HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2001
2. Jahrgang
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III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)



Entscheidung

BGH 4 StR 477/00 - Urteil v. 8. März 2001 (LG Düsseldorf)

Unzulässige Aufklärungsrüge (Aufnahme von Lichtbildern); Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht; Körperverletzungsvorsatz und "Schrecksekunde"; Tötungsvorsatz (Gefährliche Handlung; voluntatives Element)

§ 244 Abs. 2 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO: § 223 StGB; § 16 StGB; § 15 StGB; § 212 Abs. 1 StGB

1. Eine zulässige Aufklärungsrüge setzt voraus, daß das Ergebnis konkret bezeichnet wird, das von der unterbliebenen Beweiserhebung zu erwarten gewesen wäre.

2. Ein Erfahrungssatz, daß innerhalb einer Sekunde ein Körperverletzungsvorsatz nicht gefaßt werden kann, besteht nicht; vielmehr ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß (im Straßenverkehr) Reaktionszeiten von unter einer Sekunde in Betracht kommen.

3. Zur Vorsatzprüfung bei besonders gefährlichen Handlung (erforderliche Gesamtbetrachtung, voluntatives Element).


Entscheidung

BGH 3 StR 324/00 - Urteil v. 24. Januar 2001 (OLG Düsseldorf)

Gesetzesvorbehalt; RAF; AIZ; Satellitengestütztes Navigationssystem "Global Positioning System" ("GPS") als sonstiges technisches Mittel; Annexkompetenz; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Eigenständige Qualität von Ermittlungsmaßnahmen durch Kumulation; Vornahme der für den Einsatz des technischen Mittels notwendigen Begleitmaßnahmen; Totalüberwachung; Abwägung; Längerfristige Observationen; Technische Mittel; Grundrechte, Unverletzlichkeit der Wohnung; Unantastbarer Kernbereich; Menschenwürde; Schutzes der Privatsphäre; Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung; Eigentumsfreiheit; Verwertungsverbot; Anordnungsvorbehalt des Richters für eine längerfristige Observation

§ 100 c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO; § 163 f StPO; Art 13 GG; Art 1 I GG; Art 2 I GG; Art 14 GG; Art 8 Abs. 1 EMRK

1. Die Beweisgewinnung unter Verwendung des satellitengestützten Navigationssystems "Global Positioning System" ("GPS") ist von § 100 c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO gedeckt. Diese Vorschrift gestattet den Strafverfolgungsbehörden im Wege der Annexkompetenz unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch die Vornahme der für den Einsatz des technischen Mittels notwendigen Begleitmaßnahmen. (BGHSt)

2. Trifft der Einsatz des "GPS" mit anderen je für sich zulässigen Eingriffsmaßnahmen zusammen und führt dies zu einer umfassenden Überwachung der Person, so kann das gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Bei der insoweit erforderlichen Abwägung kommt dem Gewicht der aufzuklärenden Straftat besondere Bedeutung zu. (BGHSt)

3. Werden für längerfristige Observationen technische Mittel im Sinne des § 100 c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO verwendet, so sind zusätzlich die Anordnungsvoraussetzungen des § 163 f StPO zu beachten. Bis zum Inkrafttreten dieser Vorschrift (1. November 2000) bestand keine richterliche Anordnungskompetenz. (BGHSt)

4. Der Einsatz der "GPS"-Technik greift nicht in das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) ein. Der unantastbare Kernbereich des durch Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutzes der Privatsphäre (vgl. BVerfGE 34, 238, 245 ff.; 80, 367, 373 ff.) und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (BVerfGE 65, 1, 41 ff.;) werden durch die Verwendung des "GPS" nicht berührt. Angesichts des erheblichen, verfassungsrechtlich anerkannten Interesses an der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten (BVerfGE 51, 324, 343) handelt es sich um eine vom Gesetzesvorbehalt gedeckte und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragende Grundrechtsbeschränkung. (Bearbeiter)

5. Von § 100 c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO wird im Wege der Annexkompetenz unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch die kurzzeitige Verbringung eines Fahrzeugs in eine Werkstatt gedeckt. (Bearbeiter)

6. Der Einsatz des "GPS" ist eine weniger grundrechtsintensive Überwachungsmethode, deren erforderliche richterliche Kontrolle im Strafverfahren erfolgt. (Bearbeiter)

7. Da § 163 f StPO ausschließlich auf die Dauer der Observation abstellt und keine Unterscheidung nach der Art der Überwachungsmethode trifft, gilt § 163 f StPO für jede längerfristige Observation unabhängig davon, ob sie mit oder ohne technische Mittel durchgeführt wird (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 2 BJs 61/00-2 (StB 1/01) - Beschluß v. 30. Januar 2001 (Ermittlungsrichter des BGH)

Beschwerde gegen Durchsuchungsanordnung; Zulässigkeit; Art und Weise; Effektiver Rechtsschutz; Feststellungsinteresse; Unverletzlichkeit der Wohnung; Begründung und Begründung der Durchsuchungsanordnung; Prozessuale Überholung; Meßbarkeit und Kontrollierbarkeit von Grundrechtseingriffen; Verhältnismäßigkeit; Rechtsstaatsprinzip

§§ 102, 105 StPO; § 98 Abs. 2 StPO; Art. 19 IV GG; Art 13 GG; Art 20 Abs. 3 GG

1. Einzelfall der zulässigen Beschwerde gegen die Rechtmäßigkeit einer Durchsuchungsanordnung obwohl die Durchsuchung bereits abgeschlossen ist (mit der Wohnungsdurchsuchung verbundene tiefgreifende Grundrechtseingriffe und Notwendigkeit eines effektiven Rechtsschutzes, BGH NJW 2000, 84, 85).

2. Rügen gegen die Art und Weise der vom Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs angeordneten Durchsuchung können lediglich durch einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung entsprechend § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO vorgebracht werden, in den der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs den unzulässigen Teil der Beschwerde umdeuten will.

3. Für die Zulässigkeit einer regelmäßig in einem frühen Stadium der Ermittlungen in Betracht kommenden Durchsuchung genügt der auf bestimmte tatsächliche Anhaltspunkte gestützte konkrete Verdacht, daß eine Straftat begangen worden ist und der Verdächtige als Täter oder Teilnehmer in Betracht kommt (BGH NJW 2000, 84, 85 m.w.Nachw.) aus.


Entscheidung

BGH 2 ARs 18/01 - Beschluß v. 16. Februar 2001 (Anfrage des 4. Strafsenats - 4 StR 414/00)

Letztes Wort des Angeklagten nach Verkündung eines Einstellungsbeschlusses (Wiedereintreten in die Verhandlung)

§ 258 Abs. 2 StPO

Auch die Verkündung eines Einstellungsbeschlusses kann im Einzelfall ein Wiedereintreten in die Verhandlung sein mit der Folge, daß erneut das letzte Wort zu erteilen ist.


Entscheidung

BGH 1 StR 454/00 - Urteil v. 30. Januar 2001 (LG Hechingen)

Mordmerkmale der "Heimtücke"; "niedrige Beweggründe"; Besondere Schwere der Schuld; Beschuldigtenbelehrung (Beschuldigteneigenschaft)

§ 211 StGB; § 57a Abs. 1 StGB; § 136 Abs. 1 S.2 StPO

1. Nicht jeder Tatverdacht begründet bereits die Beschuldigteneigenschaft mit entsprechender Belehrungspflicht, es kommt vielmehr auf die Stärke des Tatverdachts an.

2. Nach pflichtgemäßer Beurteilung der Strafverfolgungsbehörde ist dann von der Zeugen- zur Beschuldigtenvernehmung überzugehen, wenn sich der Verdacht so verdichtet hat, daß die vernommene Person ernstlich als Täter der untersuchten Straftat in Betracht kommt.


Entscheidung

BGH 2 StR 528/00 - Beschluß v. 19. Januar 2001 (LG Frankfurt am Main)

Verletzung der Hinweispflicht bei Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes; Fürsorgepflicht; Faires Verfahren; Vertrauensgrundsatz

§ 265 StPO; Art. 6 EMRK

1. Auch unter dem Gesichtspunkt fairer Verfahrensgestaltung ist in der Hauptverhandlung ein Zwischenverfahren, in dem sich das Gericht zu Inhalt und Ergebnis einzelner Beweiserhebungen erklären müßte, nicht vorgesehen (vgl. im einzelnen BGHSt 43, 212 ff.).

2. Erteilt das Gericht über seine Hinweispflicht hinaus vor der Urteilsberatung einen spezifizierten Hinweis, muß es die mit ihm verbundene Zusage einhalten.


Entscheidung

BGH 4 StR 542/00 - Beschluß v. 20. Februar 2001 (LG Schwerin)

Konkurrenzen zwischen verschiedenen Betäubungsmittelstraften; Fehlende Gewährung des letzten Wortes für den Angeklagten (Beruhen)

§§ 29 ff. BtMG; § 258 Abs. 2 StPO; § 29 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BtMG; § 337 StPO

1. Der Strafzumessungsregel des § 29 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BtMG kommt gegenüber dem Tatbestand des § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG keine eigenständige Bedeutung zu (BGH NStZ 1994, 39).

2. Der Verfahrensverstoß der Nichterteilung des letzten Wortes des Angeklagten stellt keinen absoluten Revisionsgrund dar, jedoch kann die Möglichkeit, daß das Urteil auf ihm beruht, nur in besonderen Ausnahmefällen ausgeschlossen werden (vgl. BGHSt 22, 278, 280).