HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2008
9. Jahrgang
PDF-Download

Schrifttum

Dieter Dölling/Gunnar Duttge/Dieter Rössner (Hrsg.): Gesamtes Strafrecht - Handkommentar. StGB; StPO; Nebengesetze, 1. Aufl., Nomos, Baden-Baden 2008, ISBN 978-3-832-92340-2, 3290 S., 118,00 EUR.

I. Vorliegend anzuzeigen ist der dritte Kommentar aus dem Hause Nomos, der sich (in diesem Fall muss man ergänzen: zumindest zum überwiegenden Teil) dem StGB widmet: Neben dem (mittlerweile in gebundener Form vorliegenden, vgl. dazu die Besprechung bei Kudlich HRRS 2006, 74 ff.) klassischen "Nomos-Kommentar" und dem LPK von Kindhäuser ist nunmehr auch der Kommentar zum "Gesamten Strafrecht" erschienen, in welchem unter der Herausgeberschaft von Dölling, Duttge und Rössner insgesamt 47 Autoren (sowie zusätzlich eine Reihe weiterer Mitautoren, die in der offiziellen Liste nicht genannt sind, aber als Co-Bearbeiter aufgeführt

werden) das StGB, die StPO, das GVG sowie eine Reihe von Nebengesetzen in einem Band kommentieren.

Die große Autorenzahl ist - das ist wenig überraschend, soll aber auch nicht verhehlt werden - mit Blick auf die Einheitlichkeit der Kommentierung (und zwar weniger hinsichtlich der inhaltlichen Abstimmung als vielmehr mit Blick auf Kommentierungsstil und -niveau) nicht unproblematisch, aber in gewissen Grenzen unvermeidbar. Anders als historisch gewachsene Werke, die bereits einen von einer Person nur im Ausnahmefall zu erbringenden zeitlichen Einsatz allein für die Aktualisierung benötigen, ist ein neues Verfassen eines solchen Kommentars ab einem bestimmten Umfang für einen oder zwei Autoren praktisch wohl überhaupt nicht mehr vorstellbar. Dies gilt erst recht, wenn so heterogene Materien behandelt werden wie im vorliegenden Kommentar zum "Gesamten Strafrecht". Im vorliegenden Band freilich ist die Zahl der Bearbeiter gemessen an Umfang bzw. Ausführlichkeit der Kommentierung dann vielleicht doch bemerkenswert groß geraten, was zu einer gewissen Zersplitterung sowie dazu geführt hat, dass einzelne Autoren nur extrem kleine Pakete bearbeiten. Der Bearbeiterstab erstreckt sich hier von profilierten Hochschullehrern bis zu Praktikern oder wissenschaftlichen Mitarbeitern, die bislang wissenschaftlich jedenfalls noch wenig in Erscheinung getreten sind. Auch das Niveau der Kommentierung ist heterogen (womit freilich nicht gesagt sein soll, dass die "bislang weniger bekannten" Kommentatoren ihre Teile stets weniger gut bearbeitet hätten!). Menge und Auswahl der Verfasser legen damit den Verdacht zumindest nahe, dass es während der Konzeption bzw. Entstehungsphase des Kommentars zum einen oder anderen "Ausfall" gekommen ist, der aus dem vorhandenen Stab nicht ohne weiteres kompensiert werden konnte, so dass der Bearbeiterkreis teilweise etwas unorganisch ausgedehnt werden musste.

II.  Dezidiert nicht in den Mittelpunkt dieser Besprechung gestellt werden sollte eigentlich die Frage, "wozu?" es noch einen zusätzlichen Strafrechtskommentar denn "geben müsse". Ob für ein neues Werk - egal ob Lehrbuch oder Kommentar - ein Bedarf besteht bzw. dieser bestehende Bedürfnisse besser erfüllen kann, wird der Markt in der Zukunft zeigen. Gleichwohl: Üblicherweise wird ein so umfangreiches Projekt angegangen, weil man besondere Ansprüche an sich selbst stellt und meint, die traditionelle Informationsverarbeitung besser bewerkstelligen zu können als die bisher erschienenen Konkurrenzwerke, oder aber man hat ein gänzlich neues Konzept vor Augen. Den ersten Fall tatsächlich prognostizieren zu können ist schwierig (und ihn gegebenenfalls auch zu nennen, wäre sehr mutig); nicht zufällig steht beim vorliegenden Projekt daher der zweite Grund im Mittelpunkt: Die neue Konzeption eines Kommentars zum "Gesamten Strafrecht", wie sie auch im Vorwort von Herausgebern und Verlag maßgeblich betont wird.

Die gemeinsame Bearbeitung der beiden zentralen Gesetze (sowie noch einiger weiterer nebenstrafrechtlicher Auszüge) ist gewiss eine Neuerung, und der Nomos Verlag kann sich insoweit bereits auf das gelungene Pilotwerk eines gemeinsamen Kommentars zur VwVfG und VwGO stützen. Ungeachtet der Tatsache, dass es selbstverständlich zwischen materiellem und prozessualem Recht auch im Strafrecht diverse Verknüpfungen und damit in den Kommentierungen erforderliche Querverweise gibt, ist jedoch der Nutzen einer gemeinsamen Kommentierung nicht so offensichtlich wie im Verwaltungsrecht, in dem zentrale Begrifflichkeiten ja nicht zuletzt mit Blick auf den gerichtlichen Rechtsschutz definiert werden. Vergleicht man ferner den vorliegenden Kommentar mit den in der Praxis verbreiteten "Referenzwerken" aus dem Beck Verlag (Fischer und Meyer-Goßner), so wird deutlich, dass beide zusammen (bei einer einmal geschätzten ungefähr gleichen Textmenge pro Seite) doch deutlich umfangreicher sind (insgesamt ca. 4614 S. (ohne Anhänge) gegenüber ca. 3175 S. reiner Text, d.h. im Einzelnen ca. 2545 S. Text gegenüber 1750 S. für das StGB und 1764 S. gegenüber ca. 1420 S. für StPO und GVG). Bei diesem Unterschied wird man auch gemessen am reinen Umfang den insgesamt höheren Preis für beide Kommentare zusammen (146,00 EUR) gegenüber den 118,00 EUR für den Dölling/Duttge/Rössner gut rechtfertigen können. Vergleicht man den Kommentar dagegen mit einer "Kombination" aus Lackner/Kühl und Pfeiffer (was von der Seitenzahl her stimmig ist, allerdings dürften hier die Beck Kommentare weniger Text auf den einzelnen Seiten haben), ist das neue Gesamtwerk mit 118,00 EUR gegenüber 109,00 EUR sogar etwas teurer. Auch eine größere Homogenität der Darstellung, wie sie zumindest mittelbar im Vorwort angedeutet wird ("Kommentierung des materiellen Strafrechts und des Prozessrechts aus einer Hand") kann bei den o.g. 47 Autoren kaum angenommen werden.

III.  Als echte Neuerung und zusätzliches Plus könnte dementsprechend nur noch die Einbeziehung nebenstrafrechtlicher Vorschriften ins Gewicht fallen. Indes fällt auch hier die Bilanz unterschiedlich aus. Teilweise bringt die "Kommentierung" der Vorschriften über ihre bloße Nennung hinaus nicht wesentlich mehr als in den Vergleichswerken an der entsprechenden Stelle und in diesem Kontext ohnehin auch geschrieben wird: So ist das Züchtigungsrecht mit seinen durch die mehrfache Neufassung des § 1631 BGB verbundenen Problemen in der "Kommentierung zu § 1631 BGB" durch Duttge (Vor §§ 32 - 35 Rn. 23 und 24) keinesfalls ausführlicher behandelt als bei Fischer (dort § 223 Rn. 16 - 19). Das soll erst einmal keine Bewertung der Qualität oder Sinnhaftigkeit sein - möglicherweise sind für den Rechtsanwender für den ersten Zugriff die Ausführungen Duttges ganz hinreichend; es wird nur deutlich, dass das bloße Ausflaggen als "eigenständige Kommentierung in der Kommentierung" nicht notwendig zu einer Vertiefung führen muss.

Auch die Auswahl der Vorschriften wirkt mitunter etwas willkürlich: So ist die doch nur für wenige Nutzer relevante Vorschrift der Depotunterschlagung (§ 34 DepotG) - wenngleich knapp - mitkommentiert, nicht jedoch die extrem praxisrelevante Vorschrift des § 370 AO. Diese etwas willkürlichen Auswahlvorgänge lassen sich auch nicht generell (wie im soeben genannten Beispiel) durch das Vorliegen oder Fehlen von "Sachzusammenhängen" begründen; gemessen daran, hätten im Zusammenhang mit den §§ 283 ff. StGB gewiss auch die Insolvenzverfahrensverschleppungsdelikte (und sei es auch nur exemplarisch an der besonders wichtigen Vorschrift des§ 84 Abs. 1

Nr. 2[i.V.m. § 64 Abs. 1] GmbHG) erörtert werden können. Auch hier gilt wieder: Man darf diese Kritik nicht überbewerten, da die Willkür bei der Auswahl wohl zum Teil unvermeidbar ist; es wird aber deutlich, dass kaum eine repräsentative Auswahl des mitbehandelten Nebenstrafrechts gefunden werden konnte.

Freilich soll hier auch nicht mit Positivbeispielen gegeizt werden: Für den Strafverteidiger in der praktischen Anwendung ist es sicher hilfreich, wenn Quarch in seiner Kommentierung zu § 315c auch die Vorschrift des § 21 StVG (Fahren ohne Fahrerlaubnis) einschließlich der Problematik der Fahrerlaubnis aus einem anderen EU-Mitgliedsstaat ("Führerscheintourismus") behandelt (wobei freilich die Entscheidung des EuGH vom 26.06.2008 nicht mehr berücksichtigt werden konnte). Auch die Behandlung des § 105 JGG durch Verrel im Rahmen des § 19 StGB bringt unter Berücksichtigung der gebotenen Kürze viel und für den Rechtsanwender einen instruktiven ersten Zugriff. Grenzen der Sinnhaftigkeit einer solchen "internen Kommentierungstechnik" zeigt dagegen die Behandlung des § 109 JGG, der an drei unterschiedlichen Stellen "kommentiert" wird.

IV. Im Übrigen, d.h. hinsichtlich einer Bewertung der einzelnen Kommentierungen, ist es durchaus schwer, ja wahrscheinlich sogar unmöglich, allen Bearbeitern angesichts ihrer Heterogenität und der Vielzahl der von ihnen behandelten Themen gerecht zu werden. Greift man einmal willkürlich drei zentrale Bereiche aus dem Straf- und Strafprozessrecht heraus, so sind die akribischen, mit dem von ihm gewohnten Fleiß in den Nachweisen verfassten Kommentierungen von Duttge in diversen zentralen Bereichen des StGB (so bei Vorsatz und Fahrlässigkeit, bei den Notrechten, im gesamten Bereich von Diebstahl, Raub und Erpressung sowie im Betrug u.a.) nicht nur eine zuverlässige Quelle des Meinungsstandes, sondern zeigen in der Fülle von Kommentierungen zu Kernbereichen des Strafgesetzbuches auch die breite Ausrichtung des Verfassers. Die Systematisierung des Rechts der Beweisverwertungsverbote, welche Jäger im Rahmen der Kommentierung der §§ 133 ff. StPO (vielfach im Anschluss an seine Habilitationsschrift) unternimmt, bietet ebenfalls nicht nur einen soliden Überblick, sondern auch ein beachtliches Maß an wissenschaftlicher Systematisierung (welche es als etwas schade erscheinen lässt, dass dieser Autor nicht noch mehr Vorschriften, gerade auch in seiner Paradedisziplin, dem materiellen Strafrecht, übernommen hat).

Dagegen sind z.B. diverse Kommentierungen des Versuchs doch relativ apodiktisch geraten, so wenn etwa in § 22 Rn. 12 am Ende nur pauschal darauf hingewiesen wird, dass im Rahmen des Tatentschlusses beim Versuch hinsichtlich der Irrtümer die gleichen Grundsätze gelten würden wie beim vollendeten Delikt (was in dieser Form nicht einmal ganz zutreffend ist, da es für den Tatentschluss z.B. keine Rolle spielt, ob bei einem error in persona vel objecto tatbestandliche Gleichwertigkeit zwischen dem vorgestellten und dem anvisierten Objekt vorliegt); auch die Ausführungen zum abergläubischen Versuch (§ 23 Rn. 9) oder aber zur Abgrenzung zwischen untauglichem Versuch und Wahndelikt (§ 23 Rn. 10) bleiben doch mehr oder weniger deutlich hinter dem zurück, was etwa Fischer (dort § 23 Rn. 9 bzw. § 22 Rn. 51 - 54) zu diesem Thema liefert; dies mag man für den eher seltenen Fall des abergläubischen Versuches ohne weiteres hinnehmen - die Abgrenzung zwischen strafbaren Versuchen und straflosen Wahndelikten spielt dagegen eine durchaus große Rolle, und gerade wenn ein Kommentar sich zum Ziel setzt, auch das Nebenstrafrecht mit einzubeziehen, hätte auf diese dort besonders wichtige Materie näher eingegangen werden können.

Auch im Übrigen ist die Kommentierung - naturgemäß - nicht vor "Geburtsfehlern" gefeit: So nennt etwa Jäger in seiner (im Übrigen empfehlenswerten, vgl. oben) Kommentierung der Beweisverwertungsverbote (Vor §§ 133 ff. Rn. 6) als Beispiele für gesetzlich explizit angeordnete Beweisverwertungsverbote die §§ 100b Abs. 5, 6 und 98b Abs. 3 S. 3 StPO, welche in der seit 01.01.2008 geltenden Fassung der StPO in dieser Form gerade nicht mehr gelten (und nunmehr im Wesentlichen im § 477 Abs. 2 StPO aufgegangen sind).

Das gerade in der jüngeren Vergangenheit kontrovers diskutierte Problem der Rügeverkümmerung nach Protokollberichtigung scheint vollständig zu fehlen, jedenfalls findet sich kein Nachweis dazu unter Stichworten wie "Rügeverkümmerung", "Berichtigung", "Protokollberichtigung" (wo nur auf § 168a StPO verwiesen wird) oder "Beweiskraft". Auch in der nur eine (!) Randnummer zählenden Kommentierung zu § 274 StPO und in derjenigen zu § 271 StPO ist das Problem nicht erwähnt. Sollte es gleichwohl irgendwo im Kommentar stehen und vom Rezensenten nur - was er bedauern würde - übersehen worden sein, würde das an der Kritik nicht viel ändern - denn wo, außer an den genannten Stellen bzw. unter den erwähnten Stichworten sollte man als Benutzer des Kommentars danach suchen?

V. Die vorhergehenden Ausführungen machen deutlich, dass das Fazit zum neuen Kommentar zum "Gesamten Strafrecht" gemischt ausfällt: Die inhaltlich von ihm ausgehenden neuen Impulse halten sich doch in Grenzen und das Konzept einer "integrierten Kommentierung" erscheint bisherigen Kommentaren nur bedingt überlegen. Andererseits sollte man auch nicht ungerecht sein: Vieles von dem, was hier bemängelt wurde, sind schlicht "Geburtsfehler", die bei einem neuen Werk immer auftreten können und die in Folgeauflagen ohne weiteres behebbar sind. Dass sich die Literaturauswertung vielfach auf einzelne Entscheidungen sowie auf Konkurrenzwerke beschränkt, mag dem Umfang und den Interessen des raschen Nutzers geschuldet sein. Und eine gewisse Praktikabilität einer Zusammenfassung diverser Materien in einem einzigen Band wird man insbesondere für denjenigen Benutzer, der wenig Spezialliteratur zur Verfügung hat, kaum leugnen können. Möglicherweise entwickelt sich der Kommentar daher irgendwann zu einem Geheimtipp für solche Juristen, die nur ab und zu und nebenbei mit dem Strafrecht zu tun haben oder aber auch für Studenten. Gerade mit Blick auf die damit angesprochene universitäre Ausbildung muss man Verlag und Herausgebern bescheinigen, dass ein guter Zeitpunkt für die Markteinführung eines neuen Kommentars gewählt worden ist, quellen doch an vielen Hochschulen, an denen Studienbeiträge eingeführt worden sind, die für Literaturmitteln zur Verfügung stehenden Konten mittlerweile über, so dass mit einer raschen Anschaffung

einer stattlichen Zahl von Kommentaren jedenfalls an diesen Institutionen zu rechnen ist. Möglicherweise kann dieser Startvorteil genutzt werden, um zu einer mehr oder weniger beachtlichen neuen Adresse auf dem umkämpften Markt der (straf-)prozessrechtlichen Literatur zu werden. Für einen "echten Angriff" auf die arrivierten Konkurrenzwerke muss jedoch m.E. mehr geboten werden.

Prof. Dr. Hans Kudlich, Universität Erlangen/Nürnberg

***