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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: EGMR, Nr. 25116/94, Urteil v. 13.02.2001, HRRS-Datenbank, Rn. X


EGMR Nr. 25116/94 - Urteil vom 13. Februar 2001 (Schöps v. Deutschland)

Recht auf Akteneinsicht bei der Haftprüfung (nicht nur auszugsweise Einsicht in die wesentlichen Verfahrensakten; schriftliche Information; faires Verfahren: kontradiktorisches Verfahren und Waffengleichheit; wirkliche Stellungnahme; mündliche Verhandlung; Verzicht; Antragsobliegenheiten und Verbot des übertriebenen Formalismus; praktisch wirksame Gewährung der Konventionsrechte); Recht auf Freiheit und Sicherheit (Rechtmäßigkeit).

Art. 5 Ab. 1, Abs. 4 EMRK; Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. b EMRK; § 147 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass ein Beschuldigter, der eine Versagung der Einsichtnahme in Ermittlungsakten rügt, zwar grundsätzlich in angemessener Weise gemäß dem innerstaatlichen Recht um Einsichtnahme ersucht haben muss, das Fehlen eines entsprechenden Vermerks in den Verfahrensakten allein jedoch keinen hinreichenden Beweis dafür darstellt, dass kein entsprechender Antrag gestellt worden ist.

2. Der Verzicht auf ein nach der Konvention garantiertes Recht ist eindeutig festzulegen, damit diesem - wenn überhaupt - Wirksamkeit verliehen werden kann, wobei ein Verzicht auf Verfahrensrechte darüber hinaus die Einhaltung von Mindestgarantien verlangt, die der Bedeutung der Sache entsprechen.

3. Ein Gericht, das eine Haftbeschwerde prüft, muss die Garantien eines gerichtlichen Verfahrens bieten. Das Verfahren muss kontradiktorisch sein und stets Waffengleichheit zwischen den Prozessparteien - dem Staatsanwalt und der Person, der die Freiheit entzogen ist - gewährleisten. Die Waffengleichheit ist nicht gewährleistet, wenn dem Verteidiger der Zugang zu denjenigen Schriftstücken in der Ermittlungsakte versagt wird, die für die wirksame Anfechtung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung seines Mandanten wesentlich sind. Im Fall einer Person, deren Freiheitsentziehung unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c fällt, ist eine mündliche Verhandlung erforderlich.

4. In einer Strafsache bedeutet dies, dass sowohl der Staatsanwaltschaft als auch der Verteidigung Gelegenheit gegeben werden muss, die von der anderen Prozesspartei vorgelegten Schriftsätze und Beweismittel zur Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Nach der Spruchpraxis des Gerichtshofs ergibt sich aus dem Wortlaut des Artikels 6 - und insbesondere aus der eigenständigen Bedeutung, die dem Begriff der ,,strafrechtlichen Anklage" beizulegen ist -, dass diese Bestimmung in gewisser Weise auch für Verfahren gilt, die vor der Hauptverhandlung stattfinden. Es muss dabei gewährleistet sein, dass der anderen Prozesspartei zur Kenntnis gelangt, dass Schriftsätze eingereicht worden sind, und sie wirklich Gelegenheit hat, dazu Stellung zu nehmen.

5. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist es für einen Beschuldigten kaum möglich, die Glaubwürdigkeit einer Sachverhaltsschilderung durch das für die Untersuchungshaft eintretende Gericht wirksam zu erschüttern, wenn ihm die ihr zugrunde liegenden Beweismittel nicht zur Kenntnis gebracht wurden. Dem Beschuldigten muss hinreichend Gelegenheit gegeben werden, Aussagen und andere diesbezügliche Beweismittel wie z.B. die Ergebnisse polizeilicher und sonstiger Ermittlungen zur Kenntnis zu nehmen, gleichviel, ob der Beschuldigte einen Nachweis erbringen kann, dass die Beweisstücke, zu denen er Zugang begehrt, für seine Verteidigung relevant sind.

SACHVERHALT

I. DER HINTERGRUND DER RECHTSSACHE

7. Der 1953 geborene Beschwerdeführer ist deutscher Staatsangehöriger und in Essen wohnhaft.

8. Seit Anfang 1992 ermittelte die Staatsanwaltschaft Essen gegen den Beschwerdeführer und zahlreiche weitere Beschuldigte wegen Betrugs.

9. Am 11. März 1993 erließ das Amtsgericht Essen gegen den Beschwerdeführer sowie zwei weitere Verdächtige, Frau S. und Frau L., Haftbefehl. Sie wurden beschuldigt, eine kriminelle Vereinigung gegründet, sich im Drogenhandel betätigt und in mehreren Fällen Betrug begangen zu haben. In seiner Entscheidung stellt das Amtsgericht darauf ab, dass den Beschuldigten zur Last gelegt worden sei, sie hätten sich Ende Dezember 1988 zusammengeschlossen, um durch betrügerische Optionsgeschäfte hohe Gewinne zu erzielen. Ferner seien die Beschuldigten ab Mitte 1990 übereingekommen, aus Mallorca Kokain in die Bundesrepublik Deutschland einzuführen und es dort abzusetzen. Sie hätten weitere Mitglieder für diese kriminelle Vereinigung gewonnen und seien in die zahlreichen Straftaten verwickelt gewesen. Seit Gründung der kriminellen Vereinigung im Jahre 1989 bis März 1993 seien fast 1.000 Personen durch die betrügerischen Optionsgeschäfte betrogen worden, und ihnen sei ein Gesamtschaden von 60 Mio. DM entstanden. Darüber hinaus seien zwischen Oktober 1990 und August 1992 mehrere 100 kg Kokain nach Deutschland eingeführt und dort abgesetzt worden. Das Amtsgericht hielt den Beschwerdeführer und die beiden Mitbeschuldigten, Frau S. und Frau L., aufgrund von Zeugenaussagen, Angaben von Beschuldigten, den Ergebnissen einer Telefonüberwachung sowie des übrigen Ermittlungsergebnisses für dringend verdächtig, die fraglichen Straftaten begangen zu haben.

Das Amtsgericht nahm Flucht- und Verdunkelungsgefahr gemäß §112 Abs. 2 Ziff. 2 der Strafprozessordnung (StPO) an. Das Gericht stellte in diesem Zusammenhang fest, dass die Beschuldigten aufgrund der Schwere der ihnen zur Last gelegten Straftaten und der Höhe des von ihnen verursachten Schadens mit einer längeren Freiheitsstrafe zu rechnen hätten. Ferner verfügten die Beschuldigten offensichtlich über die für eine Flucht erforderlichen finanziellen Mittel. Darüber hinaus bestehe auch Verdunkelungsgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Ziff. 3, weil sie es als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung gewohnt waren, durch den Einsatz von ,,Strohmännern" und fingierte Verträge den Umfang ihrer Aktivitäten zu verschleiern und daher davon ausgegangen werden müsse, dass sie Beweismittel beiseite schaffen oder Zeugen beeinflussen.

Der Beschwerdeführer wurde am 19. März 1993 verhaftet. Ihm wurde in Anwesenheit seines Verteidigers, Herrn Hütsch, vom Haftrichter eröffnet, welche Taten ihm zur Last gelegt wurden. Darüber hinaus wurde ihm der Haftbefehl vom 11. März 1993 bekannt gegeben. Der Beschwerdeführer äußerte sich hierzu nicht, stellte aber einen Antrag auf mündliche Haftprüfung, den er aber anschließend zurückzog.

Der Beschwerdeführer behauptet, dass sein Verteidiger bereits im März 1993 bei der Staatsanwaltschaft Essen Einsichtnahme in die Ermittlungsakten begehrt habe; dieser Antrag sei aber mit der Begründung abgewiesen worden, dass der Zugriff auf diese Schriftstücke das Ermittlungsverfahren gefährde. Jedoch sind weder der Antrag noch dessen Abweisung in den Akten der Staatsanwaltschaft aufgeführt.

In dem anschließenden Verfahren wurde der Verteidiger des Beschwerdeführers von einem Kollegen, Herrn Küpper-Fahrenberg, unterstützt.

Am 3. Mai 1993 wurde der Beschwerdeführer von Polizeibeamten in Anwesenheit seines Verteidigers zu den ihm zur Last gelegten Handlungen vernommen. Er wies darauf hin, dass er seinen Anwalt zwischenzeitlich mehrfach konsultiert habe. Bei weiteren Befragungen, die am 5. und 6. Mai sowie am 13. und 20. Juli 1993 überwiegend im Beisein seines Verteidigers stattfanden, wurde der Beschwerdeführer zu den gegen ihn erhobenen Tatvorwürfen eingehend befragt, insbesondere zum Inhalt von Telefongesprächen, die aufgrund der im Mai 1992 angeordneten Telefonüberwachung aufgenommen worden waren.

Am 8. September 1993 erließ das Amtsgericht Essen einen neu gefassten und ergänzten Haftbefehl, in den insbesondere die Beschuldigungen der Steuerhinterziehung, der Bestechung, der Anstiftung zur Falschbeurkundung im Amt sowie der Abgabe einer falschen Versicherung an Eides statt neu aufgenommen wurden. Das Gericht bestätigte hinsichtlich des Beschwerdeführers und der anderen Beschuldigten fortbestehende Fluchtgefahr; weniger einschneidende Maßnahmen könnten nur im Hinblick auf Frau S. getroffen werden. Demnach könne der Vollzug des gegen Frau S. erlassenen Haftbefehls ausgesetzt werden, gegen den Beschwerdeführer und Frau L sei dagegen die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen.

15. Am 14. September 1993 wurde dem Beschwerdeführer der neu gefasste Haftbefehl eröffnet. Der Verteidiger stellte daraufhin einen Antrag auf Akteneinsicht. Es wurde jedoch nichts veranlasst, weil die Zweitakten, eine Kopie der Akten, zum Zwecke eines Haftprüfungsverfahrens bereits an das Oberlandesgericht Düsseldorf weitergeleitet worden waren und die Originalakten für das laufende Ermittlungsverfahren benötigt wurden.

Am 14. September 1993 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft Hamm die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers und der Frau L. In ihrem Antrag, dem 24 Bände Ermittlungsakten beigefügt waren, fasste die Generalstaatsanwaltschaft die Verfahrensgeschichte und die Vorwürfe gegen die Beschuldigten zusammen. Hinsichtlich des Beweismaterials wurde auf den Haftbefehl und einen Polizeibericht von 1993 in den beigefügten Akten Bezug genommen. Die Generalstaatsanwaltschaft begründete das Vorliegen des dringenden Tatverdachts mit Erklärungen der Beschuldigten und Zeugenaussagen, einem Börsenfachgutachten, Ergebnissen einer Telefonüberwachung und beschlagnahmten Geschäftsunterlagen, die Bestandteil der Ermittlungsakten sind. Sie bestätigte auch das Vorliegen der Fluchtgefahr.

In seiner Erwiderung vom 21. Oktober 1993 beantragte der Verteidiger des Beschwerdeführers beim Oberlandesgericht Düsseldorf die Einsichtnahme in die Ermittlungsakten, eine mündliche Verhandlung zwecks Prüfung der Fortdauer der Haft des Beschuldigten und dessen Freilassung. Er legte dar, dass er zu den Einlassungen der Staatsanwaltschaft nicht im Einzelnen Stellung nehmen könne, weil er bisher noch keine Einsicht in die Ermittlungsakten erhalten habe; die Erklärungen des Staatsanwalts seien unvollständig und für ihn daher nicht hinreichend stichhaltig.

Ausweislich eines Aktenvermerks der Berichterstatterin des Oberlandesgerichts Düsseldorf erklärte der Verteidiger des Beschwerdeführers auf telefonische Anfrage, er sei mit einer Entscheidung zur Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers ohne vorherige Akteneinsicht einverstanden. Nach Angaben des Beschwerdeführers, die sein Verteidiger, Herr Hütsch, und dessen Kollege, Herr Pott, bestätigten, seien der Verteidiger und der Berichterstatter jedoch einig gewesen, dass der Verteidiger erst nach Akteneinsicht zur Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers Stellung nehmen könne und das Oberlandesgericht daher für die Einsichtnahme Sorge tragen würde.

Am 3. November 1993 beschloss das Oberlandesgericht Düsseldorf die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers. Das Oberlandesgericht bestätigte, dass der Beschuldigte nach dem Ergebnis der bisherigen Ermittlungen, nämlich aufgrund der Einlassungen des Beschuldigten und der Mitbeschuldigten, der Angaben der Geschädigten, der Telefonüberwachungsprotokolle, der sichergestellten Geschäftsunterlagen und eines vorläufigen Börsenfachgutachtens der dort genannten Straftaten dringend verdächtig sei. Im Hinblick auf die Fluchtgefahr stellte das Oberlandesgericht fest, dass der Beschuldigte über erhebliche finanzielle Mittel und Grundbesitz in Mallorca verfüge. Darüber hinaus habe er bis zu seiner Festnahme Kontakte in die USA, in die Schweiz und nach Liechtenstein unterhalten.

Die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers sei auch nicht unverhältnismäßig. Im Hinblick auf die Führung des Ermittlungsverfahrens stellte das Oberlandesgericht fest, dass die besondere Schwierigkeit und der besondere Umfang der Ermittlungen ein Urteil bisher nicht zugelassen hätten. Es handele sich vorliegend um ein inzwischen aus 24 Aktenbänden bestehendes Ermittlungsverfahren; die Anklageerhebung sei für November 1993 vorgesehen. Ferner bestehe kein Anlass zu einer mündlichen Haftprüfung.

Am 22. November 1993 verfügte die Staatsanwaltschaft Essen, dem Verteidiger des Beschwerdeführers Akteneinsicht zu gewähren. Nach Angaben des Beschwerdeführers seien ihm nur 22 der damals 24 Aktenbände zugänglich gemacht worden. Diese seien im Januar 1994 zurückgereicht worden. Sein Verteidiger habe Anfang 1994 einen Antrag auf weitere Akteneinsicht gestellt.

Am 7. Februar 1994 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft Hamm unter Vorlage der Ermittlungsakten, die 69 Bände sowie 3 Beiakten umfassten, beim nun zuständigen Oberlandesgericht Hamm, die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers anzuordnen. In seinem Schriftsatz vom 28. Februar 1994 wies der Verteidiger des Beschwerdeführers darauf hin, dass ihm bisher nur 22 Aktenbände zur Einsichtnahme überlassen worden seien und er zu einer über seine früheren Äußerungen hinausgehenden Stellungnahme daher nicht in der Lage sei.

Am 1. März 1994 erging Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm, mit dem dem Antrag vom 7. Februar 1994 stattgegeben und die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers angeordnet wurde. Das Oberlandesgericht stellt fest, dass die in dem früheren Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf dargelegten Erwägungen noch zuträfen. Die Ermittlungen seien vorangeschritten. Die Polizei habe im Januar 1994 einen Zwischenbericht erstellt, der den Hinweis enthielt, dass die Befragung der über tausend Zeugen fast abgeschlossen sei. Der Abschlussbericht sowie der Bericht der Steuerfahndungsbehörden seien für Ende Februar 1994 in Aussicht gestellt. Die Staatsanwaltschaft beabsichtige, die Anklage unmittelbar nach der Erstellung des Berichts zu fertigen. Somit sei der Beschleunigungsgrundsatz nicht missachtet worden.

Das Oberlandesgericht stellte ferner fest, dass die Beschwerde des Beschwerdeführers aufgrund von Artikel 5 Absatz 4 der Konvention wegen Versagung der Einsichtnahme in die Ermittlungsakten sich auf die Rechtsgültigkeit des Haftbefehls nicht auswirke.

Am 25. März 1994 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht gegen die Beschlüsse vom 3. November 1993 und

1. März 1994. Er rügte insbesondere die nicht ausreichende Gewährung von Einsichtnahme in die Ermittlungsakten. Er führte aus, ihm sei lediglich in 22 Bände Ermittlungsakten Einsicht gewährt worden, obwohl zu dieser Zeit bereits insgesamt 132 Aktenbände existiert hätten. Er und sein Verteidiger seien daher nicht in der Lage gewesen, zu dem gegen den Beschwerdeführer erhobenen Tatvorwurf Stellung zu nehmen und die Verteidigungsrechte effektiv auszuüben.

Durch Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Mai 1994 wurde die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers nicht zur Entscheidung angenommen.

Am 25. März 1994 stellte die Staatsanwaltschaft Essen die Anklageschrift gegen den Beschwerdeführer und vier weitere Beschuldigte fertig, denen zahlreiche Straftaten vorgeworfen wurden. In der Anklageschrift wurden dem Beschwerdeführer Betrug in 91 Fällen, Bestechung, Anstiftung zur Falschbeurkundung im Amt und Abgabe einer falschen Versicherung an Eides Statt vorgeworfen. Das Verfahren wegen der steuerrechtlichen Vorwürfe wurde von dem eigentlichen Verfahren abgetrennt. Das Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung wurde angesichts der Schwere der anderen Tatvorwürfe unterbrochen. Die Anklageschrift, die die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Handlungen, den maßgeblichen Sachverhalt und die Beweismittel im Einzelnen darlegte, wurde dem Beschwerdeführer am 9. Juni 1994 zugestellt.

Am 9. Juni 1994 leitete die Staatsanwaltschaft Essen dem Verteidiger des Beschwerdeführers eine Kopie der Ermittlungsakten - bestehend aus 132 Bänden nebst 2 Beiakten, insgesamt 16.000 Seiten - zur Einsichtnahme für eine Woche zu. Sie erbat Rücksendung innerhalb einer Woche, da den anderen Anwälten ebenfalls Akteneinsicht gewährt werden solle. Am 23. Juni 1994 hat die Staatsanwaltschaft die Rückgabe der Akten angemahnt. Der Rückgabetermin wurde nicht zu den Akten genommen. Nach Angaben des Beschwerdeführers waren die seinem Anwalt überlassenen Akten unvollständig.

Am 30. Juni 1994 ordnete das Oberlandesgericht Hamm die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers an. Auf Antrag des Anwalts einer Mitbeschuldigten des Beschwerdeführers musste der Beschluss eine Woche ausgesetzt werden, um ihm hinreichend Gelegenheit zu einer zu den Akten zu nehmenden Stellungnahme zu geben.

Das Oberlandesgericht hielt die Erwägungen der vorangegangenen Haftentscheidungen vom 3. November 1993 und 1. März 1994 weiterhin für zutreffend. Im Hinblick auf den gegen den Beschwerdeführer bestehenden dringenden Tatverdacht stellte es insoweit eine Abweichung gegenüber der Anklageschrift fest, als die Vorwürfe der Bildung einer kriminellen Vereinigung und der Steuerhinterziehung darin nicht mehr enthalten seien. Das Verfahren wegen des erstgenannten Tatvorwurfs sei gemäß den maßgeblichen Bestimmungen der Strafprozessordnung aufgrund der im Vergleich zu den in der Anklageschrift dargelegten Handlungen geringeren Schwere dieser Tat vorläufig eingestellt worden. Hinsichtlich der Steuerhinterziehung seien weitere Ermittlungen anhängig.

Das Oberlandesgericht stellte ferner fest, dass das Verfahren weitere Fortschritte gemacht habe. Inzwischen sei die Anklageschrift gefertigt und der Wirtschaftsstrafkammer beim Landgericht Essen zugeleitet worden. Diese arbeite sich in das umfangreiche Verfahren ein und strebe an, für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens im September 1994 mit der Hauptverhandlung zu beginnen.

Am 19. Oktober 1994 ordnete das Oberlandesgericht Hamm die Entlassung des Beschwerdeführers an. Es ging zwar weiterhin von einem dringenden Tatverdacht und einem Fortbestehen der Voraussetzungen für die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft aus, hielt jedoch eine Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nunmehr für unverhältnismäßig. Das Oberlandesgericht stellte insbesondere darauf ab, dass das Verfahren vor dem Landgericht Essen seit Mai 1994 keine Fortschritte gemacht habe. Der Beschwerdeführer wurde noch am gleichen Tag aus der Untersuchungshaft entlassen.

Durch Urteil des Landgerichts Essen vom 15. Dezember 1998 wurde der Beschwerdeführer wegen Betrugs, wegen Bestechung und wegen falscher Versicherung an Eides Statt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

Die §§ 112 ff. StPO betreffen die Verhaftung und Inhaftierung einer Person, die hinreichend verdächtig ist, eine Straftat begangen zu haben. Nach § 112 darf eine Person in Untersuchungshaft genommen werden, wenn der dringende Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begangen hat, und ein Haftgrund wie Fluchtgefahr oder Verdunkelungsgefahr besteht. § 116 regelt die Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls.

Nach § 117 StPO kann ein Untersuchungshäftling jederzeit die gerichtliche Prüfung des Haftbefehls beantragen. Eine mündliche Verhandlung findet auf Antrag des Beschuldigten oder nach Entscheidung des Gerichts von Amts wegen statt (§ 118 Abs. 1). Ist der Haftbefehl nach mündlicher Verhandlung aufrechterhalten worden, so hat der Untersuchungshäftling Anspruch auf eine weitere mündliche Verhandlung nur, wenn die Untersuchungshaft mindestens drei Monate und seit der letzten mündlichen Verhandlung mindestens zwei Monate gedauert hat (§ 118 Abs. 3). § 120 sieht vor, dass ein Haftbefehl aufzuheben ist, sobald die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen oder die weitere Untersuchungshaft unverhältnismäßig erscheint. Jede Verlängerung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus ist vom Oberlandesgericht zu entscheiden (§§ 121 - 122).

Die §§ 137 ff. StPO betreffen die Verteidigung eines Beschuldigten, insbesondere die Wahl eines Verteidigers oder die Bestellung eines Pflichtverteidigers. Nach § 147 Abs. 1 ist der Verteidiger befugt, die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären, einzusehen und Beweisstücke zu besichtigen. Absatz 2 dieses Paragraphen erlaubt es, solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind, dem Verteidiger die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenstücke oder die Besichtigung der Beweisstücke zu versagen, wenn andernfalls der Untersuchungszweck gefährdet wäre. Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet während des vorbereitenden Verfahrens die Staatsanwaltschaft, danach der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts (§ 147 Abs. 5). Mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz (BGBl. 2000, I, S. 1253) mit Wirkung vom 1. November 2000 wurde letztere Bestimmung unter anderem dahingehend geändert, dass ein in Haft befindlicher Beschuldigter nunmehr berechtigt ist, die gerichtliche Prüfung der die Akteneinsicht versagenden Entscheidung der Staatsanwaltschaft zu beantragen.

Die §§ 151 ff. StPO regeln die Grundsätze der Strafverfolgung und die Vorbereitung der öffentlichen Klage. Nach § 151 ist die Eröffnung einer gerichtlichen Untersuchung durch die Erhebung einer Klage bedingt. Nach § 152 ist zur Erhebung der öffentlichen Klage die Staatsanwaltschaft berufen, die soweit nichts anderes bestimmt ist, verpflichtet ist, wegen jeder Straftat zu ermitteln, für die hinreichende Verdachtsgründe vorliegen.

Die vorbereitenden Ermittlungen führt gemäß §§ 160 und 161 StPO die Staatsanwaltschaft. Diese entscheidet nach § 170 auf der Grundlage der Ermittlungen, ob die öffentliche Klage erhoben wird oder ob das Verfahren eingestellt wird.

Nach Artikel 103 Abs. 1 Grundgesetz hat jedermann vor Gericht Anspruch auf rechtliches Gehör. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlangt das Recht auf Gehör, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrundegelegt werden, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten. In Fällen, in denen es um Festnahme und Untersuchungshaft geht, dürfen der Haftbefehl und alle den Haftbefehl bestätigenden gerichtlichen Entscheidungen nur auf solche Tatsachen und Beweisstücke gestützt werden, die dem Beschuldigten vorher bekannt waren und zu denen er sich äußern konnte (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11. Juli 1994 (NJW 1994, 3219) m.w.N.). In dem vorgenannten Beschluss stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass einem Beschuldigten nach seiner Festnahme der Inhalt des Haftbefehls mitzuteilen und er unverzüglich einem Richter vorzuführen ist, der ihm bei der Vernehmung von allen relevanten ihn belastenden sowie auch von den ihn entlastenden Beweisen Kenntnis zu geben hat. Darüber hinaus muss bei einer anschließenden Haftprüfung der Beschuldigte angehört werden, und es müssen ihm die relevanten zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Ermittlungsergebnisse mitgeteilt werden, soweit dies die Ermittlungen nicht gefährdet. In manchen Fällen mag die mündliche Mitteilung nicht genügen. Wenn die Tatsachen und Beweismittel, die einer Entscheidung in einer Haftsache zugrunde liegen, nicht oder nicht mehr mündlich vermittelt werden können, müssen andere Mittel der Unterrichtung wie z.B. Akteneinsicht angewendet werden. Andererseits sind gesetzliche Beschränkungen der Akteneinsicht des Beschuldigten während des Ermittlungsverfahrens hinzunehmen, wenn die wirksame Durchführung der strafrechtlichen Ermittlungen dies verlangt. Aber selbst während dieser Ermittlungen hat ein Beschuldigter, der sich in Untersuchungshaft befindet, das Recht auf Akteneinsicht durch seinen Anwalt, soweit die in den Akten enthaltenen Informationen seine Position im Haftprüfungsverfahren berühren könnten und eine mündliche Unterrichtung nicht ausreicht. Wenn in solchen Fällen die Staatsanwaltschaft die Einsicht in relevante Teile der Akte gemäß § 147 Abs. 2 StPO verweigert, kann das Gericht seine Entscheidung nicht auf diese Tatsachen und Beweismittel stützen und muss gegebenenfalls den Haftbefehl aufheben (Bundesverfassungsgericht, a.a.O.).

VERFAHREN VOR DER KOMMISSION

37. Herr Schöps rief am 4. Januar 1994 die Kommission an. Er rügte unter Berufung auf Artikel 5 Abs. 4 der Konvention, dass ihm im Haftprüfungsverfahren die Einsicht in die Ermittlungsakte verweigert wurde. Er machte ferner geltend, in seinem Recht aus Artikel 5 Abs. 3 und 6 Abs. 3 Buchst. (a) und (b) der Konvention verletzt zu sein.

38. Am 10. April 1997 erklärte die Kommission die Rüge in Bezug auf Artikel 5 Abs. 4 für zulässig und die Individualbeschwerde (Nr. 25116/94) im Übrigen für unzulässig. In ihrem Bericht vom 17. September 1998 (nach dem früheren Artikel 31 der Konvention) vertrat sie mit 27 zu 5 Stimmen die Auffassung, dass eine Verletzung des Artikels 5 Abs. 4 vorliegt.

ABSCHLIESSENDE STELLUNGNAHMEN DER REGIERUNG AN DEN GERICHTSHOF

39. In ihrer schriftlichen Stellungnahme beantragte die Regierung die Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre Verpflichtungen aus der Konvention nicht verletzt hat.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABS.4 DER KONVENTION

40. Der Beschwerdeführer rügt das Haftprüfungsverfahren. Er beruft sich auf Artikel 5 Absatz 4 der Konvention, der folgenden Wortlaut hat:

"Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist."

A. Vorbringen vor dem Gerichtshof

41. Der Beschwerdeführer erklärte, das Haftprüfungsverfahren sei kein wirklich kontradiktorisches Verfahren gewesen, weil er und sein Verteidiger nicht hinreichend Einsichtnahme in die Ermittlungsakten erhalten hätten und somit die Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft nicht angemessen prüfen konnten.

42. Nach Auffassung der Regierung begründet Artikel 5 Abs. 4 nicht das allgemeine Recht eines Untersuchungsgefangenen oder seines Verteidigers auf Einsichtnahme in die Akten über die gegen ihn geführten Ermittlungen. Entscheidend sei vielmehr, dass dem Beschuldigten die Möglichkeit einer effektiven Rechtsverfolgung gegeben sei. Aus dem unterschiedlichen Anwendungsbereich und der unterschiedlichen Zielrichtung von Artikel 5 Abs. 4 im Vergleich zur Artikel 6 EMRK ergebe sich, dass Artikel 5 Abs. 4 nur das Recht auf Zugang zum Gericht sowie auf rechtliches Gehör garantiere.

Im vorliegenden Fall trug die Regierung vor, dass das Verfahren, in dem über die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft des Beschuldigten entschieden worden ist, ein wirklich kontradiktorisches war und gegen den Grundsatz der Waffengleichheit nicht verstoßen worden sei. Das Verfahren habe aus drei Abschnitten bestanden.

Im Hinblick auf den ersten Verfahrensabschnitt, der zur Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 3. November 1993 führte, brachte die Regierung vor, dass der Verteidiger des Beschwerdeführers vor dem 14. September 1993 keinen Antrag auf Akteneinsicht gestellt habe. Entgegen der Auffassung der Kommission könne ein angeblich früher gestelltes Akteneinsichtsgesuch angesichts des Fehlens eines entsprechenden Belegs oder Protokolls in den Akten nicht zugrunde gelegt werden. Auf das Gesuch vom 14. September 1993 hin sei zunächst nichts veranlasst worden, weil die Zweitakten dem Oberlandesgericht Düsseldorf zur Haftprüfung vorgelegt waren und die Originalakten noch für die weiteren Ermittlungen benötigt wurden. Im Nachgang zum Erwiderungsschriftsatz des Verteidigers des Beschwerdeführers vom 21. Oktober 1993 (siehe Ziffer 17) habe sich die zuständige Berichterstatterin beim

Oberlandesgericht jedoch am 28. Oktober 1993 mit dem Verteidiger telefonisch in Verbindung gesetzt. Ausweislich eines Aktenvermerks der Berichterstatterin hätten sie sich auf eine gerichtliche Entscheidung ohne vorherige Akteneinsicht geeinigt. Da der Verteidiger damit in diesem Verfahrensabschnitt auf sein Akteneinsichtsrecht verzichtet habe, könne in Bezug auf die Entscheidung vom 3. November 1993 keine Behinderung der Verteidigung vorliegen.

Im Hinblick auf den zweiten Verfahrensabschnitt, der zur Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm vom 1. März 1994 führte, legte die Regierung dar, dass dem Verteidiger am 22. November 1993 aufgrund des Antrags des Beschwerdeführers vom 14. September 1993 sämtliche zu diesem Zeitpunkt existierenden Ermittlungsakten, d.h. 24 Bände - und nicht nur, wie der Beschwerdeführer behauptet, 22 Bände - zugänglich gemacht wurden. Die in der Zeit von Ende November 1993 bis Anfang Februar 1994 zusätzlich entstandenen 45 Bände Ermittlungsakten seien dem Verteidiger des Beschwerdeführers nicht automatisch überlassen worden, weil die Ermittlungsbehörden ohne entsprechenden weiteren Antrag des Verteidigers nicht dazu verpflichtet seien. Gerade in einem sehr umfangreichen und ermittlungsintensiven Verfahren wie dem vorliegenden obliege es dem Beschuldigten oder dem Verteidiger, die Entwicklung der Dinge im Auge zu behalten und - erforderlichenfalls durch weitere Akteneinsichtsgesuche - auf dem Laufenden zu bleiben. Anstatt sich darauf zu beschränken, diesen Umstand erst kurz vor dem 28. Februar 1994 zu beanstanden, hätte der Verteidiger des Beschwerdeführers im Nachgang zu dem Antrag des Staatsanwalts vom 7. Februar 1997 auf Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers ein weiteres Akteneinsichtsgesuch stellen müssen. Im Übrigen sei eine erneute Akteneinsicht in diesem Verfahrensstadium nicht erforderlich gewesen, weil der Verteidiger nach der am 22. November 1993 gewährten Akteneinsicht (siehe Ziffer 20) von den für die Entscheidung über die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers bedeutsamen Beweismitteln, insbesondere den Zeugenaussagen, Kenntnis hatte.

Im Hinblick auf den dritten Verfahrensabschnitt, der zur Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 30. Juni 1994 führte, erinnerte die Regierung daran, dass dem Verteidiger des Beschwerdeführers am 9. Juni 1994 rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht ein kompletter Satz Ermittlungsakten überlassen worden war.

43. Die Kommission war der Auffassung, dass die Haftprüfungsverfahren vom 3. November 1993 vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf und vom 1. März 1994 vor dem Oberlandesgericht Hamm die Anforderungen des Artikels 5 Abs. 2 der Konvention nicht erfüllt hätten, das Verfahren vom 30. Juni 1994 ihnen jedoch Genüge getan habe.

B. Würdigung durch den Gerichtshof

44. Der Gerichtshof erinnert daran, dass Personen, die von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen sind, Anspruch auf eine Haftprüfung haben, die Bezug nimmt auf die verfahrens- und materiellrechtlichen Voraussetzungen, die für die ,,Rechtmäßigkeit" ihrer Freiheitsentziehung im Sinne der Konvention wesentlich sind. Dies bedeutet, dass das zuständige Gericht ,,nicht nur zu prüfen hat, ob die innerstaatlichen Verfahrenserfordernisse erfüllt sind, sondern auch, ob die Festnahme auf einen hinreichenden Verdacht gegründet und das mit der Festnahme und der anschließenden Freiheitsentziehung verfolgte Ziel rechtmäßig ist".

Ein Gericht, das eine Haftbeschwerde prüft, muss die Garantien eines gerichtlichen Verfahrens bieten. Das Verfahren muss kontradiktorisch sein und stets ,,Waffengleichheit" zwischen den Prozessparteien, dem Staatsanwalt und der Person, der die Freiheit entzogen ist, gewährleisten. Die Waffengleichheit ist nicht gewährleistet, wenn dem Verteidiger der Zugang zu denjenigen Schriftstücken in den Ermittlungsakten versagt wird, die für die wirksame Anfechtung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung seines Mandaten wesentlich sind. Im Fall einer Person, deren Freiheitsentziehung unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c fällt, ist eine mündliche Verhandlung erforderlich (siehe u.a. Urteil vom 30. März 1989 im Fall Lamy ./. Belgien, Reihe A Nr. 151, S. 16-17, Ziff. 29 und Urteil im Fall Nikolova ./. Bulgarien [GK], Nr. 31195/96, Ziff. 58, ECHR 1999-II).

Diese Anforderungen leiten sich aus dem Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren im Sinne von Artikel 6 der Konvention her; in einer Strafsache bedeutet dies, dass sowohl der Staatsanwaltschaft als auch der Verteidigung Gelegenheit gegeben werden muss, die von der anderen Prozesspartei vorgelegten Schriftsätze und Beweismittel zur Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Nach der Spruchpraxis des Gerichtshofs ergibt sich aus dem Wortlaut des Artikels 6 - und insbesondere aus der eigenständigen Bedeutung, die dem Begriff der ,,strafrechtlichen Anklage" beizulegen ist -, dass diese Bestimmung in gewisser Weise auch für Verfahren gilt, die vor der Hauptverhandlung stattfinden (siehe Urteil vom 24. November 1993 im Fall Imbrioscia ./. die Schweiz, Reihe A Nr. 275, S. 13, Ziff. 36). Daraus folgt also, dass angesichts der dramatischen Wirkung einer Freiheitsentziehung auf die Grundrechte des Betroffenen grundsätzlich auch in Verfahren nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention die Grundanforderungen an ein faires Verfahren wie z.B. das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren in einem unter den Umständen eines laufenden Ermittlungsverfahrens größtmöglichen Maß erfüllt sein sollen. Wenngleich innerstaatliches Recht dieser Anforderung in verschiedener Weise genügen kann, so soll doch mit jeder gewählten Methode gewährleistet sein, dass der anderen Prozesspartei zur Kenntnis gelangt, dass Schriftsätze eingereicht worden sind, und sie wirklich Gelegenheit hat, dazu Stellung zu nehmen (siehe sinngemäß das Urteil vom 28. August 1991 im Fall Brandstetter ./. Österreich, Reihe A Nr. 211, S. 27, Ziff. 67).

45. In vorliegender Sache wurde die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers in drei Verfahrensabschnitten vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf bzw. dem Oberlandesgericht Hamm geprüft. In dem Verfahrensabschnitt, der zu der ersten Haftprüfung vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf führte, wurde dem Beschwerdeführer bei seiner Festnahme am 19. März 1993 in Anwesenheit seines Verteidigers von dem Haftrichter eröffnet, welche Taten ihm zur Last gelegt wurden; darüber hinaus wurde ihm der Haftbefehl bekannt gegeben. Am 14. September 1993 wurde dem Beschwerdeführer wiederum in Anwesenheit seines Verteidigers der neu gefasste Haftbefehl eröffnet. Laut Schriftsatz der Regierung habe der Verteidiger erst danach einen Antrag auf Einsichtnahme in die Ermittlungsakten gestellt (siehe Ziffer 15). Nach Angaben des Beschwerdeführers hatte sein Verteidiger jedoch bereits im März 1993 vergeblich Akteneinsicht begehrt (siehe Ziffer 11).

46. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass ein Beschuldigter, der eine Versagung der Einsichtnahme in Ermittlungsakten rügt, zwar grundsätzlich in angemessener Weise gemäß dem innerstaatlichen Recht um Einsichtnahme ersucht haben muss (siehe sinngemäß das Urteil vom 13. Juli 1995 in dem Fall Kampanis ./. Griechenland, Serie A Nr. 318-B, S. 46 Ziff. 51), das Fehlen eines entsprechenden Vermerks in den Verfahrensakten allein jedoch keinen hinreichenden Beweis dafür darstellt, dass kein entsprechender Antrag gestellt worden ist.

47. Vom Zeitpunkt des ersten Antrags auf Akteneinsicht abgesehen stellt der Gerichtshof fest, dass - wie die Regierung eingeräumt hat - auf das Gesuch vom 14. September 1993 hin seitens der Gerichte zunächst nichts veranlasst wurde, weil die Originalakten laut Schriftsatz der Regierung für die laufenden Ermittlungen benötigt wurden und die Zweitakten bereits dem Oberlandesgericht Düsseldorf zugeleitet worden waren.

Der Gerichtshof ist insofern der Auffassung, dass die Gerichte gehalten sind, das Verfahren in der Weise durchzuführen, dass sie die Verfahrenserfordernisse des Artikels 5 Abs. 4 erfüllen, weil mit der Konvention keine theoretischen oder unrealistischen sondern praktische wirksame Rechte garantiert werden sollen. Die Umsetzung dieses Erfordernisses hätte im vorliegenden Fall wohl nicht zu schwierig sein dürfen. Da erst am 3. November 1993 eine mündliche Verhandlung vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf anberaumt war, standen dem Gericht über sechs Wochen zur Verfügung, um die Akten nur zu dem Zweck zu sichten, die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers zu prüfen. Somit blieb genügend Zeit, um der Verteidigung Akteneinsicht zu gewähren.

48. Im Hinblick auf das weitere Vorbringen der Regierung, dass der Verteidiger einem Haftprüfungsverfahren ohne vorherige Akteneinsicht zugestimmt habe, erinnert der Gerichtshof daran, dass ein Verzicht auf ein nach der Konvention garantiertes Recht eindeutig festzulegen ist, damit diesem - wenn überhaupt - Wirksamkeit verliehen werden kann, wobei ein Verzicht auf Verfahrensrechte darüber hinaus die Einhaltung von Mindestgarantien verlangt, die der Bedeutung der Sache entsprechen (siehe Urteil vom 25. Februar 1992 im Fall Pfeifer und Plankl ./. Österreich, Serie A Nr. 227. S. 16 - 17, Ziff. 37). In vorliegender Rechtssache stellt der Gerichtshof darauf ab, dass angesichts der verbleibenden Zweifel im Hinblick auf den genauen Inhalt des fraglichen Telefongesprächs und unter Berücksichtigung der Bedeutung der mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht von dem Verteidiger nicht behauptet werden kann, er habe vor dem Termin am 3. November 1993 im Namen des Beschwerdeführers ausdrücklich oder ansonsten eindeutig auf sein Akteneinsichtsrecht verzichtet.

49. Infolgedessen hatte der Verteidiger des Beschwerdeführers keine Gelegenheit gehabt, zu dem vorbezeichneten Haftüberprüfungstermin des Oberlandesgerichts Düsseldorf die Ermittlungsakten zu sichten, die 24 Bände umfassten und ausweislich des Haftbefehls von März 1993 verschiedene Zeugenaussagen, Angaben von zwei Mitbeschuldigten sowie Ergebnisse von im Laufe des Ermittlungsverfahrens vorgenommenen Telefonüberwachungen enthielten. Als die Staatsanwaltschaft im September 1993 die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers beantragte, begründete er den gegen den Beschwerdeführer bestehenden Tatverdacht mit den Angaben in den Ermittlungsakten, die seinerzeit auch ein Börsenfachgutachten und zwischenzeitlich beschlagnahmte Geschäftsunterlagen enthielten. Demnach war dieses Material für die Klärung der Frage der weiteren Fortdauer der Haft des Beschwerdeführers offenbar von entscheidender Bedeutung. In seinem Erwiderungsschriftsatz auf den Antrag der Staatsanwaltschaft auf weitere Fortdauer der Haft des Beschwerdeführers wies der Verteidiger das Oberlandesgericht auf die Beschränkung der Verteidigungsrechte durch Versagung der Akteneinsicht hin (siehe Ziffer 17).

50. Zwar wurde dem Beschwerdeführer von dem Haftrichter und durch den zunächst erlassenen und später neugefassten Haftbefehl des Amtsgerichts Essen eröffnet, welche Taten ihm zur Last gelegt wurden (siehe Ziffern 9 - 10 und 14 -15). Die auf diesem Weg erteilten Angaben bestanden jedoch lediglich in einer auszugsweisen Darstellung des Sachverhalts durch das Amtsgericht anhand aller ihm von der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellten Beweismittel. Nach Auffassung des Gerichtshofs kann ein Beschuldigter kaum in der Lage sein, die Verlässlichkeit solch einer auszugsweisen Darstellung angemessen in Frage zu stellen, ohne von den ihr zugrundeliegenden Beweismitteln in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Aufgrund dessen ist einem Beschuldigten hinreichend Gelegenheit zu geben, von den Erklärungen und weiteren Beweisstücken, auf die sie sich stützen, wie den Ergebnissen polizeilicher und sonstiger Ermittlungen, Kenntnis zu nehmen, gleichviel ob der Beschuldigte einen Nachweis dafür erbringen kann, dass die Beweisstücke, zu denen er Zugang begehrt, für seine Verteidigung erheblich sind. Dies trifft wegen der besonderen Schwierigkeit der Ermittlungen gegen den Beschuldigten und weitere Personen und der umfassenden Beweismittel, auf die sich der Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer stützt und auf die sowohl in den Haftbefehlen als auch in dem Antrag vom 14. September 1993 auf Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers nur in allgemeinen Worten Bezug genommen wurde, insbesondere auf den vorliegenden Fall zu.

51. Unter diesen Umständen war es für den Verteidiger unabdingbar, die Akte vor der mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf zu sichten, um in der Lage zu sein, die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers, die inzwischen bereits fast acht Monate andauerte, erfolgreich anzufechten.

52. In den anschließenden Verfahren wurde dem Verteidiger erst am 22. November 1993 Akteneinsicht gewährt, um die dieser bereits am 14. September 1993 ersucht hatte (siehe Ziffer 15). Die Unterlagen waren inzwischen auf 24 Bände angewachsen, die dem Verteidiger (fast) vollständig zugänglich gemacht wurden; dieser reichte sie im Januar 1994 zurück. Als die Generalstaatsanwaltschaft jedoch im Februar 1994 einen Antrag auf weitere Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers stellte, waren den ersten 24 Bänden Ermittlungsakten zwischenzeitlich 45 Bände und drei Beiakten hinzugefügt worden, die dem Verteidiger des Beschwerdeführers noch nicht zugänglich gemacht worden waren. Folglich hatte der Verteidiger zu dem Termin am 1. März 1994 vor dem Oberlandesgericht Hamm nur einen begrenzten Teil der dem Gericht vorliegenden Verfahrensakten sichten können. In seinem Schriftsatz an das Oberlandesgericht vom 28. Februar 1994 wies der Verteidiger darauf hin, dass er nur in 22 Aktenbände Einsicht genommen habe und zu einer über seine früheren Äußerungen hinausgehenden Stellungnahme nicht in der Lage sei.

Der Gerichtshof erkennt an, dass nach deutschem Recht Akteneinsicht auf Antrag des Verteidigers gewährt wird. Angesichts der Tatsache, dass der Verteidiger mit seinen früheren Ersuchen um vollständige Akteneinsicht die Dringlichkeit seines Anliegens, über den Akteninhalt auf dem Laufenden zu sein, zum Ausdruck gebracht hatte, und ein weiterer Antrag auf Fortdauer der Haft des Beschwerdeführers gestellt worden war, hätte dem Verteidiger unter den besonderen Umständen jedoch tatsächlich Gelegenheit zur Einsichtnahme in die zusätzlichen Akten gegeben werden müssen. Insoweit stellt die Forderung nach einem weiteren Antrag auf Einsichtnahme in die zahlreichen zusätzlichen Bände Verfahrensakten, die seit der Akteneinsichtsgewährung im November 1993 entstanden waren (siehe Ziffer 20), eine übertrieben formalistische unangemessene Reaktion dar. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Staatsanwaltschaft den Eingang eines weiteren Akteneinsichtsgesuchs der Verteidigung offenbar nicht abgewartet hat, ehe sie dieser am 9. Juni 1994 die vollständigen Ermittlungsakten zugeleitete (siehe Ziffer 27).

53. Im Hinblick auf die Feststellungen des Oberlandesgerichts Hamm, wie sie in seinem Beschluss vom 1. März 1994 dargelegt sind (siehe Ziffer 23), war die Einsichtnahme des Verteidigers in die umfassende Verfahrensakte unabdingbar, um die Rechtmäßigkeit des neugefassten Haftbefehls erfolgreich anfechten zu können. Da ihm diese Möglichkeit nicht eingeräumt wurde, erfüllt dieser Verfahrensabschnitt aus denselben Gründen, die im Zusammenhang mit dem ersten Verfahrensabschnitt dargelegt worden sind (siehe Ziffern 49 -51), die Grundanforderungen an ein gerichtliches Verfahren nicht.

54. In Bezug auf das Verfahren, das zu dem dritten Haftüberprüfungstermin führte, stellt der Gerichtshof fest, dass dem Verteidiger des Beschwerdeführers nach Abschluss des vorbereitenden Verfahrens und nach Zustellung der Anklageschrift am 9. Juni 1994 alle Akten zugeleitet wurden. Dem Verteidiger standen die Akten - bestehend aus 132 Bänden und zwei Beiakten - für eine Dauer von mindestens zwei Wochen zur Einsichtnahme zur Verfügung, ehe das Oberlandesgericht am 30. Juni 1994 über die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers entschied. Er hatte folglich Gelegenheit, sich mit den relevanten Teilen der zugegebenermaßen umfangreichen Akte vertraut zu machen und den Beschwerdeführer angemessen zu verteidigen.

55. Der Gerichtshof stellt zusammenfassend fest, dass die Verfahren vom 3. November 1993 und 1. März 1994 zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführers den Erfordernissen des Artikels 5 Abs. 4 nicht genügen. Diese Bestimmung ist also verletzt worden.

II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG WIE FOLGT:

Artikel 5 Abs. 4 der Konvention ist verletzt worden.

[Nichtamtliche deutsche Übersetzung aus dem Englischen durch das Bundesministerium der Justiz, Berlin]

Externe Fundstellen: NJW 2002, 2015; StV 2001, 201

Bearbeiter: Karsten Gaede