HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2006
7. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Anmerkung zu BGH 1 StR 534/05 - Beschluss vom 7. März 2006 (BGH HRRS 2006 Nr. 473)

Von Prof. Dr. Gerhard Fezer, Hamburg.

Verfahrensrügen haben es in der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung schon seit längerem recht schwer. Insbesondere die Strafsenate des BGH suchen mit unterschiedlicher Intensität zu vermeiden, daß ein sachlich nicht zu beanstandendes Urteil nur wegen einer Verfahrensverletzung im Sinne eines rein formalen Fehlers aufgehoben werden muß. Die prozessualen Mittel dieser restriktiven Spruchpraxis sind hauptsächlich folgende:

-           Verfahrensfehler bei der Beweisgewinnung sollen möglichst nicht zu einem Verwertungsverbot führen.

-           Der Angeklagte kann sich nicht mehr auf ein Verwertungsverbot berufen, wenn er in der Hauptverhandlung der Verwertung nicht rechtzeitig widersprochen hat (sog. Widerspruchslösung).

-           Die Anforderungen an die gemäß § 344 II 2 StPO erforderliche Begründung einer Verfahrensrüge sind inzwischen so streng geworden, daß in einem beträchtlichen Ausmaß Verfahrensrügen an der Zulässigkeitshürde scheitern.

Vor diesem Hintergrund ist der vorstehend abgedruckte Beschluß des 1. Strafsenats zu sehen. Der Beschwerdeführer muß nicht nur erleben, daß seine Verfahrensrüge als unzulässig verworfen wird (das ist der entscheidungserhebliche Teil des Beschlusses). Sicherheitshalber wird er durch das Revisionsgericht (in längeren nicht entscheidungserheblichen Ausführungen) auch noch darüber informiert, daß seine Rüge unbegründet gewesen wäre. Angesichts dieses geballten Einsatzes des Restriktionspotentials hatte er von vornherein keinerlei Chance.

Dabei enthält der Beschluß die klare und eindeutige Erkenntnis, daß die Abhöranordnungen des Ermittlungsrichters und der Staatsanwaltschaft mit einem Verfahrensfehler behaftet sind, weil sie den höchstrichterlich geforderten Begründungsanforderungen nicht entsprechen: Der Ermittlungsrichter hätte die den Tatverdacht begründenden Tatsachen und die entsprechende Beweislage wenigstens knapp darlegen müssen, und der Staatsanwalt wäre verpflichtet gewesen, die besondere Eilbedürftigkeit der Maßnahme zu dokumentieren. Dieser Verstoß gegen die Begründungspflicht soll nun aber zu keinem Verwertungsverbot führen, weil nach Auffassung des Senats die Rechtmäßigkeit der Anordnungen dadurch letztlich nicht berührt wird. Der zentrale Satz lautet (Abschnitt III b): "Die ungenügende Fassung der richterlichen oder staatsanwaltlichen Anordnungen der Überwachung der Telekommunikation begründet jedoch nicht per se die Rechtswidrigkeit dieser Maßnahmen mit der Folge der Unverwertbarkeit der hieraus gewonnenen Erkenntnisse". Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Überwachungsanordnung seien vielmehr die tatsächlichen Voraussetzungen im Zeitpunkt der Entscheidung der Anordnung maßgebend. Wenn danach die Gestattung der Überwachung 'vertretbar' erscheint, ist sie - trotz fehlender oder fehlerhafter Begründung - nicht rechtswidrig. Der 1. Senat knüpft insoweit der Sache nach - ohne dies ausdrücklich zu erwähnen - an die Entscheidungen BGHSt 41, 30 und BGHSt 47, 363 an. Diese gehen davon aus, daß dem Ermittlungsrichter bzw. dem Staatsanwalt hinsichtlich wesentlicher gesetzlicher Anordnungsvoraussetzungen (wie etwa Tatverdacht oder das Fehlen anderer Ermittlungsmöglichkeiten) ein Beurteilungsspielraum eingeräumt sei. Dadurch sei die Nachprüfung durch den erkennenden Richter und durch das Revisionsgericht beschränkt. Als rechtswidrig (mit der Folge eines Verwertungsverbots) stellt sich danach die vom Ermittlungsrichter oder vom Staatsanwalt angeordnete Überwachung nur dann dar, wenn sie willkürlich oder grob fehlerhaft, also nicht mehr vertretbar erscheint. Andernfalls sei im Verfahren vor dem Tatrichter und

auch im Revisionsverfahren von der Rechtmäßigkeit der Anordnung und folglich von der Verwertbarkeit auszugehen (BGHSt 41, 30, 34). Fehlt in einer Überwachungsanordnung eine Begründung, so ist sie allein deswegen nicht rechtswidrig (BGHSt 47, 363, 366, 367). In diesem Fall habe der Tatrichter den Ermittlungsstand zum Zeitpunkt der ermittlungsrichterlichen Entscheidung eigenständig zu rekonstruieren und auf dieser Grundlage die Vertretbarkeit der Anordnung zu untersuchen[1]. Das erfordere eine Sichtung des Aktenbestandes, wie er sich dem Ermittlungsrichter bei dessen Entscheidung geboten habe. Der Tatrichter ist aber nicht gehalten, die Überprüfungsvorgänge später im Urteil darzustellen[2]. Vielmehr muß der Revisionsführer mittels einer Verfahrensrüge die Verwertung beanstanden. Dazu muß er (was der Tatrichter nicht muß!) gemäß § 344 II 2 StPO die Verdachtslage und die übrigen Eingriffsvoraussetzungen mitteilen. Sonst könne das Revisionsgericht nicht überprüfen, ob die beanstandete Maßnahme zu Recht oder zu Unrecht angeordnet worden sei. Im vorliegenden Fall vermißt der 1. Senat einen solchen Revisionsvortrag, so daß die entsprechende Verfahrensrüge unzulässig ist.

Zu alledem ist zu bemerken: Die beiden zitierten Entscheidungen (BGHSt 41, 30; BGHSt 47, 363) sind hinsichtlich ihrer tragenden Erwägungen (Stichworte: Beurteilungsspielraum, beschränkte Nachprüfung im Sinne einer Vertretbarkeitsprüfung) vom Schrifttum überwiegend abgelehnt worden[3]. Der 1. Senat ignoriert dies völlig[4], was leider keinen Einzelfall darstellt. Es ist immer wieder zu bemerken, daß sich die strafprozessuale BGH-Rechtsprechung einer Beeinflussung durch das Schrifttum weitgehend entzieht. Bei der vom Senat praktizierten Widerspruchslösung ist dies nicht anders. Diese hat folgenden Inhalt: Das Verwertungsverbot ist für den Angeklagten "disponibel"[5]; es wird vom Gericht nur beachtet, wenn der Beschwerdeführer innerhalb der Hauptverhandlung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt der Verwertung eines rechtswidrig gewonnen Beweises ausdrücklich widersprochen hat. In neueren Entscheidungen macht sich der BGH keine Mühe mehr, dieses noch nie ausführlich begründete, mehrheitlich im Schrifttum abgelehnte Erfordernis zu begründen[6]. Im vorliegenden Fall ergibt die auf freibeweisliche Erkenntnis gestützte hypothetische Begründetheitsprüfung, daß es an dem erforderlichen Widerspruch fehlt. Dabei läßt der Senat offen, ob nicht in einem Antrag gemäß § 238 II StPO generell ein Widerspruch enthalten sein könnte. Dies ist meines Erachtens durchaus zu bejahen: Wenn der Verteidiger "einen Gerichtsbeschluß über das Vorspielen der abgehörten Telefonate herbeiführt", dann verfolgt er das Ziel, daß dieses Vorspielen unterbleibt. Im übrigen war dem Senat offensichtlich eine Begründetheitsprüfung möglich, obwohl er wegen unzureichender Angaben zum Widerspruch bereits die Zulässigkeit der Rüge verneint hatte. Der Beschwerdeführer hatte in seiner Revisionsbegründung zwar geschrieben, daß sich die Verteidigung der Verwertung "widersetzt" habe. Dieser Satz fand jedoch bei der Zulässigkeitsprüfung keine Berücksichtigung: Der Senat bemerkte tadelnd (und reichlich autoritär), daß der Beschwerdeführer eine solche Behauptung gar nicht schreiben durfte, weil er damit in die Beurteilungskompetenz des Revisionsgerichts eingegriffen habe (Abschn. IIa). Es ist mir nicht klar, wie sich der Beschwerdeführer im Hinblick auf § 344 II 2 StPO hätte richtigerweise verhalten müssen. Die Unzulässigkeit der Verfahrensrüge hat den Senat jedenfalls nicht daran gehindert, ausführlich die Begründetheit zu prüfen.[7] Diese rein hypothetischen Ausführungen, in denen manches auch wieder offen bleibt, nehmen im übrigen einen breiteren Raum ein als die Begründung der Unzulässigkeit. Die Überzeugungskraft der Entscheidung wird dadurch nicht erhöht.

***


[1] Während BGHSt 47, 366 von einer revisionsgerichtlichen Prüfung von Amts wegen ausging, vertritt der 1. Strafsenat im vorstehenden Beschluß (BGH HRRS 2006 Nr. 473) die gegenteilige Auffassung.

[2] Diese Frage ist von BGHSt 48, 240, 242 offen gelassen.

[3] Gegen BGHSt 41, 30 vgl. z.B. Küpper JR 1996, 214; Bernsmann NStZ 1995, 510; Neuhaus, Festschrift für Rieß, 2002, S. 375, 394 ff.; Schlothauer StraFo 1998, 402, 411 ff.; Störmer, StV 1995, 653 ff.; Schäfer in Löwe-Rosenberg § 100a Rn. 99a ff. Gegen BGHSt 47, 322 vgl. z.B. Schlothauer StV 2003, 208; auch Franke GA 2003, 888, 889.

[4] In BGHSt 47, 363, 366 heißt es zur Kritik an BGHSt 41, 30 lediglich: "Hieran trotz teilweise kritischer Stimmen im Schrifttum festzuhalten (vgl. dazu Bernsmann NStZ 1995, 112; Störmer StV 1995, 653)". Eine Argumentation findet also nicht im Ansatz statt.

[5] Die vorstehend abgedruckte Entscheidung verweist insoweit auf die Senatsentscheidung vom selben Tag (1 StR 316/05 = StV 2006, 225 = HRRS 2006 Nr. 313): Der Richter sei während des Hauptverfahrens ohnehin nicht gehalten, die materielle Rechtmäßigkeit jeder Ermittlungshandlung während des Vorverfahrens von vornherein in Zweifel zu ziehen. "Das erkennende Gericht darf grundsätzlich darauf vertrauen, daß das Ermittlungsverfahren entsprechend den gesetzlichen Vorgaben geführt wurde". Dem erkennenden Gericht wird gerade noch gestattet (ihm "ist es freilich nicht zu verwehrt"), die Verwertbarkeit zu prüfen. Die Suspendierung des Amtsaufklärungsgrundsatzes in diesem Bereich ist ein Irrweg.

[6] Vgl. BGH JZ 2006, 473 mit Anm. Fezer.

[7] Vgl. insoweit auch BGHSt 48, 240: Zunächst wird eine nicht zureichend ausgeführte Rüge als unzulässig bewertet, sodann heißt es: die Verfahrensrüge wäre im Ergebnis unbegründet.