HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2000
1. Jahrgang
PDF-Download

III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)



Entscheidung

BGH 3 StR 401/99 - Urteil v. 22. Dezember 1999 (LG Dortmund)

Entbindung eines Arztes von der Schweigepflicht; Verwertung dieser Tatsache

§§ 53 Abs. 1 Nr. 3, 261 StPO

1. Verweigert ein umfassend schweigender Angeklagter die Entbindung eines Zeugen von der Schweigepflicht, darf hieraus kein belastendes Indiz gegen ihn hergeleitet werden (Ergänzung zu BGHSt 20, 298 f.). (BGHSt)

2. Steht in Frage, ob eine Person bei einem Arzt in Behandlung war, so hat dieser ein Zeugnisverweigerungsrecht, gleich ob er die Frage bejahen oder verneinen müßte. Über die Entbindung von der Schweigepflicht hat der mutmaßliche Patient zu entscheiden, gleich ob er tatsächlich in Behandlung war oder nicht. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 1 StR 221/99 - Urteil v. 18. November 1999 (LG München)

Verleitung zu einer Straftat in einer dem Staat zuzurechnenden Weise; Grundsatz des fairen Verfahrens; Tatprovokation durch Lockspitzel; Agent provocateur; Vertrauensperson der Polizei; Schuldunabhängiger Strafmilderungsgrund; Voraussetzungen für den Einsatz von Vertrauenspersonen; Rechtswirkung der MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK, § 46 StGB

1. Wird eine unverdächtige und zunächst nicht tatgeneigte Person durch die von einem Amtsträger geführte Vertrauensperson in einer dem Staat zuzurechnenden Weise zu einer Straftat verleitet und führt dies zu einem Strafverfahren, liegt darin ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK. Dieser Verstoß ist in den Urteilsgründen festzustellen. Er ist bei der Festsetzung der Rechtsfolgen zu kompensieren. Das Maß der Kompensation für das konventionswidrige Handeln ist gesondert zum Ausdruck zu bringen. (BGHSt)

2. Selbst die Überschreitung der Grenzen zulässigen Lockspitzeleinsatzes führt nicht zu einem Verfahrenshindernis eigener Art "wegen Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs" aufgrund widersprüchlichen Verhaltens (St. Rspr., Bearbeiter).

3. Die MRK ist als Bundesgesetz Bestandteil des deutschen Rechts und ist als Auslegungshilfe bei der Anwendung nationalen Rechts zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei den in einem Strafverfahren angewendeten Gesetzen stets zu prüfen, ob die Anwendung und Auslegung im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland steht. (Bearbeiter)

4. Die Vorschriften der StPO zum Einsatz Verdeckter Ermittler (§§ 110a bis 110e) sind auf Vertrauenspersonen, deren Einsatz auf die Generalklauseln der §§ 161, 163 StPO gestützt wird, nicht entsprechend anwendbar (BGHSt 41, 42, 44).

5. Zu den Voraussetzungen des staatlich zurechenbaren Einsatzes von Vertrauenspersonen. (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 2 StE 9/91 (StB 1/2000) - Beschluß v. 28. Januar 2000 (OLG Stuttgart)

Aussetzung des Strafrestes; Mündliche Anhörung vor Entscheidung über Aussetzung; Notwendigkeit eines Sachverständigengutachtens für die Aussetzungsentscheidung

§§ 454 Abs. 1 Satz 2 und 3, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO; § 57 Abs.1 StGB

1. Von der mündlichen Anhörung kann über die im Gesetz genannten Ausnahmen hinaus auch dann abgesehen werden, wenn der Verurteilte ausdrücklich erklärt hat, er wolle nicht angehört werden (im Anschluß an BGH NStZ 1995, 610). (BGH)

2. Die Strafvollstreckungskammer kann vor ihrer Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung von der Einholung eines Sachverständigengutachtens absehen, wenn eine Aussetzung offensichtlich nicht verantwortet werden kann und das Gericht deshalb die Strafaussetzung nicht in Betracht zieht. (BGH)


Entscheidung

BGH 3 StE 7/94 - 1 (2) (StB 1/99) - Beschluß v. 05. November 1999 (OLG Frankfurt/Main)

Zulässigkeit einer Beschwerde gegen Beschlüsse des OLG; Sofortige Beschwerde gegen Auslagenbeschluß eines OLG nach Einstellung des Verfahrens wegen Verfahrenshindernisses ist unzulässig

§§ 304 Abs. 4 Satz 2, 2. Halbs.; 476 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO

1. Eine Auslagenentscheidung des Oberlandesgerichts in einem das Verfahren wegen eines Verfahrenshindernisses einstellenden Beschluß ist grundsätzlich nicht isoliert anfechtbar. (BGH)

2. Stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluß außerhalb der Hauptverhandlung wegen eines Verfahrenshindernisses ein, so kann es davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen, wenn ein auf die bisherige Beweisaufnahme der ausgesetzten Hauptverhandlung gestützter erheblicher Tatverdacht besteht und keine Umstände erkennbar sind, die bei einer neuen Hauptverhandlung die Verdichtung des Tatverdachts zur prozeßordnungsgemäßen Feststellung der Tatschuld in Frage stellen würden. (BGH)


Entscheidung

BGH 5 StR 640/99 - Beschluß v. 10. Januar 2000 (LG Neuruppin)

Pädophilie (bei Bestreiten der Tat durch den Angeklagten); Schwere seelische Abartigkeit; Sexueller Mißbrauch von Kindern

§ 21 StGB; § 176 StGB; § 78 StPO

Der Tatrichter muß dem psychiatrischen Sachverständigen aufgeben, bei seiner Begutachtung in Rechnung zu stellen, daß der Angeklagte pädophile Neigungen lediglich in Konsequenz zu seiner bestreitenden Einlassung geleugnet haben könnte.


Entscheidung

BGH 4 StR 569/99 - Beschluß v. 25. Januar 2000 (LG Kaiserslautern)

Zulässigkeit von Rechtsmitteln gegen die Entscheidung im Adhäsionsverfahren; Formvorschriften über die Einlegung der Revision; Ausdrücklicher Revisionsantrag; Zweifelsfreies Revisionsziel; Verfahrensrüge

§ 406a Abs. 2 Satz 1 StPO; § 344 StPO

1. Geht der Angeklagte nach § 406a Abs. 2 Satz 1 StPO mit dem Rechtsmittel der Revision allein gegen die Entscheidung im Anhangsverfahren vor, gelten auch insoweit die Formvorschriften über die Einlegung der Revision.

2. Das Fehlen ausdrücklicher Revisionsanträge (§ 344 Abs. 1 StPO) ist unschädlich, wenn sich dem Inhalt der Revisionsschriften eindeutig das verfolgte Ziel entnehmen lässt (vgl. BGHR StPO § 344 Abs. 1 Antrag 4).

3. Die Revisionsschrift muß gemäß § 344 Abs. 2 Satz 1 StPO erkennen lassen, ob das Urteil wegen einer Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen der Verletzung sachlichen Rechts angefochten wird. Zwar muss im Gegensatz zu der Verfahrensrüge die Sachrüge nicht weiter begründet werden. Sie muss aber zweifelsfrei erhoben werden; die Revisionseinlegung allein, ebenso die Beschränkung auf bestimmte Beschwerdepunkte - hier auf das Adhäsionsverfahren - kann nicht als Erhebung der Sachrüge angesehen werden (vgl. z.B. BGH NJW 1991, 710; BGH NStZ 1991, 597).


Entscheidung

BGH 4 StR 583/99 - Beschluß v. 18. Januar 2000 (LG Berlin)

(Verminderte) Schuldfähigkeit; Prüfungsanforderungen; Alkohol; Persönlichkeitsstörung; Einsichtsfähigkeit; Steuerungsfähigkeit; Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt (Voraussetzungen); Borderline; Mangelnde Therapiemotivation

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB; § 64 StGB; § 72 StGB; § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB

1. Zur erforderlichen Prüfung der Schuldunfähigkeit beim Zusammenwirken von erheblicher Alkoholisierung, affektiver Belastung und der bei dem Angeklagten festgestellten Persönlichkeitsstörung.

2. Ohne eine abschließende Klärung der Art der bei dem Angeklagten festgestellten Persönlichkeitsstörung läßt sich eine sichere Aussage darüber, ob diese als schwere seelische Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB zu qualifizieren ist, nicht treffen.

3. Zur Bedeutung von psychodiagnostischen Kriterien im Einzelfall.

4. Eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus kommt grundsätzlich in Betracht, wenn der Täter an einer krankhaften Alkoholsucht leidet oder in krankhafter Weise alkoholüberempfindlich ist. Es kann aber auch dann ein die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus rechtfertigender Zustand anzunehmen sein, wenn zwar erst die aktuelle Alkoholintoxikation den Ausschluß der Schuldfähigkeit oder deren erhebliche Verminderung bewirkt hat, der Täter aber an einer länger dauernden krankhaften geistig-seelischen Störung leidet und als Auslösungsfaktor für den Zustand im Sinne der §§ 20, 21 StGB alltägliche Ereignisse in Betracht kommen (vgl. BGH StV 1999, 486 = NJW 1999, 3422, BGHSt 44, 338).

5. Die Anordnung der Maßregel nach § 64 StGB setzt von Verfassungs wegen die hinreichend konkrete Aussicht eines Behandlungserfolges voraus (BVerfGE 91, 1 = NStZ 1994, 578). Es genügt für die Annahme der Aussichtslosigkeit noch nicht, daß der Angeklagte keine Einsicht in seine Mißbrauchsproblematik hat. Eine solche mangelnde Einsicht kann ebenso wie mangelnde Therapiemotivation zwar ein Indiz dafür sein, daß eine Entwöhnungsbehandlung keine Erfolgschancen hat. Andererseits bedarf es in solchen Fällen der Prüfung und Darlegung, daß auch mit therapeutischen Bemühungen eine positive Beeinflussung des Angeklagten nicht zu erreichen wäre (BGHR StGB § 64 Abs. 1 Erfolgsaussicht 7).

6. Einzelfall der verfehlten Anwendung des § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB (Erzieherische Gründe als Pauschalbehauptung, die aus dem Urteil nicht ersichtlich sind).


Entscheidung

BGH 1 StR 537/99 - Beschluß v. 2. Februar 2000 (LG München I)

Aussetzung des Verfahrens bei Verteidigerwechsel; Veränderung der Sachlage

§ 265 Abs. 4 StPO; § 338 Nr. 8 StPO

1. Zur Aussetzung des Verfahrens bei Verteidigerwechsel. (BGH)

2. Nach § 265 Abs. 4 StPO ist das Gericht verpflichtet, die Hauptverhandlung auszusetzen, wenn dies wegen veränderter Sachlage zu einer genügenden Vorbereitung der Verteidigung angemessen erscheint. Eine Veränderung der Sachlage kann auch durch einen Wechsel des Verteidigers eintreten (BGH NJW 1965, 2164, 2165; Bearbeiter).

3. Es wird immer von den Umständen des einzelnen Falles abhängen, ob die Anwesenheit desselben Verteidigers bei allen Teilen der Hauptverhandlung für eine sachgemäße Durchführung der Verteidigung unbedingt notwendig ist (BGHSt 13, 337, 340; Bearbeiter).

4. Ob eine andere Beurteilung angezeigt sein könnte, wenn die Mandatsniederlegung erfolgte, um einen Abbruch der Hauptverhandlung zu erzwingen, kann dahingestellt bleiben.


Entscheidung

BGH 1 StR 633/99 - Beschluß v. 11. Januar 2000 (LG Heilbronn)

Aufklärungspflicht; Doppelrelevante Tatsache; Alter des Angeklagten

§ 244 Abs. 2 StPO

Bei der Frage nach dem Alter des Angeklagten handelt es sich um eine doppelrelevante Tatsache. Sie betrifft nicht nur die gerichtliche Zuständigkeit sondern im Hinblick auf die unterschiedlichen Rechtsfolgen, die das Gesetz für Erwachsene einerseits und Heranwachsende andererseits vorsieht, auch die Anwendung des materiellen Rechts (BGH StV 1982, 101). Daher ist das Revisionsgericht an entsprechende Feststellungen gebunden, soweit sie rechtsfehlerfrei getroffen sind.


Entscheidung

BGH 4 StR 635/99 - Beschluß v. 1. Februar 2000 (LG Dortmund)

Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur weiteren Begründung der Revision; Verspätete Begründung nachträglicher Verfahrensrügen

§§ 44 f. StPO

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung einzelner Verfahrensrügen kann ausnahmsweise dann erfolgen, wenn dem Verteidiger trotz angemessener Bemühungen vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist keine Akteneinsicht gewährt wurde und Verfahrensrügen nachgeschoben werden sollen, die ohne Aktenkenntnis nicht begründet werden können (BGH NStZ 1997, 45, 46).


Entscheidung

BGH 4 StR 547/99 - Beschluß v. 2. Dezember 1999 (LG Essen)

Hilfsbeweisantrag; Kronzeugenregelung

§ 244 Abs. 2 StPO; § 31 Nr. 1 BtMG

1. Nach § 31 Nr. 1 BtMG kann sich der Täter Strafmilderung verschaffen, wenn er die Tat über seinen eigenen Tatbeitrag hinaus offenlegt und die Offenbarung zu einem Aufklärungserfolg führt (BGH NStZ 1984, 28; BGH StV 1986, 436). Einen solchen Aufklärungsbeitrag leistet der Täter allerdings nicht bereits durch die bloße Benennung von Mittätern, Auftraggebern und Abnehmern. Er muß vielmehr auch konkrete Angaben über deren Beteiligung an der Tat machen (vgl. BGHR BtMG § 31 Nr. 1 Aufdeckung 11; BGH NStZ-RR 1998, 25). Zudem muß seine Darstellung einer Überprüfung durch die Strafverfolgungsbehörden standhalten (BGHSt 31, 163, 166) und wesentlich zu einem nach Überzeugung des Gerichts - voraussichtlich erfolgreichen Abschluß der Strafverfolgung beitragen (BGH StV 1985, 14, 15, BGHR BtMG § 31 Nr. 1 Aufdeckung 1, 10).

2. Einzelfall einer rechtsfehlerhaften Ablehnung eines Hilfsbeweisantrages.