HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2004
5. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

904. BGH 4 StR 84/04 - Urteil vom 16. September 2004 (LG Paderborn)

Verbotene Vernehmungsmethoden (Drohung mit einer unzulässigen Maßnahme: Missbrauch der Untersuchungshaft in Form der Androhung einer Invollzugsetzung des Haftbefehls zur Abwehr eines angekündigten Beweisantrages und zur Herbeiführung einer Urteilsabsprache bzw. eines Geständnisses; neu hervorgetretene Umstände gemäß § 116 Abs. 4 StPO; Verwertungsverbot; Geständnis); Unwirksamkeit des absprachebedingten Rechtsmittelverzichts (unzulässige Willensbeeinflussung; "übliche Usancen der hiesigen Justiz"; Fortwirkung der unzulässigen Androhung der Invollzugsetzung des Haftbefehls).

§ 112 StPO; § 116 Abs. 4 StPO; § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO; Art. 1 GG; Art. 5 I lit. c EMRK; Art. 18 EMRK

1. Fall der Zweckentfremdung der Untersuchungshaft zur Herbeiführung einer Verfahrensabsprache bzw. eines Geständnisses: Drohung mit einer unzulässigen Maßnahme i.S. des § 136a Abs. 1 Satz 3 1. Alt. StPO durch die Ankündigung der Invollzugsetzung des Haftbefehls.

2. Die mögliche Verurteilung als solche oder auch die Höhe der zu erwartenden Strafe stellen nicht als solche "neu hervorgetretene Umstände" gemäß § 116 Abs. 4 StPO dar, welche die Verhaftung des Angeklagten rechtfertigen, soweit schon bei der Aussetzungsentscheidung von der Möglichkeit der Verurteilung ausgegangen und im Falle des Schuldnachweises mit einer "erheblichen" Freiheitsstrafe gerechnet worden war.


Entscheidung

881. BGH 3 StR 255/04 - Beschluss vom 23. September 2004 (LG Kleve)

Wesentlicher Teil der Hauptverhandlung (Entscheidung über die Vereidigung eines Zeugen); absoluter Revisionsgrund; Entfernung des Angeklagten.

§ 61 StPO a.F.; § 59 StPO n.F.; § 338 Nr. 5 StPO; § 247 StPO

1. Die Verhandlung über die Vereidigung eines Zeugen gehört nicht mehr zur Vernehmung des Zeugen, während derer der Angeklagte gemäß § 247 StPO entfernt gehalten werden kann. Wird die Entscheidung über die Vereidigung daher in Abwesenheit des Angeklagten getroffen, so begründet dies den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO.

2. Der Senat erwägt, dass die Frage, ob die vorschriftswidrige Abwesenheit des Angeklagten bei der Entscheidung über die Vereidigung eines Zeugen einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung im Sinne von § 338 Nr. 5 StPO betrifft, nach der Neuregelung des Vereidigungsrechts (§ 59 StPO n.F.) durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz - wonach Zeugen nur vereidigt werden, wenn es das Gericht wegen der ausschlaggebenden Bedeutung der Aussage oder zur Herbeiführung einer wahren Aussage nach seinem Ermessen für notwendig hält - neuer Betrachtung bedürfen könnte. Insbesondere könnte die Änderung zur Folge haben, dass in den Fällen, in denen die Verfügung des Vorsitzenden nicht zum Gegenstand von Erörterungen gemacht, insbesondere keine gerichtliche Entscheidung nach § 238 Abs. 2 StPO beantragt wurde, die Abwesenheit des Angeklagten keinen wesentlichen Verfahrensteil betrifft.


Entscheidung

929. BGH 5 StR 566/03 - Beschluss vom 18. Februar 2004 (LG Bautzen)

Aufhebung des tatrichterlichen Beschlusses über die Verwerfung der Revision; Erfordernis des Revisionsantrages (Auslegung der Revisionsbegründung); Unwirksamkeit der Revisionsrücknahme wegen der Art und Weise ihres vom Gericht zu verantwortenden Zustandekommens (Hinweispflicht bei erkennbarer Gefahr einer den Interessen des Angeklagten zuwiderlaufenden Revisionsrücknahme auf Grund der Fürsorgepflicht und des Gebots, dem Angeklagten die jederzeitige Möglichkeit zu einer geordneten und effektiven Verteidigung zu gewähren); Hinweispflicht bezüglich des ungenügend verteidigenden Verteidigers.

Art. 6 EMRK; § 302 StPO; § 344 Abs. 1 StPO; § 352 Abs. 1 StPO; § 346 Abs. 2 StPO

1. Eines ausdrücklichen Antrages im Sinne der § 344 Abs. 1, § 352 Abs. 1 StPO bedarf es dann nicht, wenn sich das Begehren des Beschwerdeführers nach umfassender Aufhebung des Urteils sicher aus der Revisionsbegründung ergibt (vgl. BGH NStZ 1990, 96; NStZ-RR 2000, 38).

2. Eine Revisionsrücknahme ist wegen der Art und Weise ihres vom Gericht zu verantwortenden Zustandekommens unwirksam (vgl. BGHSt 45, 51, 53, 55; 46, 257, 258), wenn das Gericht den Angeklagten - ausnahmsweise - nach Kenntnisnahme eines seiner Schreiben über den Fortgang des Revisionsverfahrens hätte aufklären müssen, um einer erkennbaren Gefahr einer den Interessen des Angeklagten zuwiderlaufenden Revisionsrücknahme entgegenzutreten. Eine Pflicht hierzu kann sich nach den besonderen Umständen des Falles auf Grund der Fürsorgepflicht (vgl. BGHSt 45, 51, 57) und auf Grund des Gebots ergeben, dem Angeklagten die jederzeitige Möglichkeit zu einer geordneten und effektiven Verteidigung zu gewähren (vgl. BGHSt 45, 51, 57).


Entscheidung

905. BGH 4 StR 293/04 - Beschluss vom 24. August 2004 (LG Dortmund)

Voraussetzungen der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung (Recht auf Verfahrensbeschleunigung; Anwendung bei Verfahrensstillstand in einem Teil des Verfahrens; Bedeutung der Ressourcenknappheit; Gesamtwürdigung).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

Nach ständiger Rechtsprechung führt - unabhängig davon, ob ein Verfahren gegen einen inhaftierten oder einen nicht inhaftierten Angeklagten geführt wird (vgl. BGH NStZ 2003, 384) - lediglich ein vorübergehender Engpass in der Arbeits- und Verhandlungskapazität der Strafverfolgungsorgane nicht zu einem Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 Satz 1 MRK (vgl. BGH StV 1992, 452; BGH NStZ 1996, 506; EGMR NJW 1984, 2749, 2750).


Entscheidung

891. BGH 1 StR 44/04 - Beschluss vom 14. September 2004 (LG Heilbronn)

Ablehnungsrüge (Beurteilung der Zurückweisungsbegründung nach Beschwerdegrundsätzen; Besorgnis der Befangenheit bei Ankündigung der straferschwerender Verwertung der Wahrnehmung prozessualer Rechte und Ausräumung durch den Kontext).

§ 24 Abs. 2 StPO; § 27 StPO; § 304 StPO; § 338 StPO

Das Revisionsgericht ist an die Begründung des Beschlusses, mit dem ein Ablehnungsgesuch durch das Tatgericht zurückgewiesen wurde, nicht gebunden. Es hat das Ablehnungsgesuch vielmehr nach Beschwerdegrundsätzen zu beurteilen.


Entscheidung

893. BGH 1 StR 304/04 - Beschluss vom 15. September 2004 (LG Würzburg)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Anbringung von Verfahrensrügen (Faxausfall); Übergang von der Zeugenvernehmung zur Beschuldigtenvernehmung (pflichtgemäße Beurteilung; Beurteilungsspielraum bei Tötungsdelikten).

§ 136 StPO; § 163a StPO; § 44 Satz 1 StPO; § 45 StPO; § 46 Abs. 1 StPO; § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO

Nach pflichtgemäßer Beurteilung der Strafverfolgungsbehörde muss erst dann von der Zeugen- zur Beschuldigtenvernehmung übergegangen werden, wenn sich der Verdacht so verdichtet hat, dass die vernommene Person ernstlich als Täter der untersuchten Straftat in Betracht kommt. Die Grenzen des Beurteilungsspielraums sind - gerade bei Tötungsdelikten - erst dann überschritten, wenn trotz starken Tatverdachts nicht von der Zeugen zur Beschuldigtenvernehmung übergegangen wird (BGHSt 37, 48, 51 f.) und auf diese Weise die Beschuldigtenrechte umgangen werden (BGHR StPO § 136 Belehrung 6).


Entscheidung

885. BGH 1 StR 180/04 - Urteil vom 14. September 2004 (LG Waldshut)

Beweiswürdigung (bedingter Vorsatz; Grenzen der Revisibilität; Rechtsfehler; überspannte Anforderungen; Widerspruch zu den Feststellungen); fahrlässige und vorsätzliche Körperverletzung.

§ 15 StGB; § 223 StGB; § 230 StGB; § 261 StPO

1. Kann der Tatrichter die erforderliche Gewissheit nicht gewinnen und zieht er die hiernach gebotene Konsequenz, so hat das Revisionsgericht dies zwar regelmäßig hinzunehmen. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters; es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Daran ändert sich auch nicht allein dadurch etwas, dass eine vom Tatrichter getroffene Feststellung 'lebensfremd erscheinen' (BGH NStZ 1984, 180) mag. Es gibt im Strafprozess keinen Beweis des ersten Anscheins, der nicht auf Gewissheit, sondern auf der Wahrscheinlichkeit eines Geschehensablaufs beruht.

2. Eine Beweiswürdigung ist demgegenüber etwa dann rechtsfehlerhaft, wenn sie lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht erörtert, widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt sind (st. Rspr., vgl. BGH NJW 2002, 2188, 2189). Dies ist auch dann der Fall, wenn eine nach den Feststellungen naheliegende Schlussfolgerung nicht gezogen ist, ohne dass konkrete Gründe angeführt sind, die dieses Ergebnis stützen können. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (BGH NJW 2002, 2188, 2189; BGH StraFo 2003, 381). Für die Feststellung von Tatsachen genügt demnach, dass ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit besteht, an dem vernünftige Zweifel nicht aufkommen können. Außer Betracht zu bleiben haben solche Zweifel, die keinen realen Anknüpfungspunkt haben (vgl. BGH NStZ-RR 1999, 332, 333 m.w.N., zu den Anforderungen an die Beweiswürdigung vgl. BGH NStZ-RR, 2003, 271).


Entscheidung

894. BGH 1 StR 317/04 - Urteil vom 28. September 2004 (LG Coburg)

Erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit (Affekt und gegenindizierende Sicherheitstendenz; Saß-Kriterien; eigene Sachkunde bei der Vorfrage nach medizinisch-psychiatrischen Anknüpfungstatsachen; Rechtsfrage der Erheblichkeit: Ausschluss des Zweifelsgrundsatzes und besondere Anforderungen bei Tötungsdelikten).

§ 21 StGB; § 244 Abs. 4 StPO

1. Im Grundsatz bestehen keine Bedenken, wenn der Richter im Rahmen der Schuldfähigkeitsprüfung auch die Vorfrage nach medizinisch-psychiatrischen Anknüpfungstatsachen auf Grund eigenen Wissens beantwortet (BGH StV 1999, 309, 310). Zumindest ungewöhnlich ist es dann jedoch, wenn der Richter zugleich sachverständiger Beratung hinsichtlich der an sich geläufigen Frage bedarf, welche Gesichtspunkte generell bei der Prüfung eines schuldmindernden Affekts Gewicht gewinnen können.

2. Die Frage, ob eine Beeinträchtigung im Sinne von § 21 StGB "erheblich" ist, ist eine Rechtsfrage und kann somit nicht auf der Grundlage des Zweifelssatzes beantwortet werden (st. Rspr.). Bei der Beurteilung der Erheblichkeit fließen normative Gesichtspunkte ein. Entscheidend sind die Anforderungen, die die Rechtsordnung an jedermann stellt. Diese sind umso höher, je schwerwiegender das in Rede stehende Delikt ist (st. Rspr., vgl. zuletzt BGH NStZ 2004, 437 f. m.w.N.), bei vorsätzlichen Tötungsdelikten also besonders hoch (vgl. BGH, Beschluß vom 3. August 2004 - 1 StR 293/04).


Entscheidung

879. BGH 3 StR 240/04 - Beschluss vom 10. August 2004 (LG Lübeck)

Aufklärungspflicht (zweiter Sachverständiger; bessere Erkenntnismittel; Beweis des Gegenteils der behaupteten Tatsache); Sicherungsverwahrung (Hang zur Begehung erheblicher Straftaten); Hilfsbeweisantrag; eigene Sachkunde; Beruhen.

§ 244 StPO; § 246a StPO; § 337 StPO; § 338 Nr. 8 StPO; § 66 StGB

Mit der Begründung, das Gegenteil der behaupteten Tatsache sei "durch das frühere Gutachten" bewiesen, darf die Einholung eines weiteren Gutachtens nur abgelehnt werden, wenn tatsächlich allein durch ein früheres Gutachten zu demselben Beweisthema das Gegenteil der behaupteten Tatsache bewiesen ist (vgl. BGHSt 39, 49, 52 m. w. N.). Dies kommt hingegen nicht in Betracht, wenn der Tatrichter gerade im Widerspruch zu diesem Gutachten das Gegenteil der Überzeugung des ersten Gutachters annimmt.


Entscheidung

870. BGH 2 StR 173/04 - Urteil vom 15. September 2004 (LG Koblenz)

Zurückweisung eines Beweisantrages auf Hinzuziehung eines Sachverständigen (eigene Sachkunde); Aufklärungspflicht; Überzeugungsbildung; Beweiswürdigung; Urteilsgründe.

§ 244 Abs. 4 StPO; § 261 StPO; § 267 StPO

Das Tatgericht hat nur dann Anlass, die Hinzuziehung eines Sachverständigen zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen zu prüfen, wenn Eigenart und besondere Gestaltung des Einzelfalles diese Beurteilung so erschweren, dass sie lediglich mit Hilfe einer Sachkunde vollzogen werden kann, die ein Richter normalerweise selbst dann nicht hat, wenn er über spezifische forensische Erfahrungen verfügt. Im Übrigen kann er darauf gerichtete Beweisanträge unter Hinweis auf eigene Sachkunde zurückweisen (§ 244 Abs. 4 StPO).


Entscheidung

874. BGH 2 StR 232/04 - Beschluss vom 15. September 2004 (LG Darmstadt)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Nachholung von Verfahrensrügen, rechtliches Gehör).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 44 StPO; § 344 Abs. 2 StPO; § 345 Abs. 1 StPO

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung von (weiteren) Verfahrensrügen kommt nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht, nämlich wenn dies zur Wahrung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) unerlässlich erscheint, etwa wenn der Beschwerdeführer durch äußere Umstände oder Maßnahmen des Gerichts gehindert worden ist, Verfahrensrügen innerhalb der Revisionsbegründungsfrist geltend zu machen.


Entscheidung

895. BGH 1 StR 342/04 - Beschluss vom 2. September 2004 (LG Regensburg)

Verbescheidung ohne Beweisantrag und Aufklärungspflicht; Bindungswirkung.

§ 244 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StPO; § 358 Abs. 1 StPO

Hat der Tatrichter einen Antrag, bei dem es sich nicht um einen Beweisantrag handelt, nach Beweisantragsgrundsätzen verbeschieden, begründet dies die Revision nur, wenn zugleich die Aufklärungspflicht verletzt ist (vgl. BGH StV 1996, 581 m.w.N.).