HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2022
23. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Ungünstige Wiederaufnahme

Eine kritische Betrachtung

Von Prof. Dr. Jochen Bung, M.A., Hamburg[*]

Um die Bedeutung der jüngsten Reform des Wiederaufnahmerechts[1] angemessen einschätzen zu können[2] , ist es ratsam, die im Interesse der Reform stehende Vorschrift des § 362 StPO möglichst aus dem Kontext des Begriffs der Wiederaufnahme herauszulösen, sie also nicht als Komplementärvorschrift zu § 359 StPO aufzufassen, sondern als Norm mit einem selbständigen Zweck, der sich aus sich selbst heraus verdeutlichen lässt und Probleme aufwirft, die schnell verdeckt werden, wenn man sich vom Begriff der Wiederaufnahme leiten lässt.[3] Das ist keine einfache gedankliche Operation, denn immerhin spricht der Wortlaut der Norm selbst von der "Wiederaufnahme[…]zuungunsten des Angeklagten" und ist die Norm – systematisch – dem vierten Buch der Strafprozessordnung zugewiesen, der einen allgemeinen Begriff der Wiederaufnahme zugrunde legt, wonach es zwei Formen dieses prozessualen Instituts gibt.

I. Irreführende Symmetrie- oder Komplementaritätsannahmen

Diese Systematik – "Wiederaufnahme zugunsten" und "Wiederaufnahme zuungunsten" – verstärkt und reproduziert ein Denkschema, das zwar intuitiv einleuchtet, aber als genereller Argumentationsleitfaden der Funktionsweise des Rechts im Rechtsstaat häufig nicht gerecht wird. Das Recht im Rechtsstaat funktioniert nicht nach dem Prinzip, dass, wer die Vorteile von etwas in Anspruch nehmen will, auch damit einhergehende Nachteile in Kauf nehmen muss. Was hier Ausdruck findet, ist ein simplistisches Verständnis vom Sozialkontrakt, prominent vorgetragen im Contrat social höchstselbst, wo Rousseau behauptet, dass diejenigen, die in die Gesellschaft eingetreten sind, die vor Mördern schützt, selber bereitwillig als Mörder sterben müssen, wenn sie zu solchen werden.[4] Dieses Argument ist dem Schema sich einander entsprechender Rechte und Pflichten verhaftet, das vom gegenseitigen Vertragsverhältnis, dem es entstammt, unverändert auf öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse übertragen wird und damit den Rechtscharakter derselben verfehlt. Ist das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zum Staat die institutionalisierte Asymmetrie, können sich in dieser Asymmetrie die Rechte und Pflichten richtigerweise nicht weiter symmetrisch zueinander verhalten. Das wird – gleichsam neo-rousseauianisch – in der strafprozessualen Diskussion jedoch immer wieder behauptet. Für Kubiciel etwa gehört "zur verfahrensförmigen Durchsetzung des der Aufrechterhaltung von Freiheit dienenden Rechts auch die Pflicht[…], sich einem Verfahren zu stellen."[5] Freiheits- und pflichtentheoretisch, so Kubiciel in Anlehnung an Pawlik[6] weiter, sei nämlich "das Strafverfahrensrecht[…]ähnlich geformt wie das zu verwirklichende materielle Recht."[7] Deswegen, so die Schlussfolgerung "lässt sich[nicht]begründen, dass die Mitwirkungspflicht mit einem Freispruch unwiederbringlich erlischt. Sie kann vielmehr dann wiederaufleben, wenn neue Tatsachen oder Beweise von besonderer Qualität dem Freispruch die tatsächliche Grundlage nehmen und eine Klärung des substanziell erneuerten Verdachts dringlich erscheinen lassen, um auf eine Straftat ggf. mit einer – bislang ausgebliebenen – normstabilisierenden Reaktion antworten zu

können"[8] . Kubiciel meint daher, dass es "[z]wingende strafprozessrechtstheoretische Gründe, die gegen eine (vorsichtige) Erweiterung der Wiederaufnahmegründe in § 362 StPO sprechen,[nicht]gibt"[9] .

Die seiner Beweisführung in Klammern hinzugefügte Anmahnung von "Vorsicht" bei der Ausweitung des § 362 StPO beruhigt mich nicht, ebenso wenig die Beschwichtigung, aus der Freiheit folgende (komplementäre) Unfreiheiten ließen sich nicht uneingeschränkt, gleichsam "ad infinitum" annehmen.[10] Das ist eine wohlfeile Geste, denn hier auf Erden und zwischen Menschen gibt es nichts ad infinitum. Die beschwichtigenden Klauseln bleiben der vorgetragenen Strafprozessrechtstheorie äußerlich, sie ändern nichts an den Grundaussagen, die ich für zweifelhaft und irreführend halte, nämlich die Engführung von materiellem Recht und Prozessrecht sowie die Symmetrisierung von Recht und Pflicht. Rechte und Pflichten treten – wie Hegel bemerkt hat[11] – im verfassten Zustand auseinander[12] und es kommt zu jenen spezifisch rechtsstaatlichen Garantien, die in der allgemeinen Öffentlichkeit häufig als unverdiente Begünstigung von Normbrechern missverstanden werden. Natürlich geht es beim Verhältnis zwischen Staat und Bürgern um Rechte und Pflichten, aber es kommt in diesem Verhältnis, wenn der Staat ein Rechtsstaat ist, vor allem auf die Rechte an. Und zwar nicht aus dem Blickwinkel einer womöglich individuell unverdienten Gratifikation, sondern aus dem allgemeinen Gesichtspunkt, dass diejenigen, die ihre natürliche Macht an den Staat abgegeben haben, dies vernünftigerweise nur dann tun, wenn sich diese Macht wirksame Bindungen auferlegt. Dass die Existenz dieser Bindungen – äußerlich betrachtet – dazu führt, dass einige Individuen bessergestellt werden, als sie es verdienen, ist klar, verhält sich aber zur Vernünftigkeit der Selbstbindung staatlichen Handels normativ gewissermaßen kontingent.

II. Zweifelhafte Relativierung des Absoluten

Recht ist im Ursprung eine auf Symmetrie, Synallagma, Ausgleich und Äquivalenz angelegte Normenordnung. Das gilt wesentlich in vertraglichen Beziehungen, die nichts anderes als die ursprüngliche Form des Rechts darstellen, sie verlängert sich aber ins öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnis hinein. Insbesondere ist dem Strafrecht ein unveräußerlicher Aspekt der Vergeltung eingeschrieben, wonach der Täter bekommen soll, was er verdient (vgl. § 46 Abs. 1 StGB). Da aber der Sinn staatlicher Strafe gerade nicht Rache ist, sondern sich staatliche Strafe gerade als Durchbrechung des ewigen Kreislaufs der Rache entwickelt[13] , muss insbesondere der strafende Staat, dem zur erfolgreichen Wahrnehmung dieser Aufgabe die eingriffstiefsten Befugnisse eingeräumt sind, sich zugleich die allergrößten Bindungen auferlegen. Deswegen sind die Garantieversprechen, die überhaupt den Charakter des rechtsstaatlichen Rechts ausmachen, im Strafrecht von besonderer Bedeutung. Und daher ist es ganz richtig, dass allgemeine Rechtsgarantien wie Gesetzlichkeit und Vertrauensschutz nicht einfach nur genauso im Strafrecht gelten, sondern dort eine Geltungssteigerung und -bekräftigung erfahren. Diese Garantien, die als grundrechtsgleiche Rechte oder Justizgrundrechte wesentlicher Bestandteil der Verfassung sind – im Fall der genannten Beispiele in Gestalt von Art. 103 Abs. 2 GG (nulla poena sine lege) und Art. 103 Abs. 3 GG (ne bis in idem) kommen nicht von ungefähr, sondern sind geronnene Abwägungen, die bestimmte Spannungsverhältnisse, die sich in modernen Verfassungen aus der Grundspannung zwischen kollektiven und individuellen Interessen ergeben, zu einer Auflösung gebracht haben, die sich der weiteren Abwägung entzieht.

Unter Umgehung der Annahme, Art. 103 Abs. 3 GG stelle eine abschließende Abwägung dar[14], argumentiert Hoven, die Einbeziehung des Mehrfachverfolgungsverbots in das Doppelbestrafungsverbot sei eine petitio principii[15] und sei "weder durch den Wortlaut noch durch die ratio der Verfassungsnorm ohne weiteres gedeckt"[16] , weswegen weitere, "komplexere"[17] Abwägungen erforderlich seien.[18] Das Wortlautargument überzeugt nicht, weil Wortlaut rechtsmethodisch nicht Wortlaut, sondern Grenze des möglichen Wortsinns heißt und diese Grenzen offen sind. Das gilt generell, aber ganz besonders im Verfassungsrecht, wo "dem Gesetzestext[..]nur selten begrenzende Funktion zu[kommt]"[19] . Aber auch systematisch (Vergleich mit Art. 103 Abs. 2 GG), historisch (Beratungen im Parlamentarischen Rat) und teleologisch (gesteigerte Garantiefunktion des Rechts im Strafrecht) sprechen die besseren Gründe für eine inklusive Lesart der Verfassungsgarantie des Art. 103 Abs. 3 GG.[20] Der von Hoven richtig erkannte zirkuläre Charakter dieser Lesart ist Ausdruck dessen, dass das Doppelbestrafungsverbot das Verbot der Mehrfachverfolgung notwendig einschließt, wie es auch

der BGH vortragen hat.[21] Während Hoven sich dafür ausspricht, "das Verbot der Mehrfachverfolgung nicht in Art. 103 Abs. 3 GG zu verorten, sondern als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips anzuerkennen"[22], um eben jene "komplexeren" Abwägungen zu ermöglichen, die ne bis in idem aushebeln, ist mit besseren Gründen an der Inklusivität und Absolutheit der Verfassungsgarantie des Art. 103 Abs. 3 GG festzuhalten.[23]

Methodisch ist es ein Kinderspiel, auch Abwägungsergebnisse wieder abzuwägen, nichts sperrt sich in ihnen selbst gegen eine solche Relativierung. Aber Abwägungen – so sehr sie auch charakteristisch sind für das Recht insgesamt (nicht nur für das öffentliche Recht) – machen den vollständigen Begriff des Rechts nicht aus, das Recht braucht – um Recht zu sein – bestimmte Ausprägungen des Absoluten, in denen sich die Reflexion widerspiegelt, dass das Absolute wirklich absolut und "nicht nur Attribut[ist]"[24] .

III. "Grenzkorrekturen", technische Entwicklungen und menschliche Empörungen

In der Diskussion zur Reform des § 362 StPO wird immer wieder eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1981 zitiert, wonach Art. 103 Abs. 3 GG Grenzkorrekturen nicht entgegenstehe.[25] Es liegt nahe, dass affirmative Stellungnahmen zur Reform sich auf die Argumentationslinie begeben, bei der Ausdehnung des § 362 StPO handele es sich um eine solche zulässige Grenzkorrektur[26] oder taste – wenn man sich nicht auf diesen Begriff festlegen möchte[27] – jedenfalls nicht den Kern der Garantie des Art. 103 Abs. 3 GG an.[28] Nun ist der Begriff der Grenzkorrektur, wie jener der Grenze selbst (wie oben bereits beim Thema der Wortlautgrenze erörtert) mit Unschärfen behaftet. Deswegen eröffnen sich im Anschluss an solche Begriffe – unvermeidbar – jene unabsehbaren Argumentationsspielräume, in denen verschiedene, auch gänzlich einander widersprechende Auffassungen möglich sind, die immer wieder auf interessante und aufschlussreiche Weise belegen, dass die Jurisprudenz keine formale Wissenschaft, sondern eine rhetorische Disziplin ist.[29] Mir scheint, dass man in der Beurteilung der Annahme, bei der Reform des § 362 StPO handele es sich um eine bloße Grenzkorrektur oder sei jedenfalls keine Verletzung des Kerns einer Verfassungsgarantie, ein materielles und ein formelles Verständnis auseinanderhalten muss. Eine materielle Betrachtung kann sich darauf verlegen zu sagen, die Durchbrechung des Verbots der Mehrfachverfolgung durch neue Tatsachen und Beweise nach Maßgabe von § 362 Nr. 5 StPO n.F. betreffe lediglich einige wenige besondere Fälle, in denen es um allerschwerstes Unrecht, nämlich Mord oder bestimmte Delikte nach dem Völkerstrafrecht geht.[30] Allerdings können nicht nur materielle und quantitative, sondern müssen – vor allem – formelle und qualitative Kriterien darüber entscheiden, was eine bloße Grenzkorrektur und was eine Verletzung des Kerns einer Verfassungsnorm ist. Dass der reformierte § 362 StPO die Möglichkeit der Durchbrechung des Doppelbestrafungsverbots durch neue Tatsachen und Beweise eröffnet, ist unabhängig davon, welche Normen und wie viele Fälle von ihr betroffen sind (und auch unabhängig von den epistemischen Anforderungen an die fraglichen Beweise und Tatsachen), ein qualitativer Sprung und er betrifft die formelle Dimension der Rechtsgarantie des Art. 103 Abs. 3 GG evident und elementar.[31]

Die rechtsstaatliche Grammatik des Rechts ist nicht nur durch vermeintliche Grenzkorrekturen bedroht, die Hauptbedrohungen gehen aus von Effektivitätserwägungen, Empörungen und technischen Entwicklungen. Bei der Reform des § 362 StPO spielen in besonderer Weise

technische Entwicklungen und Empörungen eine Rolle. Dabei betrifft die technische Entwicklung kriminalistische Methoden wie molekulargenetische Untersuchungen (DNA-Analysen), die es in unserer Zeit möglich gemacht haben, dass unaufgeklärte Kriminalfälle auch noch nach Jahrzehnten aufgeklärt werden können, dass sie jedenfalls einen hinreichend konkretisierten Verdacht auf eine einzelne Person als mögliche oder mutmaßliche Täterin ergeben. Aus dem Hinweis auf veränderte technische Möglichkeiten folgt aber noch überhaupt nichts für eine Änderung des Gesetzes, vielmehr scheint die Forderung, dass technische Entwicklungen die Entwicklung des Rechts bestimmen, wie der Musterfall eines naturalistischen Fehlschlusses.[32]

Menschliche Empörung war ein erheblicher Faktor beim Vorantreiben der Reform des § 362 StPO, die, worauf Hoven hinweist, "maßgeblich durch den Fall Möhlmann motiviert[wurde]"[33] , was auch von ihr, die die Reform grundsätzlich begrüßt und die auch die produktive Rolle der Medien zur Strafrechtsentwicklung anerkennt, als "einzelfallorientierte Gesetzgebung" und als "nicht unproblematisch" kritisiert wird.[34] Die Empörungsproblematik der Gesetzesreform betrifft aber nicht nur ihre konkrete Genese, sondern das strukturelle Empörungspotenzial, das Begriffen wie "Mord" und "Völkermord" innewohnt. Mord ist das strafrechtliche Empörungssymbol par excellence. Man denke nur an seinen Einsatz im Kontext der sog. Raser-Fälle, um das Potential der Erregung zu erfassen, das mit ihm aktiviert und mit dem die Rechtsrationalität schnell unterlaufen werden kann. Man muss daran erinnern, dass es Tötungen gibt, die zwar einem Mordmerkmal des § 211 Abs. 2 StGB subsumiert werden können, aber das teleologische Kriterium des Mordes, besonders verwerfliche Tötungen zu sein, nicht erfüllen. Ein rationales Strafrecht – zugegebenermaßen ein schwieriger, aber nicht unmöglicher Begriff – sollte den Begriff des Mordes aufgeben, es handelt sich um ein archaisches Zeichen, ein Stigma, nicht zufälligerweise vom NS-Unrechtssystem in einer Weise hochstilisiert, die uns noch heute zu schaffen macht und deren Reform bedauerlicherweise wieder in den Hintergrund geraten ist. Stattdessen wird mit der Reform des § 362 StPO die weitere Stilisierung des Mordes betrieben, wird der unterschwellige Exorzismus (der Glaube, die Beschwörung möge uns vom Bösen erlösen) vertieft.

IV. Fazit

Technische Entwicklungen und menschliche Empörungen sind selbstverständlich nichts, das man ignorieren oder über das man sich mit elitärer Geste erheben sollte[35], Strafrecht ist nicht nur etwas für Expertinnen und Eingeweihte, sondern in besonderer Weise (anders als etwa Versicherungsrecht) gesellschaftlich, öffentlich und demokratisch und unterliegt deswegen notwendig auch spezifischen Stimmungen und Schwankungen und kann schwerlich auf Dauer gestellt werden.[36] Völlig außer Frage steht, dass die Opfer von Straftaten unsere besondere Solidarität verdienen. Aber das Rechtsversprechen des Rechtsstaats ist die Garantiefunktion des Rechts, das ist keine Rechtsmetaphysik[37] , sondern die Bedingung der Legitimität des Gewaltmonopols. Das macht die spezifische und komplizierte (oder zumindest häufig kontraintuitive) Grammatik des rechtsstaatlichen Strafrechts aus, seine Zerbrechlichkeit. Das Beispiel der Reform des § 362 StPO – von der man hoffen muss, dass sie keinen Bestand haben wird – zeigt anschaulich, wie das rechtsstaatliche Strafrecht unter Druck geraten kann, durch technische Entwicklungen, menschliche Empörungen, vermeintliche Grenzkorrekturen, zweifelhafte Relativierungen und (latent) repressive Freiheitsverständnisse. Deswegen ist es wichtig, dass gerade diese aktuelle Diskussion (gerne auch unter stärkerer Einbeziehung der Frage der Verfassungskonformität von § 362 StPO insgesamt) weitergeführt wird.


[*] Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für Rechtsphilosophie und Strafrecht der Universität Hamburg.

[1] Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung – Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 StPO und zur Änderung der zivilrechtlichen Verjährung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit) vom 21. Dezember 2021 (BGBl. I 2021, S. 5252 f.), am 29. Dezember 2021 im Bundesgesetzblatt verkündet und einen Tag später in Kraft getreten. Das Gesetz geht zurück auf einen Entwurf, den die Fraktionen der CDU/CSU und SPD am 9. Juni 2021 in den Bundestag eingebracht haben, BT-Drs. 19/30399, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung – Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 StPO (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit); zur jüngeren Vorgeschichte der Gesetzesreform Hoven JZ 2021, 1154, 1155 mit Hinweisen zur Diskussion. Diese Diskussion hat sich mittlerweile derart ausgedehnt, dass ich um Nachsicht dafür bitte, dass ich in dieser kurzen Stellungnahme sehr selektiv auf Literatur zugreife.

[2] In der Diskussion um die Reform des § 362 StPO gibt es Kritik und "Kritik der Kritik" (Hoven JZ 2021, 1154). Die hier vorgetragene Kritik wäre dann – jedenfalls zum Teil – als Kritik der Kritik der Kritik zu verstehen, ich belasse es aber bei dem einfachen Begriff.

[3] Für einen solchen Zugang Bayer/Bung, GA 168 (2021), 586 ff.

[4] Rousseau, Du contrat social/ Vom Gesellschaftsvertrag[1762], 2010, S. 74/75 (2. Buch, Kap. 5).

[5] Kubiciel GA 168 (2021), 382, 384. Daraus wird auch ganz unmittelbar auf eine Pflicht des Angeklagten zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung geschlossen. Zur Dekonstruktion einer solchen Anwesenheitspflicht demnächst grundlegend Romund, Strafprozess und Dekonstruktion (Diss. Hamburg).

[6] Systematisch ist diese Freiheits- und Pflichtentheorie entwickelt in Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012.

[7] Kubiciel GA 168 (2021), 380, 384 f.

[8] Kubiciel GA 168 (2021), 380, 385.

[9] Kubiciel GA 168 (2021), 380, 385.

[10] Kubiciel GA 168 (2021), 380, 385.

[11] Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts[1820], Werke Bd. 7, 14. Aufl. 2015, S. 408 (§ 261).

[12] S. dazu auch Bung, Philosophie der Selbstbelastungsfreiheit, FS Schlothauer, 2018, S. 29, 31.

[13] Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts[1820], Werke Bd. 7, 14. Aufl. 2015., S. 196 ff. (§§ 102, 103).

[14] S. dazu Brade ZIS 2021, 362, 363 ("einseitige und unbedingte Vorrangentscheidung") unter Verweis auf BVerfGE 56, 22, 31 f. und mit weiteren Nachweisen. Für Abwägungsunzugänglichkeit des Art. 103 Abs. 3 GG mit dem Argument, Art. 103 Abs. 3 GG sei bereits das Ergebnis einer Abwägung, auch Eichhorn KriPoZ 2021, 357, 358 f. m.w.N; s. auch die Stellungnahme von Aust in der Sachverständigenanhörung zum Gesetzentwurf, einsehbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/848324/5a2861c8f1e0d981b47c129ab27170c5/stellungnahme-aust-data.pdf, (S. 4 m.w.N.) sowie die Stellungnahme von Conen für den DAV: https://www.bundestag.de/resource/blob/848592/64681eb33676f05e69226708321d1bc7/stellungnahme-conen_dav-data.pdf (S. 8).

[15] Hoven JZ 2021, 1154, 1156.

[16] Hoven JZ 2021, 1154, 1156 f.

[17] Hoven JZ 2021, 1154, 1156.

[18] Hoven stützt sich in ihrer Argumentation wesentlich auf Letzgus NStZ 2020, 717 ff., dagegen krit. Brade ZIS 2021 ff. sowie Eichhorn KriPoZ 2021, 357, 360: die enge Auslegung greife zu kurz und verkenne das Normtelos. Schließt man den Schutz vor erneuter Strafverfolgung aus Art. 103 Abs. 3 GG aus, verbleiben der Norm "kaum relevante Anwendungsbereiche", wie Gärditz in seiner – affirmativen – Stellungnahme zum Gesetzentwurf hervorhebt, s. https://www.bundestag.de/resource/blob/848600/9936b15d9f8bb01892ff71409db0b46b/stellungnahme-gaerditz-data.pdf (S. 2 m.w.N.).

[19] Brade ZIS 2021, 362.

[20] Vgl. dazu Eichhorn KriPoZ 2021, 357, 358 ff., s. auch Brade ZIS 2021, 362.

[21] BGH NJW 1954, 609, 610; dazu krit. Hoven JZ 2021, 1154, 1156: die Ausführungen beruhten "auf einer falschen Prämisse".

[22] Hoven JZ 2021, 1154, 1157.

[23] So dezidiert auch Eichhorn KriPoZ 2021, 357, 358. Das bedeutet nicht, dass diese Garantie nicht relativierbar ist, aber eben nicht durch einfaches Gesetz, Eichhorn KriPoZ 2021, 357, 359, zu den Anforderungen an eine Verfassungsänderung Brade ZIS 2021, 362, 264. Gegen Erforderlichkeit einer Verfassungsänderung und gegen Absolutheit hingegen Eisele in der Sachverständigenanhörung zum Gesetzesentwurf, Stellungnahme einsehbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/848326/7b398e9ecb912c0345208dd82c3fd5ba/stellungnahme-eisele-data.pdf (S. 1 ff.). Eiseles Hinweis auf "bereits bestehende Durchbrechungen, gegen die praktisch kaum der Einwand der Verfassungswidrigkeit erhoben wird" (S. 2) überzeugt nicht, weil die bereits vor der Reform bestehenden Konstellationen des § 362 StPO als einfachrechtliche Bestimmungen nichts in Bezug auf Verfassungsrecht besagen, auch der Hinweis auf die Spezialvorschrift des § 373a StPO für das Strafbefehlsverfahren (S. 3) greift nicht durch. Dagegen will Gärditz in seiner Stellungnahme das Strafprozessrecht als "immanente Schranke" des Art. 103 Abs. 3 GG plausibel machen, https://www.bundestag.de/resource/blob/848600/9936b15d9f8bb01892ff71409db0b46b/stellungnahme-gaerditz-data.pdf (S. 5) womit sich alles auf die Frage der Verhältnismäßigkeit reduzieren lässt.

[24] Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive Logik[1812/1813], 1978, S. 373.

[25] BVerfGE 56, 22, 34 f, dazu Kubiciel GA 168 (2021), 380, 385 ff.

[26] Krit. bereits im Hinblick auf einen früheren Entwurf der Länder Nordrhein-Westfalen und Hamburg (BR-Drs. 655/07 und BT-Drs. 16/7957) Pabst ZIS 2010, 126, 128.

[27] In BT-Drs. 19/30399, S. 9 wird behauptet, BVerfGE 56, 22, 34 könne "nicht so gedeutet werden[…], dass dem Gesetzgeber nur Grenzkorrekturen möglich seien." Kubiciel GA, 168 (2021), 380, 388, begründet dies aus einem erweiterten Begriff des Randes ohne Umschweife wie folgt: "Da Änderungen an den Rändern nie den inneren Kern berühren, besteht zwischen einer (jedenfalls erlaubten) Grenzkorrektur und einem verbotenen Zugriff auf den Kern des Art. 103 Abs. 3 GG ein zusätzlicher, durchaus substanzieller Spielraum für eine Änderung des § 362 StPO."

[28] BT-Drs. 19/30399, S. 9.

[29] Vgl. dazu Hoven JZ 2021, 1154, 1157 mit dem zutreffenden Hinweis, der Begriff der Grenzkorrektur habe "kaum restriktives Potential"; vgl. auch Kubiciel GA 168 (2021), 380, 388.

[30] In diesem Sinne schon die Begründung des früheren Entwurfs, BR-Drs. 655/07, S. 6 wonach neben dem Aspekt technischer Neuerungen auch das "Ausmaß des Unrechts" zu berücksichtigen ist. Ebenso auch BT-Drs. 19/30399, S. 9 f. S. auch Kubiciel GA 168 (2021), 380, 390. Zu Unstimmigkeiten im Katalog der erfassten Tatbestände Hoven JZ 2021, 1154, 1161.

[31] Zutr. Eichhorn KriPoZ 2021, 2021, 357, 360 f.; s. auch Brade ZIS 2021, 362, 363 sowie bereits Pabst ZIS 2010, 126, 128 mit dem Argument, die Assimilierung von § 359 StPO und § 362 StPO über die Einbeziehung neuer Tatsachen und Beweise in § 362 StPO sei "keine Grenzkorrektur mehr, wie sie das Bundesverfassungsgericht zugelassen hat." Aust spricht anschaulich von einer "Operation am offenen Herzen von "ne bis in idem"", https://www.bundestag.de/resource/blob/848324/5a2861c8f1e0d981b47c129ab27170c5/stellungnahme-aust-data.pdf, S. 3 u.

[32] Gegen Begründung aus dem Gesichtspunkt der Entwicklung kriminalistischer Technik überzeugend Pabst ZIS 2010, 126, 128 f. Insgesamt kritisch zum Verhältnis von Recht und Technik in der Wiederaufnahmediskussion Bayer RuP 57 (2021), 231 ff.

[33] Hoven JZ 2021, 1154, 1159.

[34] Hoven JZ 2021, 1154, 1159.

[35] Gegen elitäre Strafrechtstheorie Bung, Strafgesetzgebung und Strafgerechtigkeit im materiellen Strafrecht, in: Zabel (Hg.), Strafrechtspolitik. Über den Zusammenhang von Strafgesetzgebung, Strafrechtswissenschaft und Strafgerechtigkeit, 2018, S. 181-194.

[36] Dieser Zusammenhang gehört wesentlich zur Soziologie des Strafrechts, maßgeblich herausgearbeitet von É mile Durkheim , s. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode[1895], 9. Aufl. 2019, insbes. S. 157 ff.

[37] Für eine "metaphysische Ableitung" des Rechts Naucke Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2000, S. 384 ff.; den Begriff der "nachmetaphysischen Strafrechtswissenschaft" verwendet Kubiciel GA 168 (2021), 380.