HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2003
4. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Außervollzugsetzung eines Unterbringungsbefehls - Anmerkung zum Beschluß des Landgerichts Kiel - II KLs (48/01) - vom 19. November 2002

RA Dr. Michael Gubitz, Fachanwalt für Strafrecht, Kiel

I. Einleitung

Zu der Frage, ob ein Unterbringungsbefehl nach § 126a Abs. 1 StPO außer Vollzug gesetzt werden darf, sind, soweit ersichtlich, bislang erst zwei gerichtliche Entscheidung veröffentlicht worden. Hierin nehmen das OLG Celle[1] und, ihm folgend, das LG Hildesheim[2], eine Außervollzugsetzungsmöglichkeit an.[3] Im Schrifttum, insbesondere der Kommentarliteratur, findet sich ein recht unheitliches Bild[4].

II. Die Entscheidung des Landgerichts Kiel

Entscheidungstenor

Der Vollzug des Unterbringungsbefehls der Kammer vom 17. Dezember 2001 wird ausgesetzt.

Der Beschuldigte wird angewiesen,

den halboffenen Bereich der forensisch-psychiatrischen Abteilung der Fachklinik Neustadt sowie die beaufsichtigte Trupp-Arbeit in der hauseigenen Gärtnerei nicht ohne Zustimmung der behandelnden Ärzte zu verlassen.

Keinen Alkohol und keine Drogen zu sich zu nehmen.

Gründe

Der Beschuldigte befindet aufgrund des Unterbringungsbefehls der Kammer vom 17. Dezember 2001 seit diesem Tag in der Fachklinik Neustadt (Psychiatrisches Krankenhaus). Durch - noch nicht rechtskräftiges - Urteil der Kammer vom 02. April 2002 ist seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden. Grund dafür war ein in der Nacht zum 10. Juni 2001 begangenes Tötungsdelikt im Zustand der Schuldunfähigkeit. Der Beschuldigte ist von Herrn Prof. Dr. Sch. - Gutachter im Unterbringungsverfahren - im März, Mai und Juli sowie am 15.10.2002 erneut untersucht worden. Der Sachverständige hat dabei festgestellt, dass die psychiatrische Symptomatik verschwunden sei und eine rasche Stabilisierung beobachtet worden sei. Er hat sich für eine schrittweise Lockerung der Unterbringung und die Einleitung einer konsequenten Drogentherapie und Prophylaxe ausgesprochen.

Seitens des Landeskrankenhauses ist mitgeteilt worden, dass auch dort seit Februar 2002 akute produktiv-psychotische Symptome nicht mehr beobachtet worden seien. Der Beschuldigte verhalte sich still, zurückhaltend, sei freundlich und reagiere angemessen und realitätsgerecht. An der Beschäftigungstherapie arbeite er fleißig und ausdauernd mit. Aus ärztlicher Sicht sei es angezeigt, den Beschuldigten in die halboffene Abteilung zu verlegen, wo in Verbindung mit sozialtherapeutischer und psychotherapeutischer Intervention Vollzugslockerungen in abgestufter Form unter Aufsicht und Beobachtung durch geschultes Personal erfolgen könnten und die Belastungsfähigkeit des Beschuldigten schrittweise erprobt werden könne. Voraussetzung dafür sei allerdings striktes Alkohol- und Drogenverbot.

Aufgrund dieser ärztlichen Beobachtungen über einen längeren Zeitraum hält auch die Kammer derzeit den Vollzug des Unterbringungsbefehls für nicht mehr erforderlich. Sie hat daher in entsprechender Anwendung des § 116 StPO (zur Zulässigkeit vgl. OLG Celle, NStZ 1987 Seite 524) den Vollzug ausgesetzt und Weisungen erteilt, so dass unter Berücksichtigung des grösstmöglichen Schutzes der Allgemeinheit bessere Heilungschancen für die Erkrankung des Beschuldigten bestehen und dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit Rechnung getragen wird.

III. Anmerkung

Das Landgericht Kiel folgt damit der Auffassung, daß ein Unterbringungsbefehl nach § 126a Abs. 1 StPO außer Vollzug gesetzt werden kann. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen. Der Wortlaut des § 126a Abs. 2 StPO, der eine Reihe von (Haft-)Vorschriften für entsprechend anwendbar erklärt und § 116 StPO - Aussetzung des Vollzugs - nicht erwähnt, legt jedoch zunächst eine gegenteilige Ansicht nahe. Dennoch spricht viel dafür, mit dem OLG Celle und dem LG Hildesheim davon auszugehen, daß der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit[5], unter dem jede Form der behördlich angeordneten Freiheitsentziehung steht, auch als beherrschend für die einstweilige Unterbringung nach § 126 a StPO anzusehen ist. Danach ist ein Freiheitsentzug verboten, wenn weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne einer "kontrollierten Freiheit"[6] genügen. Angesichts des ohnehin schmalen Grats zwischen "positiver" und "negativer" Prognose[7] im Sinne von § 126a StPO werden die Fälle, in denen gleichzeitig die Voraussetzungen von § 126a und § 116 StPO vorliegen, besonders gelagert und wohl auch eher selten sein, weil in den meisten Grenzfällen, die im Ergebnis zu Gunsten des Beschuldigten zu werten sind, nicht eine Außervollzugsetzung, sondern eine Aufhebung des Unterbringungsbefehls die richtige Entscheidung sein dürfte. Systematisch ließe sich daher die Annahme einer unbewußten Regelungslücke vertreten.[8]

Für das Straf- bzw. Sicherungsverfahren eröffnet die Möglichkeit der Außervollzugsetzung eines Unterbringungsbefehls durchaus hilfreiche Perspektiven: In den Fällen, in denen sich beispielsweise eine psychische Störung medikamentös behandeln läßt, können schon vor der Hauptverhandlung die Voraussetzungen für eine Nichtanordnung der Unterbringung nach § 63 StGB, ggfs. auch in Form der Aussetzung der Unterbringung gem. § 67b StGB, auch in den Fällen vorbereitet und geschaffen werden, in denen dies aufgrund der Schwere der Tat und der auch danach orientierten Gefahrprognose[9] zunächst wenig aussichtsreich erscheint.

Da alle denkbaren Formen einer Behandlung/Heilung, wie etwa eine Medikamentierung, Therapie u.ä., eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, fragt sich, wie und ab wann auf die erhofften positiven Veränderungen, wenn sie denn eintreten, zu reagieren ist. Ab einem bestimmten Zeitpunkt kann in diesen Fällen davon ausgegangen werden, daß der "Umschlagspunkt"[10] zwischen ungünstiger und günstiger Prognose im Hinblick auf die Erwartung zukünftiger Straftaten erreicht ist.

In den Fällen, in denen bei einem untergebrachten Beschuldigten nicht ein Umschlagspunkt, sondern eine Umschlagsphase erreicht wird, kommt die Verlegung in eine offene oder halboffene Abteilung der Anstalt in Betracht. Systematisch bedeutet dies, daß eine "Gefährdung der öffentlichen Sicherheit"[11] im Sinne von § 126a StPO auch auf andere Art als durch einstweilige Unterbringung auszuschließen ist.

Mit der entsprechenden Anwendung von § 116 StPO wird auch die Möglichkeit eröffnet, Weisungen zu erteilen. Durch diese können weitere Umstände[12] geschaffen werden, die den o.g. "Umschlag" zeitlich zugunsten des Untergebrachten verschieben.

Die analoge Anwendung des § 116 StPO auf den § 126 a StPO hat danach auch Auswirkungen auf die Verteidigungsmöglichkeiten nach dem Urteil. Es kann geboten sein, in geeigneten Fällen auch in Absprache mit dem Landgericht[13], den Eintritt der Rechtskraft hinauszuzögern. Damit eröffnet sich für das mit dem Sachverhalt und insbesondere der psychischen Störung vertraute Gericht auch nach dem Urteilszeitpunkt, zu dem möglicherweise noch eine negative Prognose zu stellen war, die Möglichkeit, auf veränderte bzw. sich verändernde Umstände zu reagieren. Aufgabe der Verteidigung ist es dann, derartige positive Veränderungen zu befördern; eine Aufgabe, die sich manchmal erst nach einem Urteil oder während der laufenden Hauptverhandlung umsetzen läßt, wenn die Bereitschaft hierzu auch des Mandanten angesichts des "Erkenntnisverfahrens" wächst. Solange das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, ist der Verurteilte damit nicht auf die Fristen § 67 e StGB und die Einschätzungen einer nunmehr mit der Sache neu befaßten Strafvollstreckungskammer angewiesen.

Die Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung, die in einer Vielzahl von Sicherungsverfahren das einzige realistische Verteidigungsziel darstellt, kann damit auch nach dem erstinstanzlichen Urteil durch eine vorherige Entscheidung nach § 116 StPO (analog) noch vorbereitet werden.


[1] Beschluß vom 24.7.87 - 3 Ws 295/87, NStZ 87, 524.

[2] Beschluß vom 17.1.01 - 12 Ks 17 Js 24181/00, StV 01, 521.

[3] Vgl. auch BVerfG, NStZ 99, 570: Aus dem dort mitgeteilten Sachverhalt ergibt sich, daß sich auch das Bundesverfassungsgericht schon mit einer entsprechenden Entscheidung auseinanderzusetzen hatte, in der dortigen Entscheidung wird die hier interessierende Rechtsfrage ausdrücklich offen gelassen.

[4] Dagegen: Meyer-Goßner, StPO, § 126a, Rn. 10, KMR-Wankel, StPO, § 126a, Rn. 4; Starke, Die einstweilige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach der StPO, 1991, 129; KK-Boujong, StPO § 126a, Rn. 5; Pfeiffer/Fischer, StPO § 126a, Rn. 4; dafür: SK-Paeffgen, StPO § 126a, Rn. 8; AK-StPO-Deckers, StPO § 116 Rn. 3; Paeffgen, NStZ 89, 417, 419; Hilger, in: LR, StPO § 126a, Rn. 12.

[5] Auch wenn dieser in § 126a StPO nicht ausdrücklich genannt wird, darf er nicht vom einfachen Gesetzgeber für bestimmte Fälle außer Kraft gesetzt werden, da er einen Bestandteil des verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips darstellt, vgl. Starke, StV 88, 223 ff. unter Hinweis auf BVerfGE 23, 133; 35, 401; 38, 368.

[6] BVerfGE 19, 352.

[7] Zu den unterschiedlichen Anforderungen an die Prognose jeweils bei § 63 StGB und § 126a StPO vgl. Hilger, in LR, StPO § 126a Rdnr. 8 ff., dort auch Fn. 21.

[8] So auch Paeffgen, NStZ 89, 417, 419.

[9] Vgl. den Wortlaut des § 63 StGB: "Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat"; Volckart, Praxis der Kriminalprognose, 1997, S. 90.

[10]Vgl. dazu Volckart a.a.O. S. 40 ff.

[11] Zum Begriff in § 126a StPO vgl. nur Hilger, in: LR StPO § 126a Rdnr. 8.

[12] In geeigneten Fällen auch mit weiteren Instrumentarien, beispielsweise einer Betreuerbestellung nach dem BGB (§§ 1896 ff) unter dem Gesichtspunkt der Sorge für die Gesundheit.

[13] Da in den hier in Rede stehenden Fällen stets auch eine Unterbringung nach § 63 oder § 64 StGB drohen wird, ist von der Zuständigkeit des Landgerichts auszugehen.