HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2022
23. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Der neue § 362 Nr. 5 StPO im System der Wiederaufnahmegründe

Von Sophie-Charlotte von Bierbrauer zu Brennstein, LL.B., M.A., Potsdam[*]

I. Einleitung

Am 30.12.2021 ist das "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit" und ein neuer § 362 Nr. 5 StPO in Kraft getreten.[1] Nach dieser neuen Vorschrift ist eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Angeklagten fortan auch zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 StGB), Völkermordes (§ 6 Abs. 1 VStGB), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 und 2 VStGB) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 VStGB) verurteilt wird. Damit reagiert der Gesetzgeber auf die als unzumutbar empfundene Situation, dass bislang außerhalb der eng umgrenzten Wiederaufnahmegründe der §§ 362, 373a StPO selbst im Falle schwerster Verbrechen und einer eindeutigen neuen Beweislage, z.B. aufgrund neuer Untersuchungsmethoden wie DNA-Analyse und digitaler Forensik, keine Möglichkeit bestand, das Verfahren zuungunsten des Angeklagten wieder aufzunehmen.[2]

Das Gesetz begegnet strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Bedenken. Auch Bundespräsident Steinmeier äußerte verfassungsrechtliche Zweifel, bevor er das Gesetz ausgefertigt hat. Er hat angeregt, das Gesetz erneut parlamentarisch zu prüfen und vom Gesetzesinitiativrecht aus Art. 76 Abs. 1 GG Gebrauch zu machen. Auf der Hand liegt neben des potenziellen Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot der Einwand, dass die Regelung gegen das Doppelbestrafungsverbot aus Art. 103 Abs. 3 GG ("ne bis in idem") verstoßen könnte.[3] Danach ist es grundsätzlich verboten, eine Tat nach einem abschließenden Sachurteil noch einmal zum Gegenstand eines Strafverfahrens zu machen. Das Doppelbestrafungsverbot gilt allerdings nicht absolut. Relevant sind neben dem von Art. 103 Abs. 3 GG bezweckten Rechtsfrieden auch die übrigen Strafverfahrenszwecke, mit denen dieser interagiert. Dazu zählt insbesondere der Grundsatz materieller Gerechtigkeit, der im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG wurzelt.

Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich die Neuregelung in die Struktur des tradierten Strafverfahrensrechts, nämlich die Ziele des Strafverfahrens und die Systematik der Wiederaufnahmegründe, einfügt. Bedenkt man, dass es sich bei § 362 Nr. 5 StPO um eine eng umgrenzte Ausnahmevorschrift handelt, wird man in ihr auch dann keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG erblicken können, wenn man Erweiterungen des Wiederaufnahmerechts mit der wohl herrschenden Meinung nur für zulässig hält, wenn sie sich als "systeminhärente Fortschreibung" darstellen.[4]

II. Strafverfahrenszwecke und die Durchbrechung der Rechtskraft

Zum einen dient das Strafverfahren der Durchsetzung des materiellen Strafrechts und damit der materiellen Gerechtigkeit, indem die gesetzlich vorgesehene, im Verhältnis zur Schuld angemessene Strafe im konkreten Fall angeordnet werden soll. Eine solche gerechte Bestrafung, die auf dem im Verfahren ermittelten ("wahren") Sachverhalt beruht, bezweckt – entsprechend den herrschenden Vereinigungstheorien – die Genugtuung des Opfers und dessen Angehörigen sowie die General- und Spezialprävention.[5]

Zum anderen soll die gerechte Bestrafung des Täters dem Rechtsfrieden der Gesellschaft dienen, der Selbstjustiz verboten und die somit auf die Durchsetzung des

Strafanspruchs durch den Staat angewiesen ist.[6] Denn eine evident unrichtige Entscheidung kann dem Rechtsfrieden nicht dienen.[7] Auf den Rechtsfrieden ist jedoch auch der formale Abschluss des Strafverfahrens und der von Art. 103 Abs. 3 GG grundsätzlich vorgesehene Strafklageverbrauch gerichtet. Denn mit der rechtskräftigen Entscheidung soll der Angeklagte grundsätzlich sicher sein können, nicht noch einmal strafrechtlich wegen der Tat verfolgt zu werden. Im Interesse des Rechtsfriedens müssen sich die soziale Umgebung der Straftat und die Öffentlichkeit grundsätzlich mit der einmal getroffenen rechtskräftigen Entscheidung abfinden. Die Frage, ob eine ungerechte rechtskräftige Entscheidung ausnahmsweise korrigiert werden kann, ist also eine Konkretisierung des Spannungsfelds zwischen den Verfahrenszielen der materiellen Gerechtigkeit und des Rechtsfriedens.

Zugelassen ist eine Rechtskraftdurchbrechung nur ausnahmsweise, nämlich im Fall der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei unverschuldeter Fristversäumung (§§ 44–47 StPO), der Aufhebung des Urteils zugunsten eines Mitangeklagten (§ 357 StPO) sowie der Urteilsaufhebung durch das Bundesverfassungsgericht bei erfolgreicher Verfassungsbeschwerde (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

Daneben besteht die hier näher interessierende Möglichkeit der Wiederaufnahme. Nur zugunsten des Angeklagten war diese bislang möglich, wenn das Urteil auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist (§ 79 Abs. 1 BVerfGG), wenn der EGMR eine Verletzung der EMRK oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht (§ 359 Nr. 6 StPO), wenn ein zivilgerichtliches Urteil, auf welches das Strafurteil gegründet ist, durch ein anderes rechtskräftig gewordenes Urteil aufgehoben ist (§ 359 Nr. 4 StPO) oder wenn Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen geeignet sind (§ 359 Nr. 5 StPO). Zugunsten wie zuungunsten des Angeklagten kann das Verfahren bei einer früheren Verfahrensmanipulation wieder aufgenommen werden (§§ 359 Nr. 1–3, 362 Nr. 1–3 StPO). Nur zuungunsten des Angeklagten war eine Wiederaufnahme bislang zulässig, wenn sich nach Erlass eines Strafbefehls neue Tatsachen oder Beweismittel ergeben, die geeignet sind, die Verurteilung wegen eines Verbrechens zu begründen (§ 373a StPO) oder wenn von dem Freigesprochenen vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis der Straftat abgelegt wird (§ 362 Nr. 4 StPO). Im Folgenden ist nun zu zeigen, wie sich § 362 Nr. 5 StPO in dieses bestehende System einfügt.

III. § 362 Nr. 5 StPO im System der Wiederaufnahmegründe

1. § 359 Nr. 5 StPO

Nur auf den ersten Blick steht § 362 Nr. 5 StPO dem Wiederaufnahmegrund in § 359 Nr. 5 StPO nah, weil auch hiernach eine Wiederaufnahme aufgrund neuer Beweismittel zugelassen ist. Anders als die nun vorgesehene Wiederaufnahme nach § 362 Nr. 5 StPO schützt diejenige aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel nach § 359 Nr. 5 StPO jedoch in erster Linie den Verurteilten, der durch die fälschliche Verurteilung in seinen Grundrechten auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und die Freiheit seiner Person verletzt ist. Die Wiederaufnahmemöglichkeit zugunsten des (fälschlich) Verurteilten folgt also, anders als die Wiederaufnahme nach § 362 Nr. 5 StPO, nicht nur aus dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit, sondern vor allem aus den verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 2 GG.[8]

2. § 362 Nr. 1–3 StPO

Eine gewisse Ähnlichkeit besteht dagegen zwischen § 362 Nr. 1–3 StPO und § 362 Nr. 5 StPO. Wesentlicher Unterschied zwischen diesen Regelungen ist jedoch, dass sich die Gründe des § 362 Nr. 1–3 StPO auf vergangene Verfahrensmängel beziehen und nicht auf neue Beweismittel und Tatsachen, weshalb sich ihnen eine unmittelbare systematische und teleologische Aussage hinsichtlich § 362 Nr. 5 StPO nicht entnehmen lässt. Zu bedenken ist aber, dass § 362 StPO insgesamt die Förderung der materiellen Gerechtigkeit bezweckt. Vor diesem Hintergrund leuchtet es nicht ein, dass zwar eine unechte oder verfälschte Urkunde (§ 362 Nr. 1 StPO) oder eine Falschaussage (§ 362 Nr. 2 StPO) zur Wiederaufnahme berechtigen sollten, bedeutendere Anhaltspunkte (wie neue Beweismittel und Tatsachen) hingegen nicht. Das gilt umso mehr, als die Bemakelung des Verfahrens und der materiellen Gerechtigkeit in den Fällen des § 362 Nr. 5 StPO wesentlich stärker ausfallen kann als in den Fällen des § 362 Nr. 1–3 StPO.[9] Auch wenn nicht verkannt werden darf, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen der Wiederaufnahme wegen vergangenen Verfahrensmängeln und neuen Tatsachen und Beweisen besteht, erscheint eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe deshalb gesetzessystematisch vertretbar.

3. § 373a StPO

Eine gewisse Parallele besteht auch zu § 373a StPO, demzufolge die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftigen Strafbefehl abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Verurteilten auch zulässig ist, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früheren Beweisen geeignet sind, die Verurteilung wegen eines Verbrechens zu begründen. Zwar tritt

die Rechtssicherheit hier in erster Linie deshalb zurück, weil das Strafbefehlsverfahren aufgrund des Fehlens der Hauptverhandlung auf einer unsicheren Tatsachengrundlage beruht und damit besonders fehleranfällig ist. Anders als im Falle eines Freispruchs nach der Hauptverhandlung kann nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass das Gericht sämtlichen Beweisen usw. nachgegangen ist.[10] Darüber hinaus belastet das Strafbefehlsverfahren den Beschuldigten in der Regel weniger als das strafrechtliche Hauptverfahren, weshalb die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Durchführung einer Hauptverhandlung ihm eher zuzumuten ist.

Gemeinsam ist § 373a StPO und § 362 Nr. 5 StPO jedoch, dass beide Regelungen dem Umstand Rechnung tragen, dass der Sachverhalt aufgrund eingeschränkter Ermittlungsmöglichkeiten (sei es, weil sie rechtlich nicht vorgesehen waren, sei es, weil diese zum Zeitpunkt des Strafverfahrens faktisch noch nicht zur Verfügung standen) nicht abschließend aufgeklärt wurde. Die dennoch nur eingeschränkte Vergleichbarkeit der beiden Konstellationen berücksichtigt das Gesetz dabei insofern, als § 373a StPO bereits neue Tatsachen und Beweismittel ausreichen lässt, die geeignet sind, die Verurteilung wegen eines Verbrechens zu begründen, während § 362 Nr. 5 StPO neue Tatsachen und Beweismittel voraussetzt, die dringende Gründe für die Verurteilung wegen einer Katalogtat bilden, also deutlich höhere Anforderungen an eine Wiederaufnahme stellt.

4. § 362 Nr. 4 StPO

Darüber hinaus besteht eine deutliche Parallele zu § 362 Nr. 4 StPO, der die Wiederaufnahme zulässt, wenn der Freigesprochene vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis der Straftat ablegt. Denn in beiden Fällen liegt die Schuld klar zu Tage – hier aufgrund des Geständnisses, im Falle des § 362 Nr. 5 StPO aufgrund neuer Beweismittel. Dann aber würde das Beharren auf der Rechtssicherheit den Rechtsfrieden erheblich stören. Ein Unterschied liegt zwar darin, dass es der Freigesprochene selbst in der Hand hat, nachträglich zu gestehen, während er neue technische Entwicklungen, die zu einer ihn belastenden Beweislage beitragen können, weder vorhersehen noch beeinflussen kann.[11] Ob dieser Unterschied von solchem Gewicht ist, dass er eine Ungleichbehandlung der beiden Konstellationen rechtfertigen würde, ist jedoch aus systematischen Gründen fraglich. Denn auch die Wiederaufnahmegründe des § 362 Nr. 1– 3 StPO verlangen nicht, dass der Freigesprochene den Wiederaufnahmegrund in eigener Person veranlasst hat.[12] Hinzukommt, dass § 362 Nr. 5 StPO gerade die Ungleichheit behebt, dass zwar ein freiwilliges Geständnis zur Wiederaufnahme führen kann, andere freiwillige Veränderungen der Beweislage durch den Freigesprochenen bislang dagegen nicht. Zudem wird der Ungerechtigkeit entgegengewirkt, dass ein reuiger, geständiger Täter nach früherer Rechtslage schlechter gestellt war, als ein solcher, der erst mittels neuer Ermittlungsmethoden überführt werden konnte.[13]

5. § 362 Nr. 5 StPO

Kritisieren werden mag an § 362 Nr. 5 StPO, dass dieser dazu führt, dass Freisprüche in den dort genannten Fällen in Zukunft stets nur unter dem Vorbehalt künftig neuer Beweise und wissenschaftlicher Neuerungen und Technologien erfolgen werden. Dies kann über die mit jedem Strafverfahren zwangsläufig einhergehenden (psychischen, sozialen und wirtschaftlichen) zu weiteren Belastungen des Freigesprochenen führen und das Vertrauen in den Rechtsstaat und die endgültige Klärung des individuellen Schicksals gefährden.[14] Hinzukommt, dass es nach der neuen Gesetzesfassung genügt, dass "neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die … dringende Gründe" für die Schuld bilden, dass am Anfang des Wiederaufnahmeverfahrens also lediglich ein Verdacht steht, sodass die Belastung nicht nur den Schuldigen, sondern auch Unschuldige treffen kann, weil der Verdacht zu Beginn des Wiederaufnahmeverfahrens fälschlich entstanden sein kann. Kommt es erst (wie nicht selten) nach langer Zeit zum Wiederaufnahmeverfahren, kann dies zudem zu einer besonders unsicheren Beweislage führen, und dem Freigesprochenen wird es häufig nicht mehr gelingen, entlastende Beweise vorzulegen, weil er diese im Vertrauen auf den Freispruch nicht konserviert hat.[15] Ganz besonders problematisch kann dies im Fall von Freisprüchen sein, die vor Erlass des (rückwirkenden) § 362 Nr. 5 StPO erfolgt sind. Flankierend ist zu bedenken, dass die Wiederaufnahmemöglichkeit, also die potentielle Vorläufigkeit, das Gewicht von Freisprüchen in Fällen der in § 362 Nr. 5 StPO genannten Straftaten erheblich relativiert, was dem Vertrauen in die Justiz – seitens des Betroffenen und seitens der Gesellschaft – abträglich sein könnte.

Gleichwohl relativiert sich diese Kritik erheblich, wenn man bedenkt, dass sich die Beweisauswertung durch die DNA-Forschung und digitale Forensik wesentlich weiterentwickelt hat, weshalb die Beweisauswertung auch Jahre nach der Tat nicht schlechter sein muss, sondern im Gegenteil nicht selten besser sein wird.[16] Auch wird der Angeklagte dadurch geschützt, dass § 362 Nr. 5 StPO nur solche neuen Tatsachen und Beweise ausreichen lässt, die einen dringenden Grund für die Verurteilung bilden, die Vorschrift also mehr verlangt als für die Eröffnung des Hauptverfahrens erforderlich ist. Reicht die indizielle Wirkung der neuen Tatsachen und Beweise noch nicht aus, um eine

solche Wahrscheinlichkeit zu begründen, findet auch keine Wiederaufnahme nach § 362 Nr. 5 StPO statt.

Dass die Einführung des § 362 Nr. 5 StPO insgesamt zu begrüßen ist, stützt sich vor allem darauf, dass sie die Wiederaufnahme ausschließlich bei allerschwersten Verbrechen, nämlich Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gegen eine Person erlaubt. Bei diesen handelt es sich um die Gesellschaft potentiell erheblich destabilisierende Straftaten, die jenseits einer "Erträglichkeitsgrenze" liegen. Aus demselben Grund, aus dem diese nicht der Verjährung unterliegen (§ 78 Abs. 2 StGB; § 5 VStGB), muss die individuelle Rechtssicherheit hinter dem Interesse der Gesellschaft an einer materiell gerechten Bestrafung zurücktreten.[17] Hier bewegt sich § 362 Nr. 5 StPO auf einer Linie mit den übrigen Wiederaufnahmegründen zuungunsten des Angeklagten. Denn auch im Fall einer Verfahrensmanipulation (§ 362 Nr. 1–3 StPO) oder eines glaubhaften Geständnisses des Freigesprochenen (§ 362 Nr. 4 StPO) ist eine "Erträglichkeitsgrenze" überschritten.[18]

Dabei handelt es sich beim Merkmal der Unerträglichkeit keinesfalls – wie vereinzelt behauptet – um eine Emotionalisierung des Rechts aufgrund eines objektiv nicht nachprüfbaren Wertekanons,[19] sondern vielmehr um eine rechtliche Unerträglichkeit, die ihren Grund darin hat, dass die frühere Entscheidung auf einer (im Fall des § 362 Nr. 5 StPO: höchst-)wahrscheinlich fehlerhaften Tatsachengrundlage beruht und deshalb das Verfahrensziel der materiellen Gerechtigkeit nicht erreichen kann.[20] Erst hierauf gründet sich der Einwand, dass die Gesellschaft und das Opfer (bzw. dessen Angehörigen) das Vertrauen in die Rechtsordnung verlieren können, wenn trotz erheblich belastender Beweismittel eine Verurteilung selbst bei den schwersten Verbrechen nicht möglich ist,[21] und dass – hieraus folgend – ein erwiesenermaßen ungerechtfertigter Freispruch den Rechtsfrieden und das Vertrauen in die Strafrechtspflege genauso beeinträchtigen kann, wie die Verurteilung eines unschuldigen Angeklagten.[22]

IV. Fazit

Es zeigt sich also, dass sich § 362 Nr. 5 StPO in das bestehende System der Wiederaufnahmegründe einfügt. Die Ergänzung ist sinnvoll, weil sie der materiellen Ungerechtigkeit entgegenwirken kann, die sich aus einem unberechtigten Freispruch vom Vorwurf schwerster Verbrechen ergeben kann. Der Rechtsfrieden des Freigesprochenen muss aus diesem Grund insoweit zurücktreten. Die Gefahr einer Ausuferung dürfte mit der Neuregelung nicht einhergehen. Denn die Beschränkung auf die schwersten Verbrechen sowie das Erfordernis dringender Gründe betont den Ausnahmecharakter der Vorschrift und bestätigt hierdurch die traditionelle Linie, nach der neue Beweise grundsätzlich keine Wiederaufnahme rechtfertigen.


[*] Die Verfasserin ist Akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht der Universität Potsdam (Professor Dr. Georg Steinberg).

[1]   BGBl. I 2021 S. 5252.

[2] Gesetzesentwurf: BT-Drucks. 19/3099, S. 1 f.

[3] Die Verfassungswidrigkeit des neuen § 362 Nr. 5 StPO vertretend Ruhs, ZRP 2021, 88, 90 f.; Brade, ZIS 2021, 362, 362 ff.; Slogsnat, ZStW 2021, 741, 772 f.; Aust/Schmidt, ZRP 2020, 251, 252 f.; Frister/Müller, ZRP 2019, 101, 102 f.; Arnemann, NJW-Spezial 2021, 440.

[4] Letzgus, NStZ 2020, 717 ff.; Jarass/Pieroth GG/Kment, 16. Aufl. 2020, Art. 103 Rn. 106; nach a. A. ist Art. 103 Abs. 3 GG bereits das Ergebnis einer abschließenden Abwägung des Verfassungsgesetzgebers und deshalb keiner Erweiterung zugänglich, vgl. Arnemann, NJW-Spezial 2021, 440; Maunz/Dürig GG/Remmert, 94. EL 2021, Art. 103 Rn. 62 f., 86; v. Mangoldt/Klein/Starck GG/Nolte/Aust, 7. Auflage 2018, Art. 103 Rn. 181, 223; Dreier GG/Schulze-Fielitz, 3. Auflage 2018, Art. 103 Rn. 35; zurückhaltend, von Münch/Saliger GG/Kunig/Saliger, 7. Auflage 2021, Art. 103 Rn. 78; BVerfGE 2, 380 in NJW 1953, 1137, 1138.

[5] MüKo StGB/Maier, 4. Auflage 2020, § 46 Rn. 46; Satzger/Schluckebier/Widmaier StPO/Beulke, 4. Auflage 2020, Einl. Rn. 5, 7 f.; Meyer-Goßner/Schmitt StPO/Schmitt, 63. Auflage 2020, Einl. Rn. 18; MüKo StPO/Kudlich, 1. Auflage 2014, Einl. Rn. 5; Karlsruher Kommentar StPO/Fischer, 8. Auflage 2019, Einl. Rn. 3.

[6] Satzger/Schluckebier/Widmaier StPO/Beulke, 4. Auflage 2020, Einl. Rn. 13; Karlsruher Kommentar StPO/Fischer, 8. Auflage 2019, Einl. Rn. 1.

[7] Zehetgruber, JR 2020, 157, 158; MüKo StPO/Kudlich, 1. Auflage 2014, Einl. Rn. 517; Karlsruher Kommentar StPO/Fischer, 8. Auflage 2019, Einl. Rn. 401; vgl. auch BT-Drucksache 18/30399, S. 9.

[8] MüKo StPO/Engländer/Zimmermann, 1. Auflage 2019, Vorb. zu § 359 Rn. 2.

[9] Zehetgruber, JR 2020, 157, 164.

[10] Aust/Schmidt, ZRP 2020, 251, 253; Ruhs, ZRP 2021, 88, 91 m. w. N.; Slogsnat, ZStW 2021, 741, 769 m. w. N.; BeckOK StPO/Singelnstein, 40. Edition 2021, § 373 Rn. 1; Karlsruher Kommentar StPO/Schmidt, 8. Auflage 2019, § 373a Rn. 4; MüKo StPO/Engländer/Zimmermann, 1. Auflage 2019, § 373a Rn. 9; BVerfGE 3, 248, 253 f..

[11] Scherzberg/Thiée, ZRP 2008, 80, 82; zusätzlich auf das Autoritätskonzept des Gerichts abstellend Slogsnat, ZStW 2021, 741, 767.

[12] Zehetgruber , JR 2020, 157, 163; MüKo StPO/Engländer/Zimmermann, 1. Auflage 2019, § 362 Rn. 9; Graf StPO/Hoffmann-Holland, 2. Auflage 2012, § 362 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt StPO/Schmitt, 63. Auflage 2020, § 362 Rn. 3; Satzger/Schluckebier/Widmaier StPO/Kaspar, 4. Auflage 2020, § 362 Rn. 5.

[13] BT-Drucksache 19/30399, S. 9; Letzgus, NStZ 2020, 717, 718.

[14] Scherzberg/Thiée, ZRP 2008, 80, 81; Ruhs, ZRP 2021, 88, 90.

[15] Scherzberg/Thiée, ZRP 2008, 80, 81; Beweisrecht der StPO/Eisenberg, 10. Auflage 2017, Rn. 433; hierin einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung und den Grundsatz der Waffengleichheit zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft sehend Slogsnat, ZStW 2021, 741, 772.

[16] A. A. Slogsnat, ZStW 2021, 741, 756 f..

[17] BT-Drucksache 19/30399, S. 9; Zehetgruber, JR 2020, 157, 166; an die Unverjährbarkeit anknüpfend auch Satzger/Schluckebier/Widmaier StPO/Kaspar, 4. Auflage 2020, § 362 Rn. 14; a. A. Slogsnat, ZStW 2021, 741, 754 f..

[18] Karlsruher Kommentar StPO/Schmidt, § 362 Rn. 1; Jarass/Pieroth GG/Kment, 16. Auflage 2020, Art. 103 Rn. 106.

[19] So aber Schiffbauer, NJW 2021, 2097; Frister/Müller, ZRP 2019, 101, 103; in diese Richtung auch Ruhs, ZRP 2021, 88, 90.

[20] Zehetgruber, JR 2020, 157, 165.

[21] BT-Drucksache 19/30399, S. 8.

[22] BT-Drucksache 19/30399, S. 10.