HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2003
4. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)



Entscheidung

BGH 5 ARs 61/03 - Beschluss vom 29. Oktober 2003

Absprache (Deal); Rechtsmittelverzicht (Unwirksamkeit; Willensbeeinflussung; Verwirkung einzelner Verfahrensrügen); faires Verfahren.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Vor § 1 StPO; § 302 Abs. 1 Satz 1 StPO

Der Senat stimmt den im Tenor des Anfragebeschlusses bezeichneten Rechtssätzen unter Aufgabe eigener entgegenstehender Rechtsprechung zu: Der Senat billigt nach erneuter Überprüfung anlässlich des Anfragebeschlusses die darin vertretene rechtliche Folgerung regelmäßiger Unwirksamkeit des in einer Verfahrensabsprache unzulässig vorab abgesprochenen Rechtsmittelverzichts.


Entscheidung

BGH 3 StR 316/02 - Urteil vom 11. September 2003 (LG Oldenburg)

Konfrontationsrecht / Fragerecht (audiovisuelle Vernehmung; Darlegungspflichten hinsichtlich der Verfahrensrüge: Fragekataloge); Aufklärungspflicht (Sperrerklärung; veränderte Umstände); Recht auf Verhandlung in angemessener Frist (rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung; Beschleunigungsgebot; besondere Beschleunigungspflicht nach vorangegangener Verzögerung); Verschlechterungsverbot (Erhöhungsverbot).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK; § 244 Abs. 2 StPO; § 358 Abs. 2 StPO; § 247 a StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Der Senat begrüßt das mit der Entscheidung BGH NJW 2003, 74 verfolgte Anliegen, gegenüber der bislang üblichen Vernehmung von polizeilichen Führungs- und Vernehmungsbeamten die Vertrauenspersonen selbst als Beweismittel in die Hauptverhandlung einzubringen und damit bessere Erkenntnismöglichkeiten für alle Verfahrensbeteiligten zu schaffen, insbesondere aber das Fragerecht nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK in weitergehendem Umfang zu gewährleisten.

2. Er hat jedoch Zweifel, ob dieses Ziel bei Wahrung der berechtigten Interessen der Vertrauensperson und der Innenbehörde in den nicht seltenen Fällen erreichbar ist, in denen die Vertrauenspersonen dem engeren Umfeld der Tätergruppe angehören und Befragungen zur Herkunft ihres Wissens und zu anderen Details nahe liegender Weise indirekt zur Offenlegung ihrer Identität führen können.

3. Das Verschlechterungsgebot nach § 358 Abs. 2 StPO gebietet lediglich, die nach Durchführung des Kompensationsvorganges gebildete herabgesetzte Strafe nicht höher zu bemessen als die jetzt verhängte Strafe (BGHSt 45, 308).


Entscheidung

BGH 2 StR 243/03 - Beschluss vom 13. August 2003 (LG Limburg)

Mord zur Befriedigung des Geschlechtstriebs; verminderte Schuldfähigkeit (paranoide Persönlichkeitsstörung); Überzeugungsbildung und Beweiswürdigung bei eindeutigem Sachverständigengutachten.

§ 211 StGB; § 20 StGB; § 21 StGB; § 261 StPO; § 267 StPO

Auch ein eindeutiges psychiatrisches Gutachten, dass eine bestimmte Motivation nach der "höchsten Wahrscheinlichkeit, die die Psychiatrie kenne" für gegeben hält, entbindet den Tatrichter nicht von der eigenen Würdigung der festgestellten inneren und äußeren Tatsachen.


Entscheidung

BGH 1 StR 292/03 - Beschluss vom 23. September 2003 (LG Karlsruhe)

Verwertbarkeit prozessordnungsgemäß festgestellter, wegen Verjährung aber nicht verfolgbarer Geschehen (Hinweispflichten; widersprüchliches Verhalten der Justiz; Vertrauensschutz); Strafzumessung (Beurteilungsspielraum; Verjährung; Vorleben; fremde Kulturvorstellung zur Gleichberechtigung).

§ 46 StGB; § 78 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 154 StPO; § 154a StPO

1. Eine Notwendigkeit, auf die Verwertbarkeit prozessordnungsgemäß festgestellten, wegen Verjährung aber nicht verfolgbaren Geschehens hinzuweisen, besteht nicht.

2. Soweit ein Hinweis zur Verwertung eines gemäß §§ 154, 154a StPO eingestellten Geschehens erforderlich ist, beruht dies darauf, dass anderenfalls das Verhalten der Justiz widersprüchlich und daher missverständlich erscheinen kann.

3. Es folgt zwingend aus dem Gesetz, dass eine Bestrafung wegen verjährten Geschehens nicht möglich ist: Ein Beurteilungsspielraum besteht insoweit nicht. Verjährte Taten blieben in jeder Hinsicht unberücksichtigt.

4. Ein Hinweis auf die Verwertbarkeit von Feststellungen der in Rede stehenden Art ist entbehrlich, wenn ein "Vertrauenstatbestand" nicht besteht. Ein Vertrauen kann nur verletzt sein, wo es zuvor geschaffen wurde, wo also der Angeklagte in eine Lage versetzt wurde, die sein Verteidigungsverhalten beeinflusst hat und bei verständiger Einschätzung der Verfahrenslage auch beeinflussen konnte (st. Rspr., vgl. nur BGHR StPO § 154 Abs. 1 Hinweispflicht 1, StPO § 154 Abs. 2 Hinweispflicht 2, 3, 4 m. zahlr. N.). Es lassen sich insoweit keine starren Regeln aufstellen, maßgeblich sind die Umstände des jeweiligen Verfahrens (vgl. BGHR StPO § 154 Abs. 1 Hinweispflicht 1).


Entscheidung

BGH 3 StR 199/03 - Beschluss vom 14. August 2003 (LG Oldenburg)

Besetzungsrüge; absoluter Revisionsgrund; Umfang und Schwierigkeit der Sache; Besetzungsbeschluss (Ermessen, Beurteilungsspielraum, nachträgliche Änderung; Willkür); gesetzlicher Richter; Vermögensschaden bei betrügerischen Warentermingeschäften; rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung.

§ 338 Nr. 1 StPO; § 76 Abs. 2 GVG; § 222 b StPO; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK

1. Nach § 76 Abs. 2 GVG steht der das Hauptverfahren eröffnenden Strafkammer bei der Entscheidung über ihre Besetzung in der Hauptverhandlung mit zwei oder drei Berufsrichtern kein Ermessen zu. Die Dreierbesetzung ist zu beschließen, wenn dies nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache notwendig erscheint. Bei der Auslegung dieser gesetzlichen Merkmale ist der Strafkammer indes ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt, bei dessen Ausfüllung die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (Bestätigung von BGHSt 44, 328, 334).

2. Bedeutsam für den Umfang der Sache sind etwa die Zahl der Angeklagten, Verteidiger und erforderlichen Dolmetscher, die Zahl der den Angeklagten vorgeworfenen Straftaten, die Zahl der Zeugen und anderen Beweismittel, die Notwendigkeit von Sachverständigengutachten, der Umfang der Akten sowie die zu erwartende Dauer der Hauptverhandlung. Die überdurchschnittliche Schwierigkeit der Sache kann sich aus der Erforderlichkeit umfangreicher Sachverständigengutachten, aus zu erwartenden Beweisschwierigkeiten oder aus der Komplexität der aufgeworfenen Sach- und Rechtsfragen ergeben.

3. Im Zweifel verdient die Dreierbesetzung den Vorzug, weil die Mitwirkung eines weiteren Berufsrichters es ermöglicht, die Aufgaben in der Hauptverhandlung sachgerechter zu verteilen und den Tatsachenstoff intensiver zu würdigen (Bestätigung von BGHSt 44, 328, 335)

4. Ein Verstoß gegen § 76 Abs. 2 GVG begründet die Revision allerdings nur dann, wenn die Strafkammer ihre Entscheidung auf sachfremde Erwägungen gestützt oder den ihr eingeräumten Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten hat, so dass ihre Entscheidung objektiv willkürlich erscheint (Bestätigung von BGHSt 44, 328, 333).

5. Da ein rechtsfehlerhafter Beschluss nach § 76 Abs. 2 GVG zur Folge hat, dass das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt ist, wird durch die nachträgliche Abänderung eines derartigen Beschlusses der Angeklagte nicht seinem gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entzogen, sondern gerade erst zugeführt. Daher ist eine nachträgliche Änderung nicht etwa ausgeschlossen, sondern vielmehr geboten, wenn der ursprüngliche Besetzungsbeschluss fehlerhaft war.

6. Bei betrügerischen Warentermingeschäften besteht der Vermögensschaden der Anleger in der Regel nicht in dem vollen gezahlten Optionspreis, sondern in der Differenz zwischen dem vereinbarten Kaufpreis und dem wirklichen Wert der Option, der sich aus den Beschaffungskosten (plazierte Börsenprämie zuzüglich Brokerkommission) und der Provision eines seriösen inländischen Maklers (marktüblich 20 %) zusammensetzt (vgl. BGHSt 32, 22, 23 ff.; BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vermögensschaden 59). Anders verhält es sich nur dann, wenn der Anleger über Eigenart und Risiken des Optionsgeschäfts derart getäuscht wird, dass er mit der Option etwas völlig anderes erwirbt, als er erwerben wollte, etwa wenn ihm der Erwerb einer Option als wertbeständige Geldanlage vorgespiegelt wird (BGHSt 32, 22, 23).


Entscheidung

BGH 2 BJs 11/03 - 5 AK 17/03 - Beschluss vom 21. Oktober 2003

Haftprüfung (Fortdauer / weiterer Vollzug der Untersuchungshaft; Beleg des Tatverdachts durch eine anonyme Aussage; Verhältnismäßigkeit); Recht auf Freiheit der Person (anonyme Vertrauensperson); Versuch der Gründung einer terroristischen Vereinigung (unmittelbares Ansetzen).

Art. 5 EMRK; § 129 a Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB; § 22 StGB; § 23 Abs. 1 StGB; § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 121 Abs. 1 StPO

1. Versucht ist eine Tat nicht nur dann, wenn der Täter bereits eine der Beschreibung des gesetzlichen Tatbestands entsprechende Handlung vornimmt bzw. ein Tatbestandsmerkmal verwirklicht. Vielmehr kann auch eine frühere, dem vorgelagerte Handlung bereits die Strafbarkeit wegen Versuchs begründen, wenn sie nach der Vorstellung des Täters bei ungestörtem Fortgang ohne Zwischenakte in die Tatbestandsverwirklichung unmittelbar einmündet oder mit ihr in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang steht. Für den Tatbestand der Gründung einer terroristischen Vereinigung kann im Regelfall davon ausgegangen werden, dass der Täter jedenfalls dann das Vorbereitungsstadium verlassen und zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar angesetzt hat, wenn er eine Person mit dem konkreten Ansinnen, diese als Mitglied der zu gründenden terroristischen Vereinigung zu rekrutieren, angesprochen hat.

2. Zum Beleg des dringenden Tatverdachts des Versuchs der Gründung einer terroristischen Vereinigung durch eine anonyme Zeugenaussage.


Entscheidung

BGH 5 StR 238/03 - Beschluss vom 18. Juni 2003 (LG Berlin)

Strafzumessung (rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung im Revisionsverfahren: Ablehnung der Verletzung wegen insgesamt vertretbar erscheinender Gesamtdauer des Verfahrens; besondere Bedeutung für den Angeklagten in Haftsachen).

§ 46 StGB; § 354a StPO; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

Auch wenn ein Verfahren, in dem der Angeklagte inhaftiert ist, nicht durchgängig mit der gebotenen Zügigkeit gefördert worden ist, so dass es letztlich zu gewissen Verfahrensverzögerungen gekommen ist, führt dies nicht zu einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung,

wenn dadurch noch keine insgesamt unangemessene Gesamtdauer des gegenständlichen Revisionsverfahrens eintritt (BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 9).


Entscheidung

BGH 1 StR 343/03 - Beschluss vom 23. September 2003 (LG Konstanz)

Erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit (Darstellungsmangel bei Abweichung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens von gegenteiligen ärztlichen Stellungnahmen; Sachverständiger).

§ 21 StGB; § 261 StPO

Will das Tatgericht im Anschluss an einen Sachverständigen eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit verneinen, obwohl das Tatgeschehen und eine ganze Reihe ärztlicher Befunde und gutachterliche Befunde das Gegenteil nahe legen, ist es ein durchgreifender Darstellungsmangel, wenn die Urteilsgründe nicht erkennbar machen, warum der gehörte Sachverständige von den zahlreichen vorherigen, die Voraussetzungen des § 21 StGB bejahenden ärztlichen Befunden und gutachtlichen Äußerungen abgewichen ist.