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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2005
6. Jahrgang
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1. Ein in einem Krankenzimmer mittels akustischer Wohnraumüberwachung aufgezeichnetes Selbstgespräch des Angeklagten ist zu dessen Lasten zu Beweiszwecken
unverwertbar, soweit es dem durch Art. 13 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Kernbereich zuzurechnen ist. (BGHSt)
2. Jedenfalls dann, wenn die belastende Wirkung des Abspielens von Aufzeichnung nicht offensichtlich ist, der Angeklagte von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat und durch seinen Verteidiger die Tat bestreiten ließ, ist offensichtlich, dass der Angeklagte mit einer strengbeweislichen Verwertung zu seinen Lasten nicht einverstanden war. Es bedarf sodann keines ausdrücklichen Widerspruchs des Angeklagten gegen die Verwertung. (Bearbeiter)
3. Ein Krankenzimmer in einer Rehabilitationsklinik unterfällt dem Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG, wenn ihm die Funktion als Rückzugsbereich der privaten Lebensgestaltung zukommt. (Bearbeiter)
4. "Gespräche", die Angaben über eine konkret begangene Straftat enthalten (Sozialbezug), gehören ihrem Inhalt nach nicht zum unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung (BVerfGE 109, 279, 319). Auch nach § 100c Abs. 4 Satz 3 StPO sind sie dem Kernbereich grundsätzlich nicht zuzurechnen. Anderes gilt jedenfalls bei einem Selbstgespräch, das der Angeklagte nicht schriftlich niederlegt. (Bearbeiter)
5. Der Senat lässt offen, ob Selbstgespräche, die sich unmittelbar auf eine konkrete Straftat beziehen, schlechthin ("absolut", vgl. BVerfGE 109, 279, 332) unverwertbar sind. So mag etwa eine Verwertung ausschließlich zum Zwecke der Gefahrenabwehr in Betracht kommen, wenn das Selbstgespräch eines Kindesentführers Aufschluss darüber ergibt, wo das Kind gefangen gehalten wird. Auch kann es Fallgestaltungen geben, in denen das Selbstgespräch eindeutig entlastenden Inhalt hat (vgl. BVerfGE 109, 279, 369 ff.), weshalb auch der Angeklagte ein Interesse an der Verwertung haben kann. (Bearbeiter)
1. Nach Abtrennung und Anklageerhebung gegen einen von mehreren Beschuldigten, gegen die von der Staatsanwaltschaft zunächst gemeinsam in einem Tatkomplex ermittelt wird, ergibt sich in dem abgetrennten Verfahren weder eine Pflicht des Gerichts zur Aktenbeiziehung noch ein Recht des Angeklagten auf Einsicht in die Akten des Ausgangsverfahrens, solange in jenem Verfahren die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind und die Gewährung von Akteneinsicht den Untersuchungszweck nach pflichtgemäßer Beurteilung der Staatsanwaltschaft gefährden würde (im Anschluss an BGHSt 49, 317). (BGHSt)
2. Auch ein Beteiligter an der Vortat einer Geldwäsche, der gemäß § 261 Abs. 9 Satz 2 StGB wegen Geldwäsche selbst nicht strafbar ist, kann Mitglied einer Bande sein, die sich zur fortgesetzten Begehung einer Geldwäsche verbunden hat (§ 261 Abs. 4 Satz 2 StGB). (BGHSt)
3. Aus dem Umstand allein, dass ein Zeuge sich der Polizei als Hinweisgeber angeboten hat und sich hiervon Vorteile verspricht, kann nicht von vornherein auf seine Unglaubwürdigkeit geschlossen werden. (Bearbeiter)
1. Die Entscheidung über die Besetzung der Großen Strafkammer in der Hauptverhandlung (§ 76 Abs. 2 GVG) kann nicht deshalb geändert werden, weil wegen einer Änderung des Geschäftsverteilungsplans eine andere Strafkammer für den Fall zuständig geworden ist. (BGHR)
2. Wird, aus welchen Gründen auch immer, anlässlich eines Eröffnungsbeschlusses kein Beschluss gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 GVG gefasst, findet die Hauptverhandlung mit drei Berufsrichtern statt (vgl. BGHSt 44, 361, 362). Ein versehentlich ergangener Eröffnungsbeschluss ist bedeutungslos. (Bearbeiter)
3. Willkür ist nur dann Voraussetzung einer erfolgreichen Besetzungsrüge, wenn die anzuwendenden gesetzlichen Regelungen nicht ohne weiteres klar, sondern zumindest auslegungsbedürftig sind. (Bearbeiter)
1. Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot setzt (unter anderem) eine Verzögerung voraus, die durch ein (im Sinne objektiver Pflichtwidrigkeit) schuldhaftes Verhalten eines mit der Strafverfolgung befassten Justizorgans verursacht worden ist. Verursachung bedeutet, dass das Verfahren bei anderem Vorgehen des Justizorgans sicher oder zumindest wahrscheinlich zügiger verlaufen wäre. Schuldhaftes Verhalten setzt voraus, dass den Justizorganen nach nationalem Recht eine rechtliche Möglichkeit zur Verfahrensbeschleunigung eröffnet ist.
2. Es stellt keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung dar, wenn die Staatsanwaltschaft Akteneinsichtsgesuche von einem Geschädigtenanwalt und von der Verteidigung erfüllt und die Anklage insbesondere infolge einer von der Staatsanwalt nicht beendeten Verzögerung durch den Geschädigtenanwalt um ein Jahr aufgeschoben wird.
3. Ein Verfahren, in dem Haftbefehle erwirkt und die zuvor unbekannten Aufenthaltsorte der Beschuldigten ermittelt werden, bleibt nicht "schlicht unbearbeitet", sondern wird sachgerecht betrieben, auch wenn bereits Anklagereife bestanden haben sollte.
4. Auch bei der Rüge rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung setzt ordnungsgemäßer Vortrag i. S. d. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO voraus, dass sich der Beschwerdeführer auch mit Umständen befasst, die seinem Vorbringen den Boden entziehen könnten (BGHSt 40, 218, 240; BGH NStZ-RR 1999, 26, 27; vgl. auch BVerfG NJW 2005, 1999, 2001 m. w. N.).
5. Es bleibt offen, ob eine nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO unanfechtbar gewährte Akteneinsicht der revisionsgerichtlichen Prüfung dahingehend unterliegt, ob die konkrete Art und Weise der Akteneinsichtsgewährung zu einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung geführt hat.
Die Aufrechterhaltung rechtsfehlerfrei getroffener tatrichterlicher Feststellungen hinsichtlich eines Tatvorwurfs ist auch dann möglich und keine Verletzung des Art. 101 I 2 GG, wenn die aufrechterhaltenen Feststellungen Indizwirkung für die Begehung einer darüber hinaus vorgeworfenen weiteren Tat haben konnten, hinsichtlich derer eine vollständige Aufhebung der Feststellungen angezeigt ist und die mit dem ersten Tatvorwurf in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang stehen.
Eine nicht oder nicht formgerecht im Revisionsverfahren erhobene Verfahrensrüge prüft das Revisionsgericht auch auf die Anhörungsrüge im Verfahren nach § 356 a StPO nicht nach. Durch diesen außerordentlichen Rechtsbehelf werden die Frist- und Formerfordernisse der §§ 344 Abs. 2, 345 StPO nicht berührt; Verfahrensrügen können nicht auf diesem Weg unter Umgehung der Formvorschriften des § 345 Abs. 2 StPO durch einfaches Schreiben des Angeklagten nachgeschoben werden.
Dem Tatgericht, dem in der Hauptverhandlung durch die Staatsanwaltschaft neue verfahrensbezogene Ermittlungsergebnisse zugänglich gemacht werden, erwächst aus dem Gebot der Verfahrensfairness (Art. 6 MRK in Verbindung mit § 147 StPO) die Pflicht, dem Angeklagten und seinem Verteidiger durch eine entsprechende Unterrichtung Gelegenheit zu geben, sich Kenntnis von den Ergebnissen dieser Ermittlungen zu verschaffen. Der Pflicht zur Erteilung eines solchen Hinweises ist das Tatgericht auch dann nicht enthoben, wenn es die Ergebnisse der Ermittlungen selbst nicht für entscheidungserheblich hält; denn es muss den übrigen Verfahrensbeteiligten überlassen bleiben, selbst zu beurteilen, ob es sich um relevante Umstände handelt (vgl. BGH StV 2001, 4 = BGHR StPO vor § 1 faires Verfahren Hinweispflicht 5 m. w. Nachw.). Diese Hinweispflicht kann grundsätzlich auch schon für das Verfahren zwischen Eröffnungsbeschluss und Hauptverhandlung gelten.
1. Kommt es für die Beurteilung der Angemessenheit einer Strafe in besonderem Maße auf den persönlichen Eindruck von der Angeklagten an, scheidet § 354 Abs. 1 a StPO aus.
2. Nachteilige Folgen seiner Tat auf den Täter wirken sich für diesen nicht schlechthin strafmildernd aus. Wer bestimmte Nachteile für sich selbst zwar nicht gewollt, sie aber bewusst auf sich genommen hat, verdient in der Regel keine strafmildernde Berücksichtigung. Dies ist etwa bei typischen Tatfolgen wie dem Schadensersatz bei Vermögensdelikten der Fall.
1. Unterlässt der Vorsitzende eine Entscheidung über die Vereidigung, kann das Urteil auf dem Verfahrensfehler nur beruhen, wenn es bei einer ordnungsgemäßen Entscheidung zu einer Vereidigung des Zeugen gekommen wäre und wenn nicht auszuschließen wäre, dass der Zeuge in diesem Fall andere, wesentliche Angaben gemacht hätte.
2. Es kann dahinstehen, ob die Rechtsauffassung des 1. und 3. Strafsenats, wonach auch nach der Gesetzesänderung durch das Erste Justizmodernisierungsgesetz, die Entscheidung des Vorsitzenden über die Nichtvereidigung eines Zeugen als wesentliche Förmlichkeit nach § 274 StPO im Hauptverhandlungsprotokoll festzuhalten ist, zutrifft. Der Senat neigt zu der Auffassung, dass eine Entscheidung des Vorsitzenden nur dann ins Protokoll aufzunehmen ist, wenn er vom Regelfall abweichen und einen Zeugen vereidigen will.
Auch in Fällen zweifelhafter Glaubwürdigkeit des einzigen Belastungszeugen muss der Tatrichter die Entwicklung des Aussageverhaltens dann nicht unbedingt in den Urteilsgründen darstellen, wenn diese Frage zur Überzeugung des Gerichts in der Hauptverhandlung geklärt wurde. Ein sachlich-rechtlicher Erörterungsmangel liegt darin jedenfalls dann nicht, wenn sich aus dem Urteil selbst keine Lücken und keine Widersprüche ergeben.
Der Tatrichter ist zwar in der Beweiswürdigung frei, doch muss seine Überzeugung eine konkrete Wurzel in den getroffenen Feststellungen haben. Sie darf sich nicht so weit von einer festen Tatsachengrundlage entfernen, dass es sich letztlich nur noch um - wenn auch nahe liegende - Vermutung handelt.
1. Aus dem zu Beginn einer Verfolgung auf die mittäterschaftliche Begehung einer gefährlichen Körperverletzung gerichteten Tatenschluss folgt nicht ohne weiteres, dass von einem weiteren Angeklagten später mit bedingtem Tötungsvorsatz ausgeführten Gewalthandlungen, auch im (stillschweigenden) Einverständnis des Angeklagte erfolgten.
2. Um Anklage und Eröffnungsbeschluss zu erschöpfen, ist ein Teilfreispruch wegen nicht erwiesener Taten grundsätzlich auch dann erforderlich, wenn das Gericht die Konkurrenzen abweichend von der Anklage beurteilt (vgl. nur BGHR StPO § 260 Abs. 1 Teilfreispruch 12).
Spätestens mit dem zweiten Antrag auf Anordnung einer richterlichen Untersuchungshandlung in demselben Ermittlungsverfahren tritt die Zuständigkeitskonzentration gem. § 162 Abs. 1 Satz 2 StPO bei dem Amtsgericht ein, in dessen Bezirk die Staatsanwaltschaft ihren Sitz hat.