HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2008
9. Jahrgang
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Schrifttum

Christoph E. Hauschka (Hrsg.), Corporate Compliance - Handbuch der Haftungsvermeidung im Unternehmen, 820 Seiten, ISBN978-3-406-54708-9, 139 €, C.H. Beck, München 2007.

Das von Hauschka herausgegebene Buch "Corporate Compliance" behandelt die rechtlichen Verhaltensanforderungen an Unternehmen und ihre Leitungspersonen[1]. Der Begriff "Compliance" stammt ursprünglich aus dem Bereich der Medizin und verweist dort auf die Bedeutung eines angemessenen Patientenverhaltens für den Erfolg einer medizinisch indizierten Therapie[2]. Später wurde der Begriff erst in der anglo-amerikanischen Bankenwelt und dann allgemein im Wirtschaftsleben für die Einhaltung von Verhaltensregeln, Gesetzen und Richtlinien verwendet[3].

Bereits der Titel des Werks "Corporate Compliance" lässt damit erahnen, dass selbst rund achthundert Druckseiten nur einen ersten Einblick in die vielfältige Thematik geben können. Entsprechend dankbar ist der Leser für die - je nach Autor - mehr oder weniger umfassenden Literaturnachweise zu Beginn der jeweiligen Einzeldarstellungen, mit deren Hilfe einzelnen Spezialfragen durchaus vertieft nachgegangen werden kann.

Das Werk führt in drei Abschnitten vom Allgemeinen ins Besondere: Es beginnt mit allgemeinen und rechtsvergleichenden Darstellungen der Corporate Compliance[4], stärker theoretischen Erläuterungen zum Informationsmanagement[5] sowie zu den Aufgaben der Unternehmensleitung[6] und allgemeinen Ausführungen zur Compliance-Organisation[7]. Im Anschluss daran werden das Verhältnis der Compliance-Organisation zur Rechtsabteilung und zur Internen Revision[8], das Verhältnis von Compliance und betriebswirtschaftlichem Controlling[9], die Bedeutung von Compliance in den grundsätzlichen Unternehmensbereichen wie Einkauf, Produktion oder Vertrieb[10] erörtert und abschließend verschiedene Compliance-Beispiele aus einzelnen Industriezweigen[11] vorgestellt. Die Abschnittsüberschriften "Allgemeine Unternehmensorganisation", "Bereichs- und aufgabenspezifische Unternehmensorganisation" sowie "Branchenspezifische Unternehmensorganisation" bringen den Inhalt der einzelnen Abschnitte freilich nur ansatzweise zum Ausdruck und erschließen sich dem Leser nicht intuitiv, sondern erst im Lauf der Lektüre des Buches. Das ist misslich, weil die Verfasser dem Leser offensichtlich nicht zwingend die vollständige Lektüre des Buches abverlangen wollen. Nahezu alle achtunddreißig Paragraphen sind dafür aus sich heraus verständlich, wofür die Autoren freilich auch etliche Redundanzen in Kauf nehmen[12].

Dem Leser, nach Verlagsvorstellung vor allem "Vorstände, Geschäftsführer, Unternehmensjuristen und Rechtsanwälte, die sich mit Corporate Compliance beschäftigen", wird eindrucksvoll vor Augen geführt, dass die zweckmäßige Einrichtung und Gestaltung einer Compliance Organisation in einem Unternehmen von einer

Vielzahl von Faktoren abhängig ist: Eine gesetzliche Pflicht ergibt sich vor allem für Aktiengesellschaften aus § 91 AktG; für Banken, Finanzdienstleister und einzelne Branchen folgt eine sektorale Pflicht zur Einrichtung einer solchen Organisation aus verschiedenen Einzelgesetzen[13] oder sie ist Element einer allgemeinen Standards entsprechenden Betriebsorganisation[14]. Wo eine solche Pflicht nicht besteht, kann die Einrichtung einer Compliance-Organisation aus betrieblichen Gründen sinnvoll sein, um möglicherweise existenzgefährdende Haftungsrisiken zu minimieren und dadurch auch den Unternehmenswert zu steigern[15] oder um bei sich schnell ändernden gesetzlichen Rahmenbedingungen Geschäftschancen früh zu erkennen[16]. Der Manager und Unternehmensjurist findet verstreut über die einzelnen Paragraphen eine Vielzahl von Anregungen, in welchem Umfang eine Compliance-Organisation sinnvoll sein kann, wie er eine solche Organisation aufbaut und wie er diese in die bestehende Unternehmensorganisation integriert und Synergieeffekte generiert[17]. Der Strafrechtler erkennt, was von den in einem Unternehmen tätigen Personen positiv rechtlich erwartet erwartet wird und wo der Bereich strafrechtlich relevanten Verhaltens beginnt.

Jenseits dieses rein praktischen Ertrags spiegelt das Buch aber auch den Stand der aktuellen Diskussion der Corporate Compliance in Deutschland wider: Das Thema ist bislang weder von der Rechtswissenschaft noch von der Betriebswirtschaftslehre hinreichend theoretisch durchdrungen[18]. Versuche, für das betriebliche Controlling entwickelte Ansätze auf Fragen der Corporate Compliance zu übertragen, helfen nur für den Moment[19]. Im Grunde sind sie ebenso schief wie juristische Ansätze, die das Unternehmen als solches - und nicht den konkreten Mitarbeiter - zum Adressaten einer rechtlichen Steuerung machen[20]. Forschungen der modernen Organisationspsychologie bleiben bis dato noch generell unberücksichtigt. Gerade hier kann man aber Erkenntnisse darüber finden, in welchem Ausmaß etwa eine betriebliche Organisation ein psychologisches Faktum darstellt, auf das der Einzelne reagiert, auf welche psychologischen Grenzen eine formale Organisation stößt und inwieweit eine formale Organisation notwendiger Weise durch eine informale Organisation ergänzt werden muss[21]. Auch wenn es im Grunde selbstverständlich ist, dass Rechtsnormen auch beim Handeln in Unternehmen beachtet werden müssen[22], so sind auf juristischer Ebene bislang noch keine (straf)rechtlichen Grundsätze ausgearbeitet, in welchem Maß Bemühungen um rechtskonformes Verhalten der Mitarbeiter in Form von Compliance Programmen konkret und konsequent zugunsten eines entsprechend organisierten Unternehmens berücksichtigt werden müssen. Die Konzentration der Diskussion auf die persönliche Haftung des unmittelbaren Führungskerns eines Unternehmens führt überdies zu Defiziten an konkreten Handlungsanweisungen für Manager jenseits des unmittelbaren Unternehmenskerns.

Den Mangel an einer notwendig fächerübergreifenden Grundlagendiskussion kann dieses Buch nicht beseitigen und die notwendigen Erkenntnisse werden auch nicht etwa - zum Beispiel durch die konsequente Übernahme australischer Erkenntnisse[23] - aus dem Ausland importiert. Gemessen an dem Anspruch der Autoren, einen breiten Überblick über die Pflichten für eine ordnungsgemäße Unternehmensführung geben zu wollen,[24] kann dies freilich keine durchgreifende Kritik sein.

Insgesamt ist den Verfassern nahezu durchweg sowohl eine wohltuende Sachlichkeit als auch eine kritische Distanz zum Thema zu bescheinigen: Die Ausführungen von Epe/Liese zu den gesellschaftsrechtlichen Pflichten der Unternehmensführung sind vorbildlich. Die Gelatine-Urteile sowie die Entscheidungen in den Fällen Holzmüller oder ARAG/Garmenbeck wird danach auch der juristisch nicht voll ausgebildete Manager einzuordnen wissen. Die Ausführungen zur Geschäftschancenlehre von Sieg/Zeidler werden hoffentlich auch in der strafrechtlichen Diskussion zum Untreuetatbestand stärker aufgegriffen[25]. Die rechtsvergleichenden Ansätze von Hauschka und die fächerübergreifende Problemdiskussion bei Pampel/Krolak/Glage könnten zukünftig in wissenschaftlichen Arbeiten weiter vertieft werden. Noch mehr konkrete Checklisten für Manager, Ausführungen zum Kartellrecht im Rahmen der allgemeinen Pflichten[26], eine Berücksichtigung des Gesundheitswesen oder der Lebensmittelin-

dustrie bei der Besprechung der branchenspezifischen Compliance, noch präzisere Querverweise innerhalb des Buches und eine Überprüfung der genauen Reihung der einzelnen Ausführungen[27] sind Wünsche, die man an eine Folgeauflage stellen könnte.

Wiss. Ass. Dr. Marco Mansdörfer, Univ. Freiburg


[1] Hauschka, § 1 Einführung, Rn. 2.

[2] Siehe stellvertretend Weber/Gundert-Remy/Schrey, Patienten-Compliance, 1. Aufl., Baden-Baden, 1977.

[3] Zur frühen Verwendung des Begriffs Compliance im Bankwesen Eisele, in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, München, 3. Aufl., 2007, § 109 Rn. 5.

[4] § 1 Einführung (Hauschka).

[5] § 2 Wissenszurechnung und Informationsmanagment (Buck-Heeb).

[6] § 3 Business Judgment Rule (Sieg/Zeidler); § 4 Geschäftschancenlehre und Interessenkonflikt (Sieg/Zeidler); § 6 Strafrechtliche und Zivilrechtliche Aufsichtspflicht (Pelz/Steffek); § 7 Delegation und Organpflichten (Schmidt-Husson); § 10 Unternehmensführung und Gesellschaftsrecht (Epe/Lise); § 11 Börsennotierte Aktiengesellschaften und Anlegerschutz (Klöpper).

[7] § 8 Unternehmensinterne Selbstkontrolle durch Compliance-Beauftragte (Bürkle); § 9 Compliance-Organisation (Lampert); (Stephan/Seidel); § 12 Versicherungslösungen (Pant); § 13 Compliance - EDV-Lösungen in der Praxis (Schlagheke).

[8] § 14 Rechtsabteilung (Hauschka); § 16 Revision (Obermayr).

[9] § 5 Unternehmensrisiken und Risikomanagement (Pampel/Glage); § 15 Zentrale Unternehmenssteuerung und Controlling (Pampel/Krolak).

[10] § 17 Compliance-Organisation in den Bereichen Marketing und Sales (Lothert); § 18 Compliance in der Einkaufsorganisation (Herb); § 24 Korruptionsbekämpfung (Greeve); § 19 Personalorganisation und Arbeitsrecht (Pelz/Steffek); § 20 Forschung und Entwicklung (Kesper); § 21 Qualität und Produktentwicklung (Veltins); § 22 Entwicklung, Konstruktion, Fabrikation und Qualitätskontrollsysteme (Veltins); § 23 Instruktion, Produktbeobachtung, Produktrückruf (Veltins); § 25 Compliance-Managementsysteme für Unternehmensrisiken im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts; § 26 Besonderheiten des M&A-Geschäfts (Klöpper); § 27 Datenschutz (Neundorf); § 28 Umweltschutz (Meyer); § 29 Unternehmenskrise und Insolvenz (Pelz); § 30 Presse- und Öffentlichkeitsarbeit (Jahn).

[11] § 31 Compliance-Organisation in der Banken- und Wertpapierdienstleistungsbranche (Gebauer); § 32 Compliance-Organisation in der Versicherungswirtschaft (Preusche); § 33 Compliance in der pharmazeutischen Industrie (Leipold); § 34 Compliance in der chemischen Industrie (Drohmann); § 35 Kreislauf- und Abfallwirtschaft (Oexle); § 36 Illegale Beschäftigung am Bau (Greeve); § 37 e-Business und Internet (Weber/Dittrich); § 38 Haftungsvermeidung im Transportgewerbe (Wojtek/Ettrich).

[12] Als zusammengehöriger Block sind vor allem §§ 3, 4 zur Business Judgment Rule und Geschäftschancenlehre von Sieg/Zeidler sowie §§ 21-23 zur produktbezogenen Compliance von Veltins konzipiert.

[13] Zum Beispiel §§ 25a KWG einschließlich der Rundschreiben und Erläuterungen zu den bankrechtlichen Normen seitens der BaFin, § 33 WpHG, §§ 5 ff. BImSchG

[14] Etwa EMAS, ISO 14001.

[15] So weisen etwa Pampel/Klage, § 5 Unternehmensrisiken und Risikomanagement, Rn. 30 auf den Einfluss eines erfolgreichen Risikomanagements auf den Unternehmenswert durch die Senkung der notwendigen risikoadjustierten Kapitalverzinsung hin. Der Leser vermisst an dieser Stelle freilich Hinweise auf die Diskussion einer über die Corporate Compliance hinausgehende Corporate Integrity.

[16] Dazu mit Beispielen aus dem Abfallrecht Oexle, § 35 Kreislauf- und Abfallwirtschaft, Rn. 54.

[17] Hilfreich sind insoweit vor allem die §§ 9, 15, 18, 27 sowie die branchenspezifischen Hinweise in §§ 31-38.

[18] Eine Ausnahme sind die Ausführungen in § 2 Wissenszurechnung und Informationsmanagement von Buck-Heeb, denen freilich die compliance-typischen Aspekte etwas abgehen.

[19] So insbesondere in § 5 Unternehmensrisiken und Risikomanagement (Pampel/Klage) und § 15 Zentrale Unternehmenssteuerung durch Controlling (Pampel/Krolak).

[20] Es erscheint auch zweifelhaft, Compliance als "Emanzipation von individueller Rechtstreue hin zu einer organisierten, dokumentierten und sanktionierten Architektur der Rechtseinhaltung" (so aber Klindt NJW 2007, 2460[2460]) verstehen zu wollen. Die Ansprüche der Verfasser des Werkes selbst sind in dieser Hinsicht bescheidener (vgl. etwa Lampert, § 9 Compliance-Organisation, Rn. 3).

[21] Weiterführend ist insoweit etwa das Standardwerk von Gebert/Rosenstiel, Organisationspsychologie, 5. Aufl., Stuttgart, 2002.

[22] Siehe dazu auch Hauschka, § 1 Einführung, Rn. 2.

[23] Im internationalen Vergleich sieht Hauschka, § 1 Einführung, Rn. 21 ff. insbesondere das australische Recht mit dem Australian Standard on Compliance Programs (AS 3806-1998), der Regeln zur Corporate Compliance eng mit solchen zur Unternehmenskultur verknüpft, als führend an.

[24] So die zum Buch gehörige Programminformation des Verlags C.H. Beck

[25] Im strafrechtlichen Schrifttum hat hier bislang vor allem Rose wistra 2005, 281 (286) darauf hingewiesen, dass das unternehmerische Handeln von Geschäftsführern in einem mehrseitig begrenzten "Risikokorridor" verläuft.

[26] Ebenso das Monitum in der Besprechung von Klindt NJW 2007, 2460 (2460).

[27] Siehe etwa die Gruppierung oben in Fn. 4-12.

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Carsten Momsen : Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten(Neue Schriften zum Strafrecht, Bd. 1), Nomos Verlag, 565 S., geb., 109,00 EUR, Baden-Baden 2006.

Der Zumutbarkeitsbegriff, so stellte Wilhelm Weber vor fast einem halben Jahrhundert fest, sei einer jener Begriffe, die ohne feste Vorstellung nach Gutdünken verwendet würden. Daß "einem als solchen inhalts-, zumindest aber wertungsfreien Regulativ" die "Tendenz der Instrumentalisierung des Rechts zu beliebigen Zwecken" innewohne, räumt auch Carsten Momsen in seiner voluminösen Göttinger Habilitationsschrift ein (28). Dennoch hält er das Unzumutbarkeitskriterium für strafrechtstheoretisch unverzichtbar. Als strafrechtliches "Metaprinzip" (502) stelle es sicher, "daß es in Notstandssituationen nicht zu einem bereits unbefolgbaren Normbefehl kommt, welcher wie ein Bumerang auf die Norm zurückfällt und diese letztendlich selbst in Frage stellt" (78).

Zur Begründung und Erläuterung dieser Deutung greift Momsen auf eine stark individualistisch geprägte Theorie von Aufgabe und Legitimationsbedingungen des Strafrechts zurück. Nach seinem Verständnis ist Strafrecht "nur dann und soweit legitim, wie es prinzipiell die Freiheit des einzelnen, die individuellen Rechts- und Interessensphären zu schützen geeignet ist" (168). Zur konstruktiven Umsetzung dieses Gedankens greift Momsen auf eine Begründungsfigur zurück, die die politische Philosophie der Neuzeit geprägt hat wie keine zweite: "Das Prinzip, die Staatsgewalt über ihre Bestimmung und Eignung zur Sicherung individueller Freiheitssphären zu legitimieren, wird am nachdrücklichsten durch den staatstheoretischen Entwurf des Gesellschaftsvertrags umgesetzt" (168). Mit dem Bekenntnis zum Gesellschaftsvertragsmodell allein ist es allerdings nicht getan. Gesellschaftsvertraglich begründete Theorien können höchst unterschiedlich ausfallen: Hobbes, Locke und Rousseau bzw. - aus der neueren Literatur - Rawls und Buchanan sind allesamt Vertragsdenker. Für die inhaltliche Ausgestaltung einer Vertragstheorie kommt es deshalb namentlich darauf an, mit welchen Informationen und mit welcher motivationalen Struktur deren Schöpfer die Vertragschließenden ausstattet. Momsen entscheidet sich für eine radikal instrumentalistische Modellierung seiner Protagonisten. Für sie zählt ihr individueller Nutzen, nichts weiter. Frei von irgendwelchen sittlichen Erwägungen sind sie "in einem ganz pragmatischen Sinne auf den eigenen Vorteil gerichtet" (483).

Die Selbstverständlichkeit, mit der Momsen diese für den Fortgang seiner Argumentation entscheidende Weichenstellung vollzieht, verblüfft. Kann einem Autor, der sich Wolfgang Kersting zu einem seiner Hauptgewährsleute erkoren hat, die Kritik Kerstings am Klugheitsdenken entgangen sein? Wie Kersting zeigt, haben Nützlichkeitsargumente zwar eine legitime Rolle als Motivationsverstärker. Hingegen versagen sie vor der Aufgabe der Begründung moralischer oder rechtlicher Verbindlichkeit; diese kann ohne semantische Gewaltakte nicht auf die Selektionswirkung von Interessenvergleich und aufgeklärten Präferenzen reduziert werden. Wenn Momsen seinen instrumentalistischen Begriff von Vernünftigkeit gar noch "im Sinne des Kant'schen kategorischen Imperativs" verstanden wissen will (483), trübt sich das Bild vollends ein, beruht Kants praktische Philosophie doch auf einer an Deutlichkeit nicht zu überbietenden Absage an jegliche Glückseligkeits- und Nützlichkeitslehren.

Mit Momsens Bekenntnis zur Perspektive eines ausschließlich an seinem eigenen Nutzen interessierten Individuums ist der weitere Gedankengang der Arbeit vorgezeichnet. Das Strafrecht muß danach so ausgestaltet sein, daß ein Bürger "jederzeit seine im Urzustand gedachte Freiheit aufgeben würde, um zu größerem eigenen Nutzen Sicherheit zu erlangen". Der Nutzen in Gestalt eines Zugewinns an Daseinssicherheit muß mit anderen Worten die Freiheitseinbußen durch die strafrechtlichen Rechtspflichten überwiegen. Wie Momsen zeigt, beinhaltet dieses Modell potentiell gegenläufige Konsequenzen. Einerseits erkennt es die Erhaltung und fortbestehende Unversehrtheit der Rechts- und Interessensphären der einzelnen Bürger als den primären Staatszweck an. Diese Haltung findet ihren Ausdruck in der sozialen und rechtlichen Fundamentalnorm des neminem laedere: Fremde Rechtskreise sind zu respektieren (287). Andererseits ist nach Maßgabe des Nützlichkeitsparadigmas die Übernahme einer Verpflichtung zur Selbstaufgabe evident unvernünftig. Deshalb muß dem Täter Momsen zufolge "im Wege des Vertragstheorems unterstellt werden, daß er keine selbstzerstörerische Regelung treffen wollte" (384). Die Voraussetzung für die Unterschrift unter den Gesellschaftsvertrag sei, bildlich gesprochen, "die garantierte Befugnis zur Aufrechterhaltung der eigenen individuellen Existenz" (78).

Der Konflikt zwischen diesen beiden Ausprägungen des Modells instrumenteller Rationalität bricht auf, "wenn gerade die Vertragspflicht des Bürgers, eine Primärpflicht zu befolgen (die wiederum Ausdruck der staatlichen Schutzpflicht gegenüber einem anderen Bürger ist), zur Verletzung des eigenen essentiellen Vertragsinteresses führt" (188), wenn also die Pflichterfüllung den eigenen Untergang des Pflichtigen nach sich zieht. Greift der Pflichtige zur Abwendung dieses Loses in ein existentielles Interesse seines Kontrahenten ein, so begeht er, wie Momsen ausdrücklich hervorhebt, diesem gegenüber Unrecht und darf per Notwehr abgewehrt werden (196). Im Verhältnis des Täters zur Allgemeinheit hingegen fehle die Grundlage dafür, ein entsprechendes Verlangen zwangsweise durchsetzen zu dürfen. Da die Legitimität sämtlicher staatlicher Zwangsakte und damit auch der Strafe unter der Bedingung stehe, daß sie den Täter nicht zur Aufgabe der eigenen Existenz nötigten (186, 536), scheide eine Bestrafung des Täters aus. Eben dies bringe

in strafrechtstheoretischer Hinsicht der Begriff der Unzumutbarkeit zum Ausdruck. Dieser Begriff habe seinen Platz auf der Ebene der Schuld (536) und stehe für die "konkretisierende Selbstkontrolle des Strafrechts im Hinblick auf den inhaltlichen Vertragszweck: Die Gewährleistung der individuellen Selbsterhaltung" (513). Unzumutbar und daher schuldlos sei ein Verhalten folglich dann, "wenn es die Aufgabe des Selbsterhaltungsrechts voraussetzt oder mit dieser Folge zwingend verbunden ist" (359). Dieser Sachverhalt werde im geltenden Strafrecht umfassend und abschließend in § 35 StGB geregelt (537).

Die Konzeption Momsens ist erheblichen Bedenken ausgesetzt. So ist sie nicht dazu imstande, das Vorverhalten des Notstandstäters angemessen zu erfassen. Nach § 35 Abs. 1 S. 2 HS 1 StGB entfällt die Entschuldigungswirkung des Notstands, wenn der Täter die Gefahr selbst verursacht hat. Wie Momsen (318) ausführt, bringt diese Regelung die Ansicht des Gesetzgebers zum Ausdruck, daß es grundsätzlich zumutbar ist, eine existentielle Selbstgefährdung nicht schuldhaft herbeizuführen. Schuldhaft in diesem Sinne handelt der Täter im Verständnis Momsens, wenn sein Verhalten wegen dessen nicht ausreichend abgeschirmter Nähe zu einer fremden Rechts- und Interessensphäre eine objektive sowie subjektiv intendierte "Drittgefährdungstendenz" aufweise (324). Diese für sich genommen durchaus diskutable Deutung ist jedoch unvereinbar mit Momsens Grundthese, "daß der Gesellschaftsvertrag von vornherein keine Verpflichtung zur Selbstaufgabe statuieren kann, wenn er als Vertrag zum Schutz der Individualexistenz wirksam sein soll" (309). Was ist denn der Ausschluß des entschuldigenden Notstands im Fall selbstverursachter Gefahren anderes als die Statuierung einer strafbewehrten Verpflichtung zur Selbstaufgabe? Momsen versucht, diesem Einwand durch die Beteuerung zu begegnen, seiner Konzeption zufolge bilde die Notstandshandlung "nur den Anlaß, nie aber den Anknüpfungspunkt des strafrechtlichen Vorwurfs" (362). Diese Behauptung ist aber unhaltbar: Die Tathandlung eines Totschlags verwirkliche ich erst dadurch, daß ich meinen Konkurrenten von der rettenden Planke stoße und nicht schon dadurch, daß ich mein Schiff unzureichend mit Rettungsbooten ausstatte. Wie man es auch dreht und wendet, kein Weg führt daran vorbei, daß die Binnenlogik des Selbsterhaltungsdenkens eine Belastung durch früheres Verhalten kategorisch ausschließt. Es kann danach nur auf die aktuelle Bedrohungssituation ankommen, nicht auf deren Vorgeschichte. Die von Momsen konzipierten Selbsterhaltungsapologeten gehen in der Gegenwart auf; von transtemporal wirksamen Verpflichtungen sind sie nicht erreichbar.

Dies führt zu einem zweiten, noch gewichtigeren Kritikpunkt. Momsen selbst führt aus, daß in einer Situation, in der die Erfüllung der Pflicht zur Nichtschädigung anderer Personen existenzvernichtende Folgen hätte, "die Bindungswirkung des Gesellschaftsvertrags" aufgehoben sei (188). Das ist gut hobbesianisch gedacht: Der Zweck des Gehorsams ist Schutz. "Wenn der Leistung des einzelnen Bürgers keine Gegenleistung des Staates folgt, wird es für den einzelnen sinnlos, an der betreffenden Regelung des Gesellschaftsvertrags festzuhalten. Denn diese bringt ihm nur Nachteile" (369). Wie kann Momsen dann aber das Verhalten des Notstandstäters noch als Unrecht qualifizieren? Wenn dieser angesichts seiner existentiellen Grenzsituation vom Gesellschaftsvertrag nicht mehr erreicht werden kann, entfällt nicht nur die Basis des Schuldvorwurfs, sondern auch jene des ebenfalls gesellschaftsvertraglich begründeten Unrechtsurteils. Konsequent ist dann allein Fichtes Annahme eines rechtsfreien Raums - eine Lösung, die Momsen allerdings ausdrücklich ablehnt (205).

Momsens Konzeption ist mithin in mehrfacher Hinsicht unschlüssig. Der Grund dieser Mängel besteht darin, daß der Autor nicht dazu bereit ist, das von ihm propagierte gesellschaftsvertraglich-instrumentalistische Begründungsmodell konsequent durchzuführen. Dieses Zögern ist mit Blick auf die ansonsten drohenden Ergebnisse verständlich. Es führt aber dazu, daß Momsens Deduktionen insgesamt beliebig werden. Eine überzeugende Lösung des Zumutbarkeitsproblems bietet Momsens Buch deshalb nicht.

Prof. Dr. Michael Pawlik (LL.M Cantab.), Univ. Regensburg

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