HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2007
8. Jahrgang
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Schrifttum


Grischa Detlefsen: Grenzen der Freiheit - Bedingungen des Handelns - Perspektiven des Schuldprinzips. Konsequenzen neurowissenschaftlicher Forschung für das Strafrecht. Duncker & Humblot, Berlin 2006, 398 S., 79,80 €.

1. Auch wenn das Schuldstrafrecht heute als wesentliche Errungenschaft moderner (Rechts-)Staatlichkeit gilt, so sind doch dessen Grundlagen, nicht zuletzt dessen freiheitstheoretische Unterfütterung, keineswegs unumstritten. Neuen Nährstoff hat die Grundlagendiskussion vor allem durch die bisher in den Sozial- und Lebenswissenschaften geführte Auseinandersetzung um die tatsächlichen Voraussetzungen selbstverantwortlichen Handelns bekommen.

Grischa Detlefsen hat in ihrer Arbeit untersucht, welche Konsequenzen neurowissenschaftliche Einsichten für die strafrechtliche Zurechnungslehre haben oder zumindest haben könnten. So wird im ersten Teil der Arbeit zu-

nächst das Tableau der insoweit vertretenen Freiheitsbegriffe entwickelt (S. 25 ff.) und im Anschluß daran deren Bedeutung für die (verfassungs-)rechtlichen Geltungsbedingungen personaler Zurechnung erörtert (S. 78 ff.). Die Analyse zeigt für Detlefsen vor allem, daß das Menschenbild des Schuldstrafrechts eine normative Konstruktion ist. Diese Konstruktion müsse jedoch, schon um jede Form von Willkürlichkeit auszuschließen, konkretisiert werden. Das wiederum, so die Verfasserin, sei aber weder durch die subjektive Erlebnis- noch durch eine objektive Bewertungsperspektive hinreichend realisierbar. Entscheidend sei vielmehr, daß die Voraussetzungen der Schuld immer wieder empirisch überprüft und so für die prozessualen Erfordernisse handhabbar gemacht würden (S. 133 ff.).

Im zweiten Teil wird diese Einsicht auf verschiedene, strafrechtsdogmatisch relevante Verhaltens- und Wahrnehmungskonstellationen übertragen. Ausgehend von der Frage nach der (selbständigen) Funktion der Handlung und dem damit verbundenen Problem der Abschichtung von sogenannten Nichthandlungen (S. 143 ff.), werden nunmehr bewußtseinsimprägnierte Zurechnungskategorien, wie die der Vermeidbarkeit (S. 187 ff.), des Vorsatzes oder der Fahrlässigkeit, verhandelt (S. 208 ff.). Im Mittelpunkt stehen dabei das Phänomen der "automatisierten Verhaltensweisen" und deren juristische Bewältigung. Detlefsen kommt es hier zum einen darauf an, das empirische Korrelat strafrechtlicher Zurechnungsstrategien, und korrespondierend dazu, die psycho-physische Verfaßtheit der Person als Zurechnungsadressat hervorzuheben. Zum anderen soll verdeutlicht werden, daß die Grenzen der (objektiven) Beurteilung individueller Verhaltenssteuerung und -zurechnung immer auch Spielräume richterlicher Willkür eröffnen können. Gerade über diese Probleme, so die Verfasserin, würden dogmatische Ausschlußkriterien aber solange nicht hinweghelfen, "wie sie ihrerseits einer empirisch beglaubigten Systematik entbehren" (S. 237). Detlefsen sieht in dieser Systematisierung des Empirischen nicht nur die Schnittstelle zwischen Strafrechts- und Neurowissenschaft, sondern auch das Potential, die bisherigen psychophysiologischen Erkenntnisse, die das Strafrecht bei der Beurteilung der Verhaltenssteuerung maßgeblich prägen, durch neue Forschungserkenntnisse zu ersetzen (S. 239).

Der dritte Teil der Arbeit beschäftigt sich dementsprechend mit der neurowissenschaftlichen Perspektive auf das Problem der konfliktbezogenen Selbstwahrnehmung des Einzelnen und der daraus folgenden Erfassung von (un-) willkürlichen Bewegungen (S. 269 ff.) und individuellen Freiheitserfahrungen (S. 309 ff.). Ausgangspunkt ist eine Analyse der visuellen Wahrnehmung und daran gekoppelter Bewußtseins- bzw. Reizverarbeitungsformen an Hand neurowissenschaftlicher Versuchsreihen und Theorien (Bonneh, Libet, Dennet/ Kingsbourne usw.). Sie führen Detlefsen zu der Überzeugung, daß über Wahrnehmungen und Bewußtseinsformen, folglich über Kenntnis und Erkennbarkeit im Recht, nur dann sinnvoll gesprochen werden kann, wenn man die hirnpsychologischen Determinanten menschlicher Entscheidungsprozesse wirklich ernst nimmt und sie insoweit als Teil prozessualer Realität begreift, was für die Verfasserin auch bedeutet, daß "die Möglichkeiten einer willentlichen Steuerung der bewußten Wahrnehmung mit Blick auf den Schuldvorwurf wohl skeptischer beurteilt werden [müßten], als dies bislang geschieht" (S. 266 ff.). Im Anschluß daran werden Konzepte zur Willensbildungsgenese untersucht (Müller-Limroth, Kornhuber/ Deecke, Libet etc.). Auch hier geht es vorrangig um die Problematik automatisierten und willkürlichen Verhaltens (S. 272 ff. bzw. 278 ff.). Sie fördern für Detlefsen zu Tage, daß der menschliche Wille nicht als übermaterieller Faktor, der aus dem "Nichts" heraus entsteht, verstanden werden könne. Insofern müsse strikt zwischen dem subjektiven Erleben und den tatsächlich feststellbaren Ereignissen unterschieden werden. "Während das Individuum aus seiner Innenperspektive heraus seine Handlungen als selbstbestimmt im Sinne von willentlich verursacht erlebt, liegen jeder Bewegung, objektiv beurteilt, neuronale Prozesse zugrunde, die vor dem Willensentschluß des Individuums die Bewegung einleiten und damit zum wirklichen Ursprung ihres Stattfindens werden." (S. 307 f.).

Im letzten Abschnitt wird das Verhältnis von neuronaler Determination und subjektivem Freiheitserlebnis nochmals konkretisiert (S. 309 ff.). Bestimmt wird es als Interdependenz, mit der insbesondere zum Ausdruck komme, daß "der Mensch in seinem Erleben abhängig ist von den neuronalen Vorgaben seines Gehirns" (S. 323). Letzteres wiederum hätte nun auch Konsequenzen für die "Schuldidee" und das Schuldprinzip (S. 337 ff.). Für beide Aspekte führt die Analyse in ein Dilemma. Denn entsprechend den Erkenntnissen der Neurowissenschaften sind sie praxisangemessen nur auf der Grundlage eines empirischen und also beschreibungsfähigen Sachverhalts denk- und interpretierbar; zugleich könnten sie aber nur als wie auch immer verstandenes normatives Konstrukt für das Strafrecht Bedeutung erlangen. Insofern ist es dann das Verfahren und folglich die Person des Richters, in der dieses Verhältnis, vor allem aber die damit verbundene Spannung, ausgehalten werden müßten (S. 343 f.).

2. Grischa Detlefsen hat mit ihrer Untersuchung das im Strafrecht nicht immer genügend beachtete Verhältnis von faktisch formulierten Verhaltens- und Wahrnehmungsformen und normativ begründeten Geltungs- und Zurechnungsbedingungen wieder ins Zentrum der "Schulddiskussion" gerückt. Verdienstvoll ist insoweit nicht nur die Darstellung der aktuellen straf- und verfassungsrechtlichen Debatte um Voraussetzungen und Gegenstand des Freiheits- und Schuld(fähigkeits)begriffs, sondern auch die Analyse des diesbezüglichen Forschungs- und Diskussionsstandes der Neurowissenschaften. Denn durch diese "Systematisierung des Empirischen" wird gleichsam die Grundlage für ein besseres Verständnis der jeweils anderen Perspektive gelegt.

Gleichwohl vermag dem Rezensenten die Argumentation nicht immer einzuleuchten. Schwierigkeiten bereitet vor allem die Einordnung von subjektiver Freiheitswahrnehmung und objektiver Formalisierungs- bzw. Verfahrens-

perspektive. Detlefsen scheint dazu zu neigen, die sozialen Kompetenzen der Person mittels naturwissenschaftlicher Kriterien bestimmen zu wollen. Das aber würde zu einer Naturalisierung der rechtlichen Schuld- und Verantwortungsbegründung und damit zu einem Paradoxon führen. Nun sei zugestanden, daß gerade im strafrechtlichen (Beweis-)Verfahren der Rückgriff auf empirische Sachverhalte unumgänglich und die Heranziehung naturwissenschaftlichen Erkenntnisse notwendig ist. Nur sollte das nicht zu einer Vermengung der Erklärungsebenen und der damit korrespondierenden Semantik führen. Die Rede über ein konfliktentscheidendes Bewußtsein, die individuelle Handlungs- und Willenssteuerung oder die Schuldfähigkeit gem. § 20 StGB kann sich - jedenfalls im Rechtsinne - nur auf praktisch-normative Phänomene und d.h. auf die Person als geistiges Wesen beziehen. Insofern ist der Mensch nicht von seinem Gehirn abhängig, sondern von seinem vernunftgeleiteten Urteilsvermögen. Dabei geht es nicht um Metaphysik, sondern um die Tatsache, daß sich (Handlungs-)Freiheit und letztlich auch Schuld "nur" im Geben und Nehmen von Gründen zeigen und prozessual manifestieren, aber nicht naturwissenschaftlich bewiesen werden können. Das, wovon die Neurowissenschaften sprechen, sind die emotiven Partikel dieser, immer schon vorausgesetzten Rechtsvernunft. Und genau hier liegt dann auch die Schnittstelle zwischen den beiden Wissenschaften. Denn die Neurowissenschaften knüpfen - das hat Detlefsen überzeugend gezeigt - an der Beschreibung psychophysiologischer Zustände an. Diese (neuartigen) Beschreibungen sind aber die Grundlage der typisierten Regelbilder, wie man sie aus der Dogmatik zu §§ 20 oder 33 StGB kennt; sie formulieren insoweit nichts anderes als eine "Psychophysiologie des Geistigen". Auflösen läßt sich so vielleicht auch das angesprochene Dilemma. Geht man nämlich von den unterschiedlichen Erklärungshorizonten der Rechts- und Neurowissenschaften aus, so wird deutlich, daß mit der "Schuldidee" resp. dem Schuldprinzip vor allem das normative Selbstverständnis einer Gesellschaft und dementsprechende Handlungsorientierungen zur Geltung gebracht werden, während mit der "Psychophysiologie des Geistigen" die Natürlichkeit und Endlichkeit der einzelnen Vernunft in ihr Recht und d.h. in das formalisierte Verfahren der Zurechnung gesetzt wird.

Grischa Detlefsen hat mit ihrer umfangreichen Arbeit auf ein virulentes Problem der Dogmatik hingewiesen; die weitere Diskussion wird zeigen müssen, ob sich das moderne Schuldstrafrecht, und hier die Wissenschaft ebenso wie die Rechtsprechung, den damit verbundenen Herausforderungen stellt.

Dr. Benno Zabel, Universität Leipzig

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Benno Zabel: Schuldtypisierung als Begriffsanalyse. Tiefenstrukturen moderner Praxisformen und deren strafrechtliche Transformation, Duncker & Humblot, Berlin 2007, Strafrechtliche Abhandlungen, n. F., Band 184, ISBN 978-3-428-12247-9, 582 S., € 98,-

Den etwas dunklen Titel erläutert Zabel wie folgt: "Während ... der Begriff das normative und weltgebundene Fundament liefert, wird mit dem (Tatbestands-)Merkmal/dem Typus die methodische Strategie des strafrechtlichen Begründungszusammenhangs behauptet." Dabei sollen "beide Perspektiven ... in einem angemessenen und auf das Strafgesetz bezogenen (Schuld-)Zurechnungssystem miteinander zu vermitteln bzw. als vermittelt zu begreifen" sein (S. 192, gleichlautend S. 399 f.; Hervorhebung original). - Nunmehr zum Inhalt!

Im ersten Teil (von drei Teilen) seiner sehr umfangreichen Dissertation (selbst ohne Apparat 500 Seiten) widmet sich Zabel der "philosophische(n) Grundlegung" (S. 32 ff.), und das heißt, er unternimmt es, die "hegelsche Philosophie des Geistes" darzustellen, und zwar "verstanden als eine praxisgeleitete, vielleicht auch sinnbezogene Begriffs- und Freiheitsphilosophie" (S. 33). Rechtlichkeit soll als "typische(r) Bereich menschlicher Praxis, in ihren konkreten und sinnüberformten Modi - in ihren Selbstverwirklichungsstrukturen" zu erfassen sein (S. 59), wobei die Verwirklichung streng zu nehmen ist: Es geht um die Erkenntnis der "Rechtlichkeit" als "Einheit von Denken und Sein" (S. 60), also nicht um ein nur ausgedachtes Ideal, sondern um die Idee als Verwirklichung des Begriffs (S. 62).

Speziell zu Hegels Lehre der Vergeltung im abstrakten Recht (in dem die Bedingungen strafender Gerechtigkeit noch nicht erfüllt sind, Rph. §§ 102 f.) legt Zabel die bekannten Einwände gegen das "Selbstsubsumtionsargument" dar (S. 76 ff., zu Rph. § 100) und entscheidet sich dafür, den Grund für die Vergeltung in der Verletzung des Anerkennungsverhältnisses zu suchen. Diese Verletzung "und damit auch die nur scheinbar rechtliche Existenz des gewalttätigen Willens" müsse dadurch aufgehoben werden, "daß man deren Untragbarkeit sowohl für den Zwingenden als auch für die Gemeinschaft ... verdeutlicht" (S. 79). Warum diese Verdeutlichung gerade durch einen Strafschmerz erfolgt und nicht durch eine Kommunikation ohne Schmerz, bleibt bei Zabel so unerklärt wie bei Hegel selbst.

Die Moralität in Hegels Rechtsphilosophie versteht Zabel durchaus differenziert: Es gehe zwar um den "Standpunkt des konkreten einzelnen Subjekts" (S. 82), aber dieses könne "nur vor dem Hintergrund eines geistigen und vernünftigen Wesens bestimmt werden, das seine Verantwortlichkeit nicht nur auf den punktuellen Inhalt seines Vorsatzes beschränkt" (S. 86). Zabel arbeitet sodann die Öffentlichkeit des Konflikts heraus (S. 104 ff., 119), was auf den Täter bezogen heißt, dieser lasse sein "tatinvariantes Transzendierungspotential" mit der Folge ungenutzt (S. 110, 137), dass die Tat als öffentlich vollzogener "performativer Selbstwiderspruch" begriffen werden müsse (a. a. O.): Der Täter, so Zabel, stellt eine "Geltungsbehauptung" auf (S. 112), die an der Praxis vorbeigeht, durch welche er "zur Selbständigkeit geformt

und als Person anerkannt" wurde (S. 111).

Im nächsten Abschnitt des ersten Teils versichert sich Zabel der rechtlichen Praxis als eines Umgangs von "Mitmenschen" untereinander (S. 138 ff.). Das dürfte im System Hegels eine falsa demonstratio sein (und wird auch von Zabel nicht wörtlich genommen); denn bei Hegel findet die rechtliche Praxis unter Personen als Bürgern statt; "Menschen" erscheinen nur als Bedürfniswesen (Rph. § 190). Der Sache nach geht es um das Begreifen des Rechtlichen von der Person her. Die Gegenposition soll hauptsächlich von der Theorie der Gesellschaft bei Luhmann gebildet werden, dies mit der bekannten Folge eines "Verzicht(s) auf jede substantialisierte Auffassung von Individuen oder Akteuren, die als Träger bestimmter Eigenschaften die Bildung sozialer Systeme ermöglichen" (Luhmann, zitiert nach Zabel, S. 143). Was Zabel einwendet, liegt nach dem bisher Skizzierten auf der Hand: So werden die "praktischen und konkret freiheitlichen Selbstverhältnisse" nicht einmal in den Blick genommen (S. 147).

Im zweiten (seinerseits 200 Seiten umfassenden) Teil wendet Zabel das von ihm Erarbeitete kritisch gegen den "dominierenden" Umgang mit dem Schuldbegriff (S. 194). In einem ersten Anlauf nimmt er sich die Leistung diverser Handlungsbegriffe bei der Konstitution einer Straftat vor (S. 196 ff.). Welzel gesteht er zu, "Strafrechtswissenschaft ... als Sozial- bzw. Gesellschaftswissenschaft" begreifen zu wollen (S. 203, auch S. 230), führt seine Kritik dann freilich zu dem Ergebnis, ein Handlungsbegriff, der "beim Bewußtsein als psychologischem Moment" stehen bleibe, könne nicht einmal ansatzweise die Spannung zwischen der "willensgetragene(n) Gestaltungsmacht des Einzelnen" und der "Normativität des Allgemeinen" erfassen (S. 204; das ist eine Reformulierung des bekannten Arguments, die instrumentelle Finalität erreiche nicht die Sinnebene). - Diese Kritik gilt nach Zabel nicht minder für Handlungsbegriffe, die sich gegenüber "den nachfolgenden Wertungs- und Zurechnungsstufen" neutral verhalten (S. 211). - Dem funktionalen Ansatz gesteht Zabel zu, "auf der Ebene der Kommunikation" den "Mensch(en)" (?, s. o.) als "normativ und kognitiv definierte Person" mit dem "strafrechtlich relevante(n) Erfolg als Rechtsverletzung" zu verbinden (S. 218), aber nur um den Preis einer Leugnung der "Geist-Leib-Einheit der Person" (S. 224).

Im nächsten Anlauf geht Zabel den Schuldbegriff in Lehre und Rechtsprechung unmittelbar an, genauer, die "argumentationslogische Unterbestimmung" des Begriffs "als strafrechtlicher Typus" (S. 242 ff.). Was Zabel gegen den normativen Schuldbegriff vorbringt, lässt sich aus dem bereits Skizzierten erschließen: Der "Kern individueller und gemeinschaftlicher Praxis, und hier besonders die Strategie der Selbstorientierung als Freiheitsorientierung", komme nicht in den Blick (S. 246). In der Tat ist der normative Schuldbegriff tendenziell formal; Zabel verdeutlicht das an der Behandlung von Unrechtsunkenntnis als vermeidbar: Das "abstrakte Wissen und Erkennen-Können" vertritt die Stelle der "erworbene(n) und in einer gelebten Rechtspraxis regelmäßig erwerbbare(n) ... freiheitskonstituierende(n) Kompetenz des Einzelnen" (S. 253, auch 263).

Es folgt eine umfangreiche Auseinandersetzung mit den Schuldbegriffen von Jakobs (also des hiesigen Rezensenten), Lesch und Pawlik (S. 283 ff., 310 ff., 319 ff.). Zabel stellt dar, dass nach funktionaler Sicht "Person" ein Begriff für eine Rolle, nicht aber für die Subjektivität des Rollenträgers ist (S. 287) und "Schuld" der Begriff für ein gesellschaftlich bestimmtes Untermaß an Rechtstreue. Wenn es der Ordnungsaufgabe einer Norm, also ihrer Geltung, nicht schadet, kann beim funktionalen Schuldbegriff ein Schuldurteil durch psychologisierende Einfühlung abgewendet werden (dann agiert "Natur"), ansonsten wird normativiert (der Täter verwirklicht deliktischen "Sinn") (S. 292 ff.). Zabel kritisiert, so könne es nicht gelingen, "die im Begriff der Schuldspruch- und Strafpraxis aufgehobene ... Dialektik von 'innen' (Ich-Identität) und 'außen' (Erwartung) ... zu entfalten und darauf theoretisch angemessen zu reagieren" (S. 299), mehr noch, die "überkommene Semantik" bleibe als unausgesprochener Leitgedanke erhalten (S. 301, auch S. 303 zu § 20 StGB), und eine "Transformation freiheitsgesetzlich begründeter Sinnkriterien" werde nicht geleistet (S. 310).

Dem Ansatz des entpsychologisierenden Verständnisses der Zurechnungslehre Hegels bei Lesch stimmt Zabel noch verhalten zu: Die "Selbstbestimmung des Menschen als je eigene Weltplazierung" sei "kein psychischer Sachverhalt" (S. 315), aber für Lesch verliere "die praktische Subjektivität als in der Welt rechtlich handelnde personale Einheit" jedes Interesse (S. 317), weil Lesch nicht "in einem affirmativen (!, G. J.) Sinne freiheitstheoretisch" argumentiere (S. 316). Schon zuvor hatte es geheißen, die "Rede von einer wertfreien Bestimmung der Strafrechtswissenschaft als Praxiswissenschaft und folglich von Schuld" sei "schwer nachvollziehbar", mehr noch, eine "Wertneutralität" könne es für eine "Praxiswissenschaft" nicht geben (S. 300).

An dieser Stelle - spätestens an dieser - ist auf eine gewisse Unschärfe der Argumentation Zabels hinzuweisen. Zabel ist ein viel zu gründlicher Leser Hegels, um nicht zu wissen, dass sich Sittlichkeit nicht aus abstraktem Recht und Moralität zusammenbauen lässt. Ist dem aber so, dann bleibt die Rede von der "praktischen Subjektivität als in der Welt handelnde personale Einheit" erheblich "unterbestimmt" (um Zabels Terminologie zu gebrauchen). Was oder (wohl besser:) wer ist die "praktische Subjektivität", wenn sie - zutreffend - nicht als psychischer Sachverhalt verstanden werden soll? Mit anderen Worten, die Konstitution der Person im Recht bleibt bei Zabel unscharf. Die Antwort des Funktionalismus auf die gestellte Frage lautet, es handele sich um eine kommunikativ bestimmte Adresse, eine gesellschaftliche Konstruktion, und zwar in der Moderne durchaus vor dem Hintergrund des Paradigmas der Freiheit (wobei, dies beiläufig, die Rede von Freiheit ohne gleichzeitige Rede von ihren dialektischen Verknüpfungen, insbesondere mit der Sicherheit, nur Vorläufiges, einen pathetischen Anspruch, mitteilt, - und Zabel klammert diese Dialektik

völlig aus). Ein Hegelianer wird keine funktionalistischen Antworten geben wollen, aber er müsste doch die Subjektivität von der sittlichen Substanz, zu der sich die "Individuen" als "Accidenzen" verhalten (Rph. § 145), zurück begreifen, eben als Bürgerlichkeit. Die von Zabel perhorreszierte "Normativität als Zuschreibung" (S. 315), die allerdings keine Zuschreibung als Akt der Willkür, sondern als Konsequenz verstehbarer gesellschaftlicher Notwendigkeit ist, wäre dann zwar immer noch von der "Autorität der sittlichen Gesetze" (Rph. § 146 Anm.), die ihrerseits "dem Subjekte nicht ein Fremdes" sind (Rph. § 147), zu unterscheiden, aber einige Vergleiche böten sich doch geradezu dringend an. Dass man das "Anliegen Hegels vollkommen aus dem Blick verliert" (S. 315), wenn man nach den Bestandsbedingungen einer freiheitlichen Gesellschaft fragt, wäre, so weitergedacht, also Hegels Rechtsphilosophie - entgegen Zabel - nicht als Phänomenologie des subjektiven Geistes lesend, alles andere als selbstverständlich. - Zudem, das Postulat einer affirmativen Darstellung der Entwicklung freien Daseins durch die Rechtswissenschaft, ohne "Wertneutralität", ist - schwach formuliert - begründungsbedürftig und hätte in einer Arbeit dieses Umfangs und dieser - hoch zu lobenden! - Gründlichkeit deutlicher gestützt werden sollen. "Wissenschaft" ist kein Ehrentitel, dem man mehr (eben bei Affirmationen) oder weniger (ohne Affirmationen) gerecht werden kann, sondern eine beschreibende oder erklärende Herangehensweise an einen Gegenstand, die eine Formulierung von Sätzen ermöglicht, die vor dem Grundverständnis der Zeit wahr sind. Die Bedingungen dieser Wahrheit entwickelt die Philosophie, die deshalb ihrerseits wohl keine Wissenschaft, sondern deren Bedingung ist. Man mag das auch anders sehen, aber man sollte die andere Sicht dann darlegen und wird sich schon entscheiden müssen, ob man rechtsphilosophisch oder rechtswissenschaftlich oder rechtlich argumentieren will. - Deshalb trifft auch der Vorwurf gegenüber der funktionalen Sicht nicht, diese knüpfe an die traditionelle, innerrechtliche Semantik an: Sie erfasst diese Semantik unter dem Aspekt ihres Beitrags zur Erhaltung der normativen Gestalt der Gesellschaft. Der funktionale Schuldbegriff stürzt den normativen nicht vom Thron (obgleich er zu einigen Korrekturen anregt), sondern erklärt seine Ergebnisse aus der gesellschaftlichen Perspektive.

Im dritten Teil ("nur" etwas mehr als 100 Seiten) entwickelt Zabel "Konturen der eigenen Konzeption" (S. 399 ff.). Seine "begriffslogische" Ausgangsthese lautet: "Schuldhaftes Handeln ist eine die gemeinschaftlich erarbeitete und individuell erlebte Freiheit verfehlende Weltinterpretation" (S. 402; Hervorhebung original). Das dürfte freilich nicht der ganze Hegel sein; denn zur treffenden oder verfehlten Interpretation der Welt gehört bei diesem noch vor dem gemeinschaftlich Erarbeiteten und dem individuell Erlebten die tätige Stellung zu den ihrerseits wirkenden sittlichen Institutionen, vorweg zum Staat, und auch diese Stellung kann "verfehlt" werden (siehe schon die Kritik im vorigen Absatz). Das Ausmaß des bei Zabel doch immer wieder durchbrechenden Subjektivismus - sein Begriff der Person ist eben unscharf - wird deutlich, wenn er die Differenz zwischen der - nach seiner Lehre straffreien - unbewussten Fahrlässigkeit und der schlichten Fahrlässigkeit in dem "individuell verarbeiteten Verhältnis von selbst-bewußter Handlungsmacht und tatbezogener (konkret-realisierter) Unrechtseinsicht" zu finden meint (S. 407). Aber eine Person, die ihre sittliche Gemeinschaft mit anderen Personen begriffen hat, kann sich nur um den Preis eines Selbstwiderspruchs auf Defizite ihrer individuellen Verarbeitung zurückziehen, dies ganz abgesehen davon, dass sich mit einem solchen Maß an Subjektivität die normativen Strukturen einer Gesellschaft mit massenhaft anonymen Kontakten nicht erhalten lassen.

Es folgen Untersuchungen zu einzelnen Elementen des Schuldbegriffs, die zwar allesamt sehr verständig, aber nach dem geradezu immensen theoretischen Anspruch der Arbeit etwas farblos ausfallen. - Die Zurechnungsfähigkeit wird (im partiellen Anschluss an Frister) als hauptsächlich kognitives Problem verstanden (S. 415). - Zur actio libera in causa wäre, bevor sie abgelehnt wird, eine Abgrenzung oder aber eben Parallelisierung zum Verlust der Handlungssteuerung zu erwarten gewesen (S. 419 ff.). Weitere Einzelheiten seien dahingestellt (zum Notwehrexzess, zum entschuldigenden Notstand, zum Gewissenstäter, zum Problem des terroristischen Täters und zu anderem mehr). Es handelt es sich bei Zabels Konkretisierungen, nicht zuletzt wegen der "Unterbestimmung" der Person im Recht, kaum um den Königsweg aus einer Wüste lauter Irrtümer, sondern um eine (etwa im Fall der Unrechtseinsicht, S. 424 ff.: durchaus beachtenswerte) Sicht der Schuldproblematik, die freilich andere Sichten nicht wegwischen kann.

Wenn Zabel in seiner "Schlußbetrachtung" Schuldzurechnung notwendig als "Theorie anerkannter Praxisformen" begreift (S. 516), so mag ihm zuzustimmen sein. Aber die Konkretisierung dieser Praxis fehlt. Ist es diejenige von "Menschen" oder "Subjekten" oder "Personen" oder "Bürgern", und ist das "Gemeinschaftswissen" (S. 516) ohne den Hintergrund der sittlichen Institutionen überhaupt Gemeinschaftswissen? - Zudem, Hegel ohne die eigene Zeit begreifen zu wollen, hieße ihn ungeschichtlich anzugehen. Der Philosoph des Werdens lässt sich aber nicht ein für allemal in eine Umlaufbahn zwingen. Zabel meint, dieser Reduktion Hegels entkommen zu können, in dem er immer wieder auf die stets zu erneuernde gesellschaftliche Praxis verweist. Aber diese Praxis ist bei ihm - anders als er selbst eingangs fordert (S. 62) - ein abstraktes, ausgedachtes Unternehmen, eine unterstellte homogene Praxis wesentlich gleich sozialisierter "Subjekte". Von der Praxis - etwa - einer Gesellschaft, die Millionen von Fremden zu integrieren hat, die anonyme Kontakte ermöglichen muss und in der Trittbrettfahrerei weniger verächtlich erscheint als eine staatsbürgerliche Gesinnung lächerlich, ist bei Zabel nur abwehrend die Rede: Jenseits des Bereichs seiner vielleicht für homogene Kleingruppen passenden Theorie gibt es "keine Rechtsgemeinschaft mehr, sondern nur noch einen 'Raum der Unfreiheit'" (S. 347).

Bei aller Kritik - Zabels Arbeit beeindruckt durch ihre Gründlichkeit wie durch die Belesenheit sowie analyti-

sche und kritische Kraft des Autors. Ob es der ganze Hegel ist, der vorgestellt wird, mag man freilich bezweifeln; bleiben doch die teils zerstörerischen Erscheinungsformen der Subjektivität (Moralität) und erst recht das objektive, institutionelle Moment der Sittlichkeit unterbelichtet.

Prof. Dr. Dr. h. c. (mult.) Günther Jakobs , Bonn

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