolgten führen würde.[10] Die Aufnahme von Vollstreckungshindernissen ist Ausdruck der gemeinsamen Verantwortung von Ausstellungs- und Vollstreckungsstaat für die Einhaltung von Grund- und Verfahrensrechten im Rahmen einer transnational-arbeitsteiligen Strafverfolgung.[11] Diese Mitverantwortung des Vollstreckungsstaates für die Wahrung der Grundrechte des Verfolgten impliziert eine Befugnis, das Vorliegen entsprechender Vollstreckungshindernisse zu prüfen. Dass eine Überprüfung der Entscheidung des ersuchenden Mitgliedstaates mit der sekundärrechtlichen Umsetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung zum Teil ausgeschlossen wird, steht dem nicht entgegen[12], sondern bestätigt als Ausnahme die Regel, dass mit der Einführung eines Vollstreckungshindernisses eine entsprechende Prüfungsbefugnis bzw. -pflicht des (ersuchten) Vollstreckungsstaates einhergeht.[13]

Angesichts des Zusammenhangs zwischen Art. 3 Nr. 2 RbEuHb und Art. 54 SDÜ konnte der EuGH auf seine mittlerweile gefestigte Rechtsprechung zu den Anforderungen an die Identität der Tat im Rahmen des Art. 54 SDÜ verweisen, wonach der Begriff derselben Tat in der gesamten Union einheitlich und daher unabhängig vom Recht der Mitgliedstaaten, d.h. autonom auszulegen ist.[14] Der EuGH hat damit einer Prüfung der Tatidentität auf der Grundlage des nationalen Rechts, sei es das Recht des (um Auslieferung ersuchten) Vollstreckungsstaates, sei es das Recht des (ersuchenden) Ausstellungsstaates, eine deutliche Absage erteilt. Zugleich wird damit (erneut) die im Schrifttum vertretene Auffassung zurückgewiesen, wonach der Tatbegriff nach dem Recht des Mitgliedstaates zu bestimmen ist, in dem die Tat rechtskräftig abgeurteilt wurde.[15] Soweit dabei aus dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung abgleitet wird, dass dem Urteilsstaat die Definitionsmacht über den Verfahrensgegenstand und damit die Reichweite des Strafklageverbrauchs zustehe[16], wird damit zwar im Ausgangspunkt zutreffend auf den Zusammenhang zwischen Art. 54 SDÜ und dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung hingewiesen[17], aber der Charakter des Grundsatzes "ne bis in idem" als Verfahrensgrundrecht nur unvollständig erfasst. Mit der Aufnahme des Grundsatzes "ne bis in idem" in Art. 50 GRC und deren Übernahme als verbindliches Primärrecht durch den Reformvertrag von Lissabon ist die individualschützende Funktion dieses Grundsatzes deutlich gestärkt worden. Indem Art. 50 GRC die transnationale Dimension (Art. 54 SDÜ) und die interne (d.h. auf die Geltung innerhalb der jeweiligen Rechtsordnung bezogene) Dimension (Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK) zusammenführt[18], emanzipiert sich die primärrechtliche Gewährleistung vom Prinzip der gegenseitigen Anerkennung und formuliert damit einen Maßstab, den auch der Urteilsstaat gegen sich gelten lassen muss. Dementsprechend hat der Generalanwalt die von einigen Mitgliedstaaten vertretene Auffassung zurückgewiesen, wonach Art. 3 Nr. 2 RbEuHb und Art. 54 SDÜ nur auf transnationale (rechtskräftige Verurteilung in einem anderen als dem Ausstellungsstaat), nicht aber auf intranationale Konstellationen (rechtskräftige Verurteilung im Ausstellungsstaat) anwendbar sei[19], und zur Begründung auf den Wortlaut des Art. 3 Nr. 2 RbEuHb und die grundrechtsschützende Funktion der Regelung verwiesen.[20] Da es im Ausgangsverfahren um die Auslegung und Anwendung ("Durchführung") von Unionssekundärrecht (Art. 3 Nr. 2 RbEuHb) geht und die Mitgliedstaaten bei der Ausstellung und Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls an die Grundrechte-Charta gebunden sind (vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC), sind die primärrechtlichen Vorgaben des Art. 50 GRC im vorliegenden Fall zu beachten.[21] Muss der Ausstellungsmitgliedstaat selbst sich am Maßstab dieses Unionsgrundrechts messen lassen, so kann die Reichweite des Schutzes nicht unter Rückgriff auf dessen innerstaatliches Recht bestimmt werden, denn in diesem Fall bestünde die Gefahr, dass sich die Mitgliedstaaten den

Bindungen der Grundrechte-Charta entziehen.[22] Die autonome Auslegung des Tatbegriffs im Zusammenhang mit dem Grundsatz "ne bis in idem" ist daher Konsequenz der fortschreitenden Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der Union. Dieses Verständnis ist durch die neuere Rechtsprechung des EGMR zu Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK bestätigt worden, in der dem Grundsatz "ne bis in idem" unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 54 SDÜ ein prozessualer (faktischer) Tatbegriff zu Grunde gelegt wird.[23]

3. Die rechtskräftige Aburteilung als "Einfallstor" für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung?

Nachdem der EuGH sich in Bezug auf den Tatbegriff mit klaren Worten zu einer autonomen, unionsrechtlichen Auslegung bekannt hat, relativiert er dieses Ergebnis anschließend in seinen Ausführungen zur rechtskräftigen Aburteilung. Ausgangspunkt ist die Argumentation des OLG Stuttgart, dass es nach der bisherigen Rechtsprechung nahe liege, Tatidentität zu verneinen (s. dazu unten 4.), dass sich der vorliegende Fall aber dadurch auszeichne, dass dem Tatgericht bestimmte Informationen - möglicherweise pflichtwidrig - vorenthalten worden seien; damit werde die Frage aufgeworfen, ob der gesamte den Ermittlungsbehörden bekannte Tatsachenkomplex (d.h. die abgeurteilte Einzeltat und das Organisationsdelikt sowie weitere Einzeltaten) als abgeurteilt gelten müsse.[24] Der EuGH greift diese Frage auf, indem er prüft, ob die unterlassene Unterbreitung einer rechtskräftigen Aburteilung "gleichzusetzen ist".[25] Damit wird das Problem auf eine Voraussetzung des Grundsatzes "ne bis in idem" verlagert, dessen Vorliegen nach der bisherigen Rechtsprechung davon abhängt, ob die betreffende Entscheidung nach innerstaatlichem Recht einen Strafklageverbrauch begründet.[26] Der EuGH wendet sich nun erneut der Frage nach der Reichweite des Strafklageverbrauchs (d.h. dem Vorliegen derselben Tat) zu und stellt fest:

"In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem die ausstellende Justizbehörde auf ein Informationsersuchen der vollstreckenden Justizbehörde ... gemäß ihrem nationalen Recht und unter Beachtung der Anforderungen, die sich aus dem in Art. 3 Nr. 2[RbEuHb]aufgeführten Begriff "derselben Handlung" ergeben ausdrücklich festgestellt hat, dass das zuvor im Rahmen ihrer Rechtsordnung erlassene Urteil keine rechtskräftige Verurteilung wegen der in ihrem Haftbefehl bezeichneten Handlungen darstellt …, besteht für die vollstreckende Justizbehörde kein Anlass, wegen dieses Urteils den in diesem Art. 3 Nr. 2 vorgesehenen zwingenden Grund für die Ablehnung der Vollstreckung anzuwenden."[27]

Mit dieser Kehrtwendung kommt der EuGH dem Vorbringen mehrerer Mitgliedstaaten entgegen, dass die Würdigung des Ausstellungsstaates, wonach die Strafklage nach seinem innerstaatlichen Recht nicht verbraucht sei, vom Vollstreckungsstaat anzuerkennen sei.[28] Wenngleich der EuGH äußerlich an seine Rechtsprechung zu Art. 54 SDÜ anknüpft, so beruht die Rücknahme der Prüfungskompetenz des (um Auslieferung ersuchten) Vollstreckungsstaates letztlich auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung und dem mit dem Europäischen Haftbefehl verfolgten Ziel, den Auslieferungsverkehr zu vereinfachen und zu beschleunigen.[29] Wie oben dargelegt worden ist (s. oben unter 2.), stößt die gegenseitige Anerkennung jedoch dort an ihre Grenzen, wo der europäische ordre public, d.h. der den Mitgliedstaaten gemeinsame grundrechtliche Mindeststandard, verletzt wird. Dass dem Grundrechtsschutz der Vorrang vor dem öffentlichen Interesse an einer "reibungslosen" Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gebührt, wird durch Art. 1 Abs. 3 RbEuHb bzw. im vorliegenden Fall durch Art. 3 Nr. 2 RbEuHb klar entschieden.

Auch im Übrigen sind die Ausführungen des EuGH zur "rechtskräftigen Aburteilung" wenig überzeugend: Die "rechtskräftige Aburteilung" setzt nach bisheriger Rechtsprechung eine verfahrensabschließende Entscheidung voraus, gegen die keine Rechtsmittel mehr eingelegt werden können (formelle Rechtskraft) und die nach dem innerstaatlichen Recht einen (ggf. auch eingeschränkten) Strafklageverbrauch für die verfolgte "Tat" begründet (materielle Rechtskraft).[30] Im Hinblick auf die neuere Entwicklung, insbesondere das Inkrafttreten von Art. 50 GRC, erscheint es bereits zweifelhaft, ob der Eintritt eines Strafklageverbrauchs allein nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts des Urteilsstaates zu beurteilen ist; in jedem Fall wird die Reichweite der materiellen Rechtskraft jedoch durch den Tatbegriff bestimmt, der nach den obigen Ausführungen autonom auszulegen ist. Die Frage nach dem Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung stellt sich im vorliegenden Verfahren nicht, da in Bezug auf die abgeurteilte Einzeltat eine solche unzweifelhaft vorliegt, während in Bezug auf die in dem Europäischen Haftbefehl bezeichneten Taten jeder Anhaltspunkt für eine verfahrensabschließende Entscheidung fehlt, sofern man nicht in der Aburteilung der Einzeltat eine solche sieht; dies aber ist eine Frage der Tatidentität, nicht eine solche nach den Anforderungen an eine rechtskräftige Aburteilung.

4. Tatidentität bei Organisationsdelikt und Einzeltat

Der EuGH hätte sich also der Frage nach dem Vorliegen von Tatidentität und dem Verhältnis von Organisationsdelikt und Einzeltat nicht entziehen dürfen. Das OLG Stuttgart hat mit Recht auf die Bedeutung hingewiesen, die dieser Frage bei der Verfolgung der organisierten Kriminalität zukommt.[31] Die praktische Relevanz spiegelt sich auch in der deutschen Rechtsprechung zu Art. 54 SDÜ wider, die allerdings kein einheitliches Bild erkennen lässt. Zum Teil wird eine Verklammerung mit dem bzw. über das Organisationsdelikt abgelehnt und dementsprechend von mehreren Taten ausgegangen.[32] Zum Teil wird aber auch angenommen, dass die Nutzung derselben Organisationsstruktur bei der Ausführung einzelner Tathandlungen eine einheitliche Tat begründet.[33] Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH kann eine einheitliche Tat nicht bereits deshalb angenommen werden, weil mehrere Handlungen (wie der Verkauf von Drogen und der anschließende Umtausch des auf diese Weise erlangten Bargeldes in einer Wechselstube als Geldwäsche) über einen einheitlichen Vorsatz miteinander verbunden sind.[34] Erforderlich ist vielmehr, dass die einzelnen Handlungen auch objektiv, d.h. in räumlicher und zeitlicher Hinsicht und nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden sind.[35] Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung verneint der BGH beim grenzüberschreitenden Zigarettenschmuggel eine einheitliche Tat i.S.d. Art. 54 SDÜ, wenn der Transport für einen längeren Zeitraum unterbrochen wird, die Schmuggelware zwischengelagert wird oder wenn der genaue Ablauf des Transportes bei Beginn der Fahrt noch nicht feststeht und noch weitere Entscheidungen (z.B. über die genaue Route) getroffen werden müssen.[36] Unter diesen Vorzeichen kann auch der Umstand, dass eine Einzeltat als Mitglied einer kriminellen Vereinigung begangen wird, nicht dazu führen, dass diese Tat mit anderen Einzeltaten bzw. der damit zugleich vorliegenden Beteiligung an einer kriminellen Organisation als einheitliche Tat i.S.d. Art. 50 GRC, Art. 54 SDÜ anzusehen ist.[37]

Dementsprechend sah sich das OLG Stuttgart zu seiner zweiten Vorlagefrage vor allem durch den weiteren Umstand veranlasst, dass die Strafverfolgungsbehörden dem Gericht Tatsachen und Beweismittel vorenthalten haben, auf deren Grundlage der Angeklagte auch wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung hätte angeklagt und verurteilt werden können. Der Angeklagte dürfte jedoch nur unter der Voraussetzung darauf vertrauen, nach Abschluss des Erstverfahrens nicht mehr wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verfolgt zu werden, wenn die Strafverfolgungsbehörden verpflichtet gewesen wären, das Organisationsdelikt zusammen mit der Einzeltat zur Anklage zu bringen.[38] Besteht keine derartige Verpflichtung, so fehlt es an einer normativen Grundlage, auf die eine entsprechende Erwartung und ein berechtigtes Vertrauen in den Schutz vor erneuter Strafverfolgung gestützt werden könnte. Eine solche Pflicht ließe sich nicht aus Art. 50 GRC, sondern allenfalls aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) ableiten.[39] Der EGMR hat insoweit allerdings festgestellt, dass die Verfolgung zusammenhängender Taten in getrennten Verfahren keinen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK begründet, sofern dieses Vorgehen "aus Gründen der geordneten Rechtspflege" erforderlich und angemessen ist.[40] Im Interesse einer geordneten Rechtspflege erscheint es nicht illegitim, wenn die Anklage bestimmter Tatkomplexe aufgeschoben wird, um den Erfolg der Ermittlungen gegen andere Tatbeteiligte bzw. wegen anderer Taten nicht zu gefährden.[41] Art. 6 Abs. 1 EMRK gebietet daher im vorliegenden Fall keine Korrektur des Tatbegriffs.

5. Fazit

Nach alledem kann man sich damit trösten, dass im vorliegenden Fall die Auslieferung des Verfolgten wohl keinen Verstoß gegen den Grundsatz "ne bis in idem" begründete. Gleichwohl ist es zu bedauern, dass der EuGH bei der Konturierung der grundrechtsschützenden Vorbehalte des RbEuHB auf halbem Wege stehen geblieben ist, indem er die Justizbehörde des Vollstreckungsstaates de facto an die rechtliche Beurteilung des Ausstellungs- bzw. Urteilsstaates bindet. Mit dieser Reduzierung der gerichtlichen Kontrolle wird der grundrechtliche Hintergrund der Vorlagefragen allenfalls ansatzweise erfasst. Angesichts des Umstands, dass Art. 50 GRC in dem gesamten Urteil keinerlei Erwähnung findet, drängt sich beinahe der Eindruck auf, der EuGH habe das Inkrafttreten der Grundrechte-Charta mit dem Lissabonner Vertrag nicht zur Kenntnis genommen. Der Hinweis auf das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung steht damit in einem eklatanten Missverhältnis zur grundrechtlichen Dimension der Vollstreckungshindernisse und lässt außer Acht, dass die gemeinsame Verpflichtung auf die in der EMRK und der GRC niedergelegten Grundrechte das Fundament der strafrechtlichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen (vgl. Art. 82 Abs. 1 Unterabs. 1 lit. a AEUV) darstellt. Der ordre-public-Vorbehalt sollte daher nicht als Misstrauensvotum

gegenüber anderen Mitgliedstaaten[42], sondern als vertrauensbildende, besser vertrauenssichernde Maßnahme begriffen werden, die zur Wahrung der Grundrechte im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts einen wichtigen Beitrag leistet.


[1] Rahmenbeschluss des Rates Nr. 2002/584/JI vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190 vom 18.7.2002, S.1), geändert durch Rahmenbeschluss Nr. 2009/299/JI vom 26. Februar 2009 (ABl. L 81 vom 27.3.2009, S. 24).

[2] EuGH, Urt. v. 16.11.2010, Rs. C-261/09 - Gaetano Mantello, HRRS 2011 Nr. 970 = EuGRZ 2011, 32 = NJW 2011, 983 = NStZ 2011, 466 = StV 2011, 425.

[3] OLG Stuttgart StV 2010, 264, 265.

[4] OLG Stuttgart StV 2010, 264.

[5] EuGH (Fußn. 2), Rn. 38.

[6] EuGH (Fußn. 2), Rn. 43, 49 ff.

[7] S. aus den Ratsverhandlungen zum RbEuHb: Rats-Dok. 14867/01, S. 11 (in Fußn. 2).

[8] Vgl. Generalanwalt Bot, Schlussanträge vom 7. September 2010, in: EuGH (Fußn. 2), Rn. 78, 89 f.

[9] Generalanwalt Bot, a.a.O., Rn. 86, 87 f.; s. bereits Generalanwalt Ruíz-Jarabo Colomer, in: EuGH, Verb. Rs. C-187/01 und C-385/01 (Gözütok und Brügge), Slg. 2003, I-1345 Rn. 57.

[10] S. den Bericht der Kommission über die seit 2007 erfolgte Umsetzung des RbEuHb vom 11. April 2011, KOM (2011) 175 endg., S. 7.

[11] S. allgemein Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl. (2006), Einleitung Rn. 113; Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl. (Stand: 24. Lieferung - November 2011), Vor § 1 IRG Rn. 40.

[12] In diesem Sinne Ligeti KritV 93 (2010), 380, 387, mit Hinweis auf Art. 9 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses Nr. 2006/783/JI vom 6. Oktober 2006 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Einziehungsentscheidungen (ABl. L 328 vom 24.11.2006, S. 59).

[13] Vgl. de Schutter Columbia Journal of European Law 14 (2008), 509, 543 f.

[14] EuGH (Fußn. 2), Rn. 38 f.; s. zu Art. 54 SDÜ: EuGH, Rs. C-436/04 (van Esbroeck), Slg. 2006, I-2333 Rn. 36; Rs. C-150/05 (van Straaten), Slg. 2006, I-9327 Rn. 48; s. ferner zu Art. 4 Nr. 6 RbEuHb: EuGH, Rs. C-66/08 (Koz ł owski), Slg. 2008, I-6041 Rn. 41 f.; zusammenfassend Stuckenberg, in: Meng/Ress/Stein /Hrsg.), Europäische Integration und Globalisierung (2011), S. 567, 575 ff.

[15] So insbesondere Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. (2010), § 13 Rn. 55 m.w.N.; s. dagegen bereits Böse GA 2003, 744, 757 f.

[16] Hecker, a.a.O (Fußn. 15).

[17] EuGH, Verb. Rs. C-187/01 und C-385/01 (Gözütok und Brügge), Slg. 2003, I-1345 Rn. 33 ("gegenseitiges Vertrauen"); eingehend Generalanwalt Ruíz-Jarabo Colomer, ebenda, Rn. 122 ff.

[18] S. die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents zu Art. 50 GRC, C 303 vom 14.12.2007, S. 17, 31.

[19] Vgl. Schlussanträge von Generalanwalt Bot vom 7. September 2010 (Fußn. 8), Rn. 75, 80, 83; zur Terminologie: OLG Stuttgart StV 2010, 264 (265).

[20] Schlussanträge von Generalanwalt Bot, a.a.O., Rn. 84 ff.

[21] Schlussanträge von Generalanwalt Bot, a.a.O., Rn. 91 f.

[22] S. zum Begriff "Strafverfahren" in Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK: EGMR (Große Kammer), NJOZ 2010, 2630 Rn. 52 (Zolotukhin / Russland).

[23] S. EGMR (Große Kammer), NJOZ 2010, 2630 Rn. 79 ff. (Zolotukhin / Russland).

[24] OLG Stuttgart StV 2010, 264, 265 f.

[25] EuGH (Fußn. 2), Rn. 44.

[26] EuGH (Fußn. 2), Rn. 46 f., mit Hinweis auf EuGH, Rs. C-491/07 (Turanský), Slg. 2008, I-11039 Rn. 36 f.

[27] EuGH (Fußn. 2), Rn. 51.

[28] Vgl. Generalanwalt Bot (Fußn. 8); Rn. 72 f.

[29] Vgl. EuGH (Fußn. 2), Rn. 36.

[30] EuGH, Verb. Rs. C-187/01 und C-385/01 (Gözütok und Brügge), Slg. 2003, I-1345 Rn. 30; Rs. C-491/07 (Turanský), Slg. 2008, I-11039 Rn. 35 f.

[31] OLG Stuttgart StV 2010, 264, 266.

[32] OLG Köln OLGSt Art. 54 SDÜ Nr. 3[juris]Rn. 35 f .

[33] OLG München NStZ 2007, 412 .

[34] EuGH, Rs. C-367/05 (Kraaijenbrink), Slg. 2007, I-6619 Rn. 30 f., 36.

[35] EuGH, Rs. C-367/05 (Kraaijenbrink), Slg. 2007, I-6619 Rn. 28; Rs. C-288/05 (Kretzinger), Slg. 2007, I-6642 Rn. 34.

[36] BGH NStZ 2009, 457, 459 = HRRS 2008 Nr. 623.

[37] Vgl. auch OLG Stuttgart, StV 2010, 264, 265.

[38] Alternativ könnte ein entsprechendes Vertrauen auch mit der Aufklärungspflicht des Gerichts begründet werden (vgl. zu diesem Zusammenhang: BGHSt 46, 349, 358). Im vorliegenden Fall bestanden jedoch keine Anhaltspunkte für eine solche Pflicht, sei es nach europäischem, sei es nach nationalem (italienischen) Recht.

[39] Lampe, jurisPR-StrafR 2/2011 Anm. 2 (unter C. 3. und 4.).

[40] EGMR, Slg. 1992, Ser. A, Bd. 235, Rn. 39 (Boddaert / Belgien); NJW 2004, 3691, 3694 (Garaudy / Frankreich).

[41] S. auch Lampe jurisPR-StrafR 2/2011 Anm. 2 (unter C. 4.), der allerdings erst bei willkürlichem Vorgehen einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK annimmt.

[42] Vgl. Ligeti KJ 93 (2010), 380, 388.