HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2011
12. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Vergleichende Strafzumessung bei Tatbeteiligung

Anmerkung zum Beschluss des BGH 1 StR 282/11 vom 28.6.2011 = HRRS 2011 Nr. 863

Von Prof. Dr. Tatjana Hörnle, Humboldt-Universität zu Berlin

Eine im Bundesgebiet einheitliche Strafzumessung, die bei Taten desselben Unrechtsgrads und vergleichbarer Schuld der Täter zu ähnlichen Strafen kommt, ist im Interesse eines gerechten und rationalen Strafrechtssystems anzustreben. Natürlich ist einzuräumen, dass diesem Anliegen durch die Komplexität von Strafzumessungsentscheidungen und durch gewisse Unwägbarkeiten bei menschlichen Bewertungen Grenzen gesetzt sind und es deshalb nur darum gehen kann, sich dem Ideal einer gleichmäßigen Strafzumessung soweit wie möglich zu nähern. Es besteht aber kein Grund zur Annahme, dass die Praxis erreicht hätte, was an Annäherung an das Ziel möglichst einheitlichen Strafens möglich wäre – dass es zwischen Einzelrichtern und Strafkammern unterschiedlicher Gerichte, aber auch innerhalb desselben Gerichts wahrnehmbar voneinander abweichende Strafzumessungsgepflogenheiten gibt, ist schwerlich abzustreiten. Hoffnungen, dass die Revisionsgerichte sich bemühen würden, Maßstäbe zur Förderung einer einheitlicheren Rechtsprechung zu schaffen, erfüllt der zu besprechende Beschluss des 1. Strafsenats am BGH leider nicht.

Er gilt einem Bereich, in dem eine vergleichende Strafzumessung einfacher wäre als unter anderen Umständen: wenn dies Urteile betrifft, die gegen Mittäter zu verhängen sind, die an derselben Straftat beteiligt waren. Da die Ausgangsbasis, nämlich die Bewertung des Gewichts und der Folgen der Tat, dieselbe ist, bieten sich solche Verfahren für eine vergleichende Strafzumessung an. Es liegt auf der Hand, dass ein Vergleich der Strafe für Täter A mit der Strafe für Täter B bei gemeinsam begangenen Bandendiebstählen einfacher ist als z.B. die Beurteilung der Frage, ob eine Strafe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in einem angemessenen Verhältnis zu einer Strafe wegen Bandendiebstahls steht. Vergleichende Strafzumessung bei Mittäterschaft bildet den Gegenstand des Beschlusses. Der 1. Senat kommt zu dem Ergebnis, dass bei Urteilen derselben Strafkammer, auch wenn sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in abgetrennten Verfahren ergehen, Unterschiede im Urteil erläutert werden müssen. Dies sei aber nicht der Fall, wenn ein Mittäter bereits von einem anderen Gericht oder auch nur einer anderen Kammer verurteilt wurde.

Dem Beschluss sind mehrere Thesen zu entnehmen, von denen einige im Ergebnis gut nachzuvollziehen sind, andere aber diskussionswürdig und -bedürftig. Die erste Aussage betrifft die Situation, in der ein Tatrichter ein fremdes Strafurteil gegen einen Mittäter "seines" Angeklagten vorfindet und dieses im Strafmaß nicht für richtig hält (sei es, weil es bei der Bewertung der Tat zu milde sei oder zu streng war). Wäre in solchen Situationen die Annahme einer Bindungswirkung überzeugend? Der Senat weist darauf hin, dass es gegen die Eigenverantwortlichkeit richterlicher Überzeugungsbildung verstoßen würde, wenn der Zwang bestünde, die Strafzumessung der zuerst tätig gewordenen Kollegen und die darin steckende Einschätzung des Tatunrechts zu übernehmen. Zu erwägen wäre zwar, ob eine Bindung an vorangegangene Strafzumessungsentscheidungen gegen Mittäter jedenfalls einseitig bestehen sollte – man könnte Tatrichtern gestatten, einerseits bei für ihren Geschmack zu streng ausgefallenen Urteilen dem ersten Richter nicht folgen zu müssen, andererseits aber nicht selbst im eigenen Verfahren den Mittäter durch eine strengere Strafe zu benachteiligen. Aber auch gegen eine vorstellbare "asymmetrische Bindungswirkung" findet sich ein Argument im Beschluss des 1. Senats, der einen "ständigen Abfall der Höhe der Strafen" befürchtet, wodurch es "zu einer immer weiteren Entfernung von der jeweils schuldangemessenen Strafe" kommen würde (Rn. 9). Ob die Prognose einer kräftigen "Abwärtsspirale" realistisch ist, könnte in Frage gestellt werden, und eine leichte Korrektur des in Deutschland bestehenden Strafniveaus nach unten müsste nicht per se negativ sein. Im Ergebnis stimme ich dem Senat allerdings in der Aussage zu, dass eine Bindung an das Urteil des ersten Gerichts nicht angemessen wäre: Der Umstand, wer als erster einen von mehreren Mittätern verurteilt, hängt von Zufälligkeiten des Verfahrens ab, die keinerlei Beziehung zur inhaltlichen Richtigkeit des Strafmaßes haben. Es wäre deshalb in der Tat problematisch, die in der zeitlichen Reihenfolge an zweiter Stelle kommenden Richter zur Übernahme von Wertungen zu zwingen.

Zustimmungswürdig ist auch eine zweite These, die der Konstellation gilt, dass Strafrichter im zeitlich nachfolgenden Verfahren das erste Urteil gegen einen Mittäter für durchaus überzeugend halten und nun die eigene Strafzumessungsentscheidung durch schlichte Übernahme dieses Strafmaßes vereinfachen möchten. Hierzu merkt der Beschluss an: "Es wäre daher rechtsfehlerhaft, wenn das Gericht die Strafe allein im Hinblick auf die

Strafen bemessen würde, die in anderen Urteilen – sei es desselben Gerichts, sei es eines anderen Gerichts – verhängt wurden" (Rn. 11). Das ist überzeugend, wenn man den Akzent auf das Wort "allein" legt. Natürlich setzt eine vergleichende Strafzumessung voraus, dass nicht nur Gemeinsamkeiten herausgestrichen werden, sondern auch untersucht und begründet wird, ob und ggf. welche Abweichungen es bei der individuellen Tatbeteiligung und täterbezogenen Umständen gab. Die undifferenzierte Anpassung an die Entscheidung des ersten Gerichts wäre arbeitssparend, aber in der Tat rechtsfehlerhaft. Interessanterweise deutet der Senat allerdings an, dass "bei massenhaft auftretenden Taten typischer Prägung" "unter Umständen ausnahmsweise" eine Orientierung an einer allgemeinen Strafpraxis zulässig sei (Rn. 12).

Mit einer weiteren wichtigen These, die im Beschluss steckt, räumt der Senat allerdings Tatrichtern eine auf den ersten Blick schwer verständliche Autonomie ein. Eine naheliegende Alternative wäre gewesen, eine Bindung an ein vorangegangenes fremdes Urteil abzulehnen, aber zu fordern, dass dieses erstens erörtert wird und zweitens begründet, warum die eigene Strafzumessung deutlich anders (oder auffällig ähnlich) ausfällt. Eine solche Pflicht, sich mit einer vorangegangenen Bewertung derselben Tat auseinanderzusetzen, würde der Rationalisierung von Strafzumessungsentscheidungen dienen, nicht nur im konkreten Fall, sondern auch in systemischer Hinsicht. Der Vergleich mit anderen Entscheidungen würde dazu zwingen, sich selbst explizit und strukturiert Rechenschaft über Natur und Gewicht der relevanten Strafzumessungsgründe zu geben anstatt der Vorstellung anzuhängen, dass mit dem Eintritt ins Richteramt die Fähigkeit zum intuitiven Erkennen der "richtigen Strafe" erblühe. Der 1. Senat gibt aber vor, dass das zweite Tatgericht vorangegangene tatrichterliche Urteile zum selben Sachverhalt nicht erörtern und nicht einmal zur Kenntnis nehmen muss; nach seiner Auffassung besteht keine dahingehende Aufklärungspflicht (Rn. 13, 14).

Warum sperrt sich der 1. Senat gegen eine Pflicht zur Erörterung einschlägiger Urteile und eine Pflicht, die eigene Strafzumessungsentscheidung in Auseinandersetzung damit zu begründen? In der Entscheidung werden einige schwache Begründungen bemüht, etwa mit dem Verweis auf Aburteilungen im Ausland, die nicht vergleichbar sind (Rn. 7), nicht gefasste Mittäter (Rn. 9) oder gem. § 267 Abs. 4 StPO abgekürzte Urteile, denen zu wenig zu entnehmen ist (Rn. 8). Der Verweis darauf, dass in einigen Fällen eine vergleichende Strafzumessung unmöglich ist, trägt allerdings nur die Folgerung, dass der Tatrichter unter solchen Umständen dies konstatieren müsste, nicht aber, dass unter anderen Bedingungen zuerst ergangene, vergleichsfähige Urteilsbegründungen ignoriert werden dürfen. Dasselbe gilt für die Überlegung, dass es in unterschiedlichen Urteilen zu abweichenden Feststellungen hinsichtlich der Art der Tatbeteiligung kommen könne (Rn. 6) – ist dies so, müsste der vergleichende Tatrichter schlicht darauf verweisen, dass die Strafzumessungsentscheidung des ersten Gerichts aus diesem Grund keine ohne Weiteres brauchbare Ausgangsbasis ist.

Etwas besser nachvollziehbar ist das nicht ausdrücklich so ausgesprochene, aber implizit dem Beschluss zu entnehmende Anliegen, Tatgerichten den größeren Begründungsaufwand für vergleichende Strafzumessung bei Mittätern zu ersparen. Die Frage ist, ob dieser Mehraufwand tatsächlich unvertretbar groß wäre. Der Senat weist darauf hin, dass ggf. "im Einzelnen die strafzumessungsrelevanten Umstände der jeweiligen Täter insgesamt aufgezeigt werden[müssten], wie persönliche Verhältnisse, Vorstrafen, Geständnis, Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB, des § 31 BtMG, der §§ 46a oder 46b StGB, Schadenswiedergutmachung, Zeitabstand von Tat zur Aburteilung, die mit einer langen Verfahrensdauer verbundene Belastung, Erkrankungen usw.". Dies klingt nach einer langen Liste, die Vergleiche mühsam erscheinen lässt. Am Ende des Beschlusses formulieren die Revisionsrichter die Befürchtung, dass dies "den Rahmen einer geordneten Rechtspflege sprengen" würde (Rn. 16). Zu berücksichtigen ist aber, dass nicht alle Faktoren in jedem Fall eine Rolle spielen. Es dürfte eine bewältigbare Aufgabe sein, eine solche "Checkliste" durchzugehen und zu überlegen: Erstens, hat dieser Umstand für die Strafzumessung gegen den bereits verurteilten Mittäter eine Rolle gespielt; zweitens, liegt dieser Umstand beim jetzigen Angeklagten vor, in paralleler oder in abweichender Ausprägung oder gar nicht, und drittens, wie ist Unterschieden in Form von Abschlägen und Zuschlägen Rechnung zu tragen? Dies würde Strafzumessungsentscheidungen verlängern, aber wohl nicht in den Bereich des Unzumutbaren treiben, vor allem, wenn man berücksichtigt, dass die Konstellation "Mittäter zu unterschiedlichen Zeitpunkten verurteilt" nicht täglich auf dem Arbeitsprogramm steht.

Hinter der Entscheidung des 1. Senats könnte noch eine andere Überlegung stehen, die im Beschluss nicht einmal angedeutet wird, aber aus rechtssoziologischer Perspektive Gewicht hat: Was würde die kritische Analyse einer vorangegangenen Entscheidung von Richterkollegen innerhalb der Richterschaft und für das Ansehen der Justiz nach außen bewirken? Richter, die sich mit dem vorangegangenen Urteil einer anderen Abteilung oder Kammer oder eines anderen Gerichts ernsthaft und systematisch beschäftigen, würden gelegentlich nicht umhin können, die Ausgangsbasis in Frage zu stellen, nämlich die Bewertung der Tatschwere (unabhängig von Tatbeteiligungen und persönlichen Verhältnissen der Mittäter), oder sie müssten in anderer Weise auf Unzulänglichkeiten des älteren Urteils eingehen. Eine derartige kritische Auseinandersetzung würde aber nicht nur im Kollegenkreis für Missstimmung sorgen (vor allem, aber nicht nur, wenn es sich um Kollegen am selben Gericht handelt), sondern auch nach außen den Anspruch untergraben, dass Strafurteile nicht nur verbindlich, sondern auch inhaltlich richtig sind. Aufgabenbeschreibungen für die Justiz, die mit Stichworten wie "Rechtsfrieden", "Bewährung der Rechtsordnung" und "positive Generalprävention" charakterisiert werden, wäre dies nicht zuträglich. Aus diesem Grund ist es verständlich, dass der 1. Senat die Maxime vorgibt "kümmert Euch nicht um die Urteile von Kollegen". Ob allerdings das Ziel einer möglichst einheitlichen, gerechten Strafzumessung letztlich nicht doch wichtiger wäre, muss hier offenbleiben.