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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 485

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 626/20, Beschluss v. 21.03.2023, HRRS 2023 Nr. 485


BVerfG 2 BvR 626/20 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 21. März 2023 (LG Hamburg / AG Hamburg)

Verletzung des Fernmeldegeheimnisses durch Telekommunikationsüberwachung beim Sohn eines Mordverdächtigen (Einschränkung des Fernmeldegeheimnisses; Beachtung der grundlegenden Bedeutung des Grundrechts; Telekommunikationsüberwachung gegenüber Nichtbeschuldigten; Eigenschaft als Nachrichtenmittler; Unerlässlichkeit einer gesicherten Tatsachenbasis; fehlende Grundlage für die Erwartung einer Kontaktaufnahme).

Art. 10 Abs. 1 GG; Art. 10 Abs. 2 Satz 1 GG; § 100a Abs. 1 Satz 1 StPO; § 100a Abs. 3 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Telekommunikationsüberwachung bei dem Sohn eines Mordverdächtigen, der nach der 1980 begangenen Tat alsbald nach Costa Rica ausgewandert ist und dessen letzter Kontakt zu seinem Sohn 30 Jahre zurückliegt, ist von Verfassungs wegen nicht haltbar, wenn die Behörden den selbst nicht verdächtigen Sohn als „Nachrichtenmittler“ im Sinne des § 100a Abs. 3 StPO einstufen, obwohl keine konkreten Tatsachen für die Annahme sprechen, er könnte mit seinem Vater in Verbindung treten.

2. Das Fernmeldegeheimnis schützt die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mit Hilfe des Telekommunikationsverkehrs und umfasst nicht nur den Inhalt, sondern auch die Umstände der Kommunikation. Das Grundrecht will den Gefahren begegnen, die sich aus dem Übermittlungsvorgang einschließlich der Einschaltung eines Dritten ergeben. Die Nutzung des Kommunikationsmediums soll in allem vertraulich sein.

3. Beschränkungen des Fernmeldegeheimnisses dürfen nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden. Dieses ist in seiner grundrechtsbegrenzenden Wirkung seinerseits wieder im Lichte des Fernmeldegeheimnisses und unter Beachtung der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts auszulegen.

4. Unter den Voraussetzungen des § 100a Abs. 3 StPO kann eine Telekommunikationsüberwachung auch gegenüber einem Nichtbeschuldigten angeordnet werden. Für die Annahme der insoweit gesetzlich vorausgesetzten Eigenschaft als Nachrichtenmittler ist von Verfassungs wegen eine gesicherte Tatsachenbasis unerlässlich. Das Gewicht des Eingriffs verlangt Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Erforderlich ist, dass aufgrund der Lebenserfahrung oder der kriminalistischen Erfahrung fallbezogen aus Zeugenaussagen, Observationen oder anderen sachlichen Beweisanzeichen auf die Eigenschaft als Nachrichtenmittler geschlossen werden kann.

Entscheidungstenor

Der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 4. September 2019 - 621 Qs 99/19 -, der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 13. Januar 2020 - 166 Gs 872/19 - und der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 4. März 2020 - 621 Qs 7/20 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 10 Absatz 1 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 4. März 2020 - 621 Qs 7/20 - wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung über die Kosten an das Landgericht Hamburg zurückverwiesen.

Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

I.

1. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist ein gegen den Vater des Beschwerdeführers, (…) (im Folgenden: Beschuldigter), geführtes Ermittlungsverfahren. Ihm wird vorgeworfen, sich 1980 seiner damals 17-jähriger Tochter (…) in der Absicht genähert zu haben, an dieser gegen ihren Willen sexuelle Handlungen vorzunehmen. Er soll sie auf bislang unbekannte Weise getötet haben, um den vorausgegangenen Übergriff zu verdecken und der Strafverfolgung zu entgehen. Das Verfahren wurde 1980 sowie nach kurzzeitiger Wiederaufnahme im Jahr 1981 eingestellt, nachdem die Ermittlungen erfolglos verlaufen waren. Nach einer verbüßten Haftstrafe in einer anderen Sache verließ der Beschuldigte das Bundesgebiet. Seitdem lebt er in Costa Rica.

2. Angesichts weiterhin bestehender Zweifel an der Unschuld des Beschuldigten nahm die Staatsanwaltschaft Hamburg im Jahr 2019 die Ermittlungen wieder auf. Auf ihren Antrag ordnete das Amtsgericht Hamburg mit hier nicht gegenständlichem Beschluss vom 20. August 2019 die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation der costa-ricanischen Rufnummer des Beschuldigten im Wege der Auslandskopfüberwachung bis zum Ablauf des 20. Oktober 2019 an. In einem Vermerk vom 3. September 2019 stellte das Landeskriminalamt Hamburg fest, dass bis dahin keine Kommunikation zum oder vom überwachten Anschluss des Beschuldigten erfolgt sei.

3. Das Landeskriminalamt Hamburg kontaktierte den Beschwerdeführer am 2. September 2019, um mit ihm einen Vernehmungstermin zu vereinbaren. Über den Gesprächsinhalt fertigte die zuständige Kriminalbeamtin folgenden Vermerk:

Nachdem am 02.09.2019 durch (…) die telefonische Erreichbarkeit ihres in Hessen lebenden Bruders (…) bekannt wurde, wurde dieser am 02.09.2019 gegen 17:15 Uhr durch die Unterzeichnerin fernmündlich kontaktiert. Herrn (…) wurde zunächst erläutert, dass die Ermittlungen im Fall des Verschwindens seiner Schwester (…) wieder aufgenommen worden seien und aufgrund dessen ein Interesse daran bestehe, ihn zum Sachverhalt zu hören. Herr (…) erklärte, sich hierfür gerne Zeit zu nehmen, sodass eine Vernehmung für den 25.09.2019 in Hessen anvisiert wurde. Weiter fragte Herr (…) schließlich, ob die Unterzeichnerin wisse, ob sein ‚juristischer Vater‘ noch lebe. Dieser sei nach Costa Rica ausgewandert. Bevor die Unterzeichnerin Herrn (…) auf diese Frage antworten konnte, teilte dieser weiter mit, in den 90er Jahren Kontakt zu seinem Vater aufgenommen zu haben. Hierfür sei er nach Costa Rica, im Bereich des Playa de Coco, geflogen und ‚habe ihn gefragt‘, da er ihn ‚eigentlich immer im Verdacht‘ gehabt habe. Hierauf habe sein Vater nicht geantwortet. Auf Nachfrage, ob Herr (…) noch im Besitz von Kontaktdaten seines Vaters sei, schilderte er, nicht zu wissen, ob er noch derartige vorliegen habe. Dies sei in einer Zeit ohne Internet gewesen. Seitdem habe er seinen Vater nie wieder gesehen. Da Herr (…) nun nochmals fragte, ob sein Vater am Leben sei, wurde ihm dies von der Unterzeichnerin bejaht.

4. Die Staatsanwaltschaft Hamburg stellte daraufhin den Antrag, die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation zweier Telefonrufnummern des Beschwerdeführers anzuordnen. Zur Begründung führte die Staatsanwaltschaft im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer nach Bekanntwerden der Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens Kontakt zum Beschuldigten aufnehmen werde und verwies hierzu auf die Erkenntnisse aus dem Telefonat vom 2. September 2019. Das Amtsgericht Hamburg wies diesen Antrag mit Beschluss vom 3. September 2019 zurück.

5. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hamburg ordnete das Landgericht Hamburg mit Beschluss vom 4. September 2019 die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation zweier Telefonrufnummern des Beschwerdeführers bis zum Ablauf des 20. Oktober 2019 an. Es sei zu erwarten, dass der Beschwerdeführer, der von der Wiederaufnahme der Ermittlungen Kenntnis und offenbar weiterhin Interesse an der Aufklärung des Sachverhalts habe, wieder Kontakt zum Beschuldigten aufnehmen werde, um mit diesem hierüber zu sprechen.

6. Die Überwachung der Telekommunikation des Beschwerdeführers wurde am 8. Oktober 2019 abgeschaltet.

7. Bereits mit Schriftsatz vom 4. Dezember 2019 legte der Beschwerdeführer Einspruch gegen die Anordnung der Telekommunikationsüberwachung ein und beantragte die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme sowie der Art und Weise ihres Vollzugs. Mit Schreiben vom 6. Dezember 2019 setzte die Staatsanwaltschaft Hamburg den Beschwerdeführer förmlich über Inhalt und Umfang der Überwachungsmaßnahme in Kenntnis.

8. Mit Beschluss vom 13. Januar 2020 stellte das Amtsgericht Hamburg fest, dass die angeordnete Telekommunikationsüberwachung sowie die Art und Weise ihres Vollzugs rechtmäßig gewesen seien.

Die Überwachung der Telekommunikation habe sich gegen den Beschwerdeführer als nicht tatverdächtigen sogenannten „Nachrichtenmittler“ gerichtet. Darunter werde eine Person verstanden, von der aufgrund bestimmter Tatsachen angenommen werden könne, dass sie in Kontakt zum Beschuldigten stehe oder stehen werde und in einen Informationsaustausch eingebunden sei oder sein werde. Für die Beurteilung der Frage, wer als „Nachrichtenmittler“ in Betracht komme, könne es aufgrund der Verschiedenheit der Lebenssachverhalte keinen eindeutigen Maßstab geben. Hintergrund der Annahme einer Nachrichtenmittlereigenschaft des Beschwerdeführers sei gewesen, dass er im Telefonat mit dem Landeskriminalamt Hamburg am 2. September 2019 von der Wiederaufnahme der Ermittlungen erfahren habe. Im Telefonat habe er Interesse am Fall geäußert, habe wissen wollen, ob der Beschuldigte noch lebe, und habe von sich aus mitgeteilt, dass er den Beschuldigten „eigentlich immer im Verdacht“ gehabt habe, für das Verschwinden von (…) verantwortlich gewesen zu sein. In den Neunzigerjahren habe er Kontakt zum Beschuldigten aufgenommen, sei nach Costa Rica gereist und habe ihn zum Verschwinden von (…) befragt. Vor diesem Hintergrund sei die Entscheidung des Landgerichts, die Überwachung der Telekommunikation des Beschwerdeführers anzuordnen, rechtmäßig gewesen. Bei der zugrunde liegenden Prognose, ob es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einem Nachrichtenaustausch zwischen dem Beschuldigten und dem nicht verdächtigen Dritten kommen werde, seien unterschiedliche Einschätzungen möglich. Die Prognose des Landgerichts, es werde hierzu zwischen dem Betroffenen und dem Beschuldigten kommen, sei nicht willkürlich gewesen. Die Anordnung der Telekommunikationsüberwachung sei unter Abwägung des aus dem Tatverdacht resultierenden Strafverfolgungsinteresses bezüglich eines Kapitalverbrechens und der Schutzinteressen der Betroffenen auch verhältnismäßig gewesen, zumal sie ausdrücklich auf den Zeitraum vom 4. September bis zum 20. Oktober 2019 beschränkt worden sei. Auch die Durchführung der Telekommunikationsüberwachung sei rechtlich nicht zu beanstanden, zumal sie nicht über den gesamten Anordnungszeitraum durchgeführt, sondern bereits am 8. Oktober 2019 abgeschaltet worden sei.

9. Hiergegen legte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 20. Januar 2020 sofortige Beschwerde ein, die er mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 24. Februar 2020 weiter begründete. Er führte im Wesentlichen aus, dass die von den Ermittlungsbehörden zugrunde gelegten Umstände keine gesicherte Tatsachenbasis darstellten. Selbst unter Zugrundelegung dieser Tatsachen habe er nicht als Nachrichtenmittler aufgefasst werden können. Der angegriffene Beschluss verhalte sich nicht dazu, worauf das Landgericht seine Annahmen stütze. Die Anordnung enthalte ferner keine Darstellung zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahme.

10. Mit Beschluss vom 4. März 2020 verwarf das Landgericht Hamburg die sofortige Beschwerde.

Die Faktoren, die die Ermittlungsbehörden und Gerichte veranlassten, den Beschwerdeführer als Nachrichtenmittler anzusehen, gingen über bloße Vermutungen oder vage Anhaltspunkte hinaus. Die Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen den Beschuldigten habe ein sachliches Beweisanzeichen dafür begründet, dass es zu einer Kontaktaufnahme und zu einem Informationsaustausch zwischen ihm und dem Beschwerdeführer habe kommen können. Bei einem mutmaßlichen Verbrechen im engsten Familienkreis bestehe naturgemäß ein hohes Interesse der verbleibenden Familienmitglieder an der Aufklärung. Dies zeige schon die damalige, sicherlich nicht unaufwendige Reise des Beschwerdeführers nach Costa Rica, wo er den Beschuldigten zum Verschwinden von (…) befragt habe. Sein Interesse am Fall sei nachvollziehbar wieder aufgeflammt, als ihm in einem Telefonat mitgeteilt worden sei, dass die Ermittlungen wieder aufgenommen worden seien. Er habe in diesem Zusammenhang geäußert, dass er den Beschuldigten immer in Verdacht gehabt habe. Vor dem Hintergrund dieser Interessenlage und der familiären Verknüpfungen habe mehr als eine Vermutung bestanden, dass der Beschwerdeführer erneut das Gespräch mit seinem Vater suchen werde, zumal der Fall auch in den Medien wieder aufgerollt worden sei. Dass Vater und Sohn über viele Jahre keinen Kontakt zueinander gehabt hätten, sei dem Umstand geschuldet, dass auch die Ermittlungen zwischenzeitlich im Sande verlaufen gewesen seien und sich ein Verdacht gegen den Beschuldigten nicht erhärtet habe. Die Maßnahme sei in Anbetracht des Aufklärungsinteresses und des erheblichen Tatvorwurfs eines Kapitalverbrechens auch verhältnismäßig gewesen, zumal der Anordnungszeitraum nicht ausgeschöpft, sondern die Maßnahme vorzeitig am 8. Oktober 2019, also nach etwas mehr als einem Monat beendet worden sei.

Der Beschluss wurde am 5. März 2020 formlos an den Beschwerdeführer und seinen Bevollmächtigten zur Post gegeben.

II.

Mit seiner zwischen dem 6. und 7. April 2020 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 10 Abs. 1 GG.

Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, dass die erforderliche Tatsachengrundlage zur Annahme einer Nachrichtenmittlereigenschaft nicht vorgelegen habe und diese sich als reine Vermutung darstelle. Er habe seit den Neunzigerjahren keinen Kontakt zum Beschuldigten und noch nicht einmal Kenntnis darüber gehabt, ob er noch lebe. Dass sich hieran etwas geändert haben solle, weil das Ermittlungsverfahren wiederaufgenommen und der Fall in einer Fernsehsendung behandelt worden sei, stelle ebenso eine reine Vermutung dar. Dafür spreche auch der erhebliche Zeitablauf zwischen der Tat und der Anordnung der Maßnahme.

Der Anordnung habe kein legitimer Zweck zugrunde gelegen. Die Überwachung lediglich allgemeiner Gespräche, in denen nicht eine konkrete Nachricht übermittelt oder entgegengenommen werde, sei vom Zweck des § 100a Abs. 3 StPO nicht erfasst und stelle eine bloße Ausforschung dar. Das gelte umso mehr, als es den Ermittlungsbehörden auf die Ausforschung weiterer Telefonanschlüsse des Beschuldigten angekommen sei. Es sei diesbezüglich schon denklogisch ausgeschlossen, dass der Beschwerdeführer hier als Nachrichtenmittler fungiere. Zudem habe es an Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit gefehlt. Die Maßnahme sei nicht erforderlich gewesen, denn das Abhören der Telekommunikation des Beschuldigten hätte genügt. Die Anordnung hätte auch darauf beschränkt werden müssen, die Überwachung umgehend zu beenden, wenn sich herausstelle, dass Gespräche mit anderen Personen als dem Beschuldigten geführt würden.

III.

Zu der Verfassungsbeschwerde hat der Generalbundesanwalt Stellung genommen, der die Verfassungsbeschwerde jedenfalls für unbegründet hält. Die Annahme der Nachrichtenmittlereigenschaft, welche auf eine frühere, mit erheblichen Schwierigkeiten verbundene Kontaktaufnahme des Beschwerdeführers zu seinem in Costa Rica lebenden Vater und das durch das Telefonat vom 2. September 2019 neu erwachte Interesse des Beschwerdeführers an der möglichen Täterschaft des Beschuldigten gestützt worden sei, genüge verfassungsrechtlichen Anforderungen und sei ausreichend begründet worden. Die vorgenommene Auslegung des § 100a Abs. 3 StPO sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Wortlaut der Vorschrift lasse eine Beschränkung allein auf Personen, die Informationen ihrerseits an den Beschuldigten oder Dritte weitergäben, nicht erkennen. Vielmehr lasse der Wortlaut die Entgegennahme oder Weitergabe genügen. Die Überwachung sei auch verhältnismäßig gewesen. Die Belange des Beschwerdeführers seien ausdrücklich bedacht, aber im Ergebnis für weniger gewichtig als die Strafverfolgungsinteressen gehalten worden. Die Erforderlichkeit sei nicht deswegen entfallen, weil zugleich eine Auslandskopfüberwachung hinsichtlich der vom Beschuldigten genutzten Rufnummer erfolgt sei. Es sei keineswegs gesichert gewesen, dass es sich bei der von den costa-ricanischen Behörden übermittelten Rufnummer des Beschuldigten um seine einzige gehandelt habe. Soweit der Beschwerdeführer eine Beschränkung der Anordnung dahingehend vermisse, dass die Überwachung und Auswertung der Gespräche beendet werden müsse, wenn sich herausstelle, dass die Gespräche mit anderen Personen als dem Beschwerdeführer geführt würden, verkenne er, dass ein Abbruch der Überwachung anhand des Gesprächsinhalts nach Aufzeichnung nicht möglich sei. Für die Auswertung der aufgezeichneten Gespräche würden bereits die gesetzlichen Regelungen in § 100d, § 100e Abs. 5 Satz 1, § 101 Absätze 1 und 8 StPO ausreichende Vorkehrungen zur vorzeitigen Beendigung von Überwachungsmaßnahmen und zur Löschung nicht mehr erforderlicher Daten vorsehen.

Der Beschwerdeführer hat auf die Stellungnahme des Generalbundesanwalts erwidert. Die Behörde für Justiz und Verbraucherschutz der Freien und Hansestadt Hamburg hat von einer Stellungnahme abgesehen.

Die Akten des Ausgangsverfahrens 4091 Js 32/19 haben der Kammer vorgelegen.

IV.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, da dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt erscheint (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Danach ist die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet. Der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 13. Januar 2020 und die Beschlüsse des Landgerichts Hamburg vom 4. September 2019 und vom 4. März 2020 verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG.

1. a) Das Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 Abs. 1 GG schützt die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mit Hilfe des Telekommunikationsverkehrs (BVerfGE 67, 157 <172>; 106, 28 <35 f.>; 115, 166 <182>; 120, 274 <306 f.>; 124, 43 <54>; BVerfGK 11, 119 <124>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juli 2016 - 2 BvR 1454/13 -, Rn. 33). Das Fernmeldegeheimnis umfasst nicht nur den Kommunikationsinhalt, sondern schützt auch die Kommunikationsumstände. Dazu gehört insbesondere, ob, wann und wie oft zwischen welchen Personen oder Fernmeldeanschlüssen Fernmeldeverkehr stattgefunden hat oder versucht worden ist. Art. 10 Abs. 1 GG soll für den Bereich der Telekommunikation einen Ausgleich für die technisch bedingte Einbuße an Privatheit schaffen und will den Gefahren begegnen, die sich aus dem Übermittlungsvorgang einschließlich der Einschaltung eines Dritten ergeben. Die Nutzung des Kommunikationsmediums soll in allem vertraulich sein (vgl. BVerfGE 100, 313 <358>; 107, 299 <312 f.>; 115, 166 <184>; 120, 274 <307>; 124, 43 <54>; BVerfGK 9, 62 <72 ff.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juli 2016 - 2 BvR 1454/13 -, Rn. 36). Mit der grundrechtlichen Verbürgung der Unverletzlichkeit des Fernmeldegeheimnisses soll vermieden werden, dass der Meinungs- und Informationsaustausch mittels Telekommunikationsanlagen deswegen unterbleibt oder nach Form und Inhalt verändert verläuft, weil die Beteiligten damit rechnen müssen, dass staatliche Stellen sich in die Kommunikation einschalten und Kenntnisse über die Kommunikationsbeziehungen oder Kommunikationsinhalte gewinnen (BVerfGE 100, 313 <358 f.>; 129, 208 <241>; BVerfGK 11, 119 <124>).

b) Beschränkungen des Fernmeldegeheimnisses dürfen gemäß Art. 10 Abs. 2 Satz 1 GG nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden. Das grundrechtseinschränkende Gesetz ist seinerseits aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung des Fernmeldegeheimnisses und so in seiner grundrechtsbegrenzenden Wirkung selbst wieder im Lichte des Grundrechts auszulegen. Der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliegt deshalb, ob die Fachgerichte den Einfluss der Grundrechte auf die Auslegung und Anwendung der grundrechtsbeschränkenden Normen des einfachen Rechts ausreichend beachtet haben, damit der wertsetzende Gehalt der Grundrechte auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (BVerfGE 107, 299 <315>).

c) Die Anordnung einer Telekommunikationsüberwachung zu strafprozessualen Zwecken setzt nach § 100a Abs. 1 Satz 1 StPO voraus, dass bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, der Beschuldigte habe als Täter oder Teilnehmer eine schwere Straftat aus dem Katalog des § 100a Abs. 2 StPO begangen, die Tat auch im Einzelfall schwer wiegt und die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre. Unter den Voraussetzungen des § 100a Abs. 3 StPO kann eine Telekommunikationsüberwachung auch gegenüber Nichtbeschuldigten angeordnet werden. Der Wortlaut der Vorschrift setzt hierfür voraus, dass aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass die Person für den Beschuldigten bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennimmt oder weitergibt oder dass der Beschuldigte ihren Anschluss oder ihr informationstechnisches System benutzt. Soweit Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen gegen Nichtbeschuldigte angeordnet werden, ist für die Annahme der Nachrichtenmittlereigenschaft von Verfassungs wegen eine gesicherte Tatsachenbasis unerlässlich. Das Gewicht des Eingriffs verlangt Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Bloßes Gerede, nicht überprüfte Gerüchte und Vermutungen reichen nicht aus. Erforderlich ist, dass aufgrund der Lebenserfahrung oder der kriminalistischen Erfahrung fallbezogen aus Zeugenaussagen, Observationen oder anderen sachlichen Beweisanzeichen auf die Eigenschaft als Nachrichtenmittler geschlossen werden kann (vgl. BVerfGE 107, 299 <322 f.>; BVerfGK 11, 119 <125>).

2. Die angegriffenen Gerichtsentscheidungen sind mit den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht zu vereinbaren. Die Fachgerichte haben den Einfluss des Grundrechts des Art. 10 GG bei der Auslegung und Anwendung des § 100a Abs. 3 StPO nicht ausreichend beachtet.

a) Zwar ist gegen die fachgerichtliche Annahme, dass die Voraussetzungen des § 100a Abs. 1 Satz 1 StPO vorliegen, in verfassungsrechtlicher Hinsicht nichts zu erinnern. Aus der Ermittlungsakte ergibt sich, dass die Ermittlungsbehörden insbesondere aus widersprüchlichen Einlassungen des Beschuldigten geschlossen haben, dass dieser Zeit, Gelegenheit und ein Motiv dafür gehabt haben könnte, (…) getötet zu haben. Die Ermittlungsbehörden haben auch andere Erklärungsversuche für das Verschwinden von (…) untersucht und sind aufgrund intensiver Auseinandersetzung mit allen bislang bekannten Erkenntnissen und Ermittlungsergebnissen zu dem Ergebnis gelangt, dass ein vom Beschuldigten begangener Mord der plausibelste Hergang gewesen sein muss. Die auf diese konkreten Tatsachen gestützten Erwägungen sind sorgfältig begründet und in der Sache nachvollziehbar, sodass die Annahme des Tatverdachts eines auch im Einzelfall schwerwiegenden Mordes - einer in § 100a Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe h StPO erfassten Katalogtat - vertretbar war. Die Annahme, dass die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten ohne die Telekommunikationsüberwachung wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre (§ 100a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO), erschien ebenso vertretbar, nachdem zahlreiche Ermittlungsbemühungen in der Vergangenheit keine weiteren Erkenntnisse zu erbringen vermochten.

b) Hingegen beruht die für den Tatbestand des § 100a Abs. 3 StPO erforderliche Annahme, es werde zwischen dem Beschwerdeführer und dem Beschuldigten zu einem Austausch oder einer Entgegennahme bestimmter Informationen kommen, lediglich auf vagen Anhaltspunkten und bloßen Vermutungen und ist daher von Verfassungs wegen nicht haltbar.

Die Fachgerichte haben die Anordnung der Telekommunikationsüberwachung gegenüber dem Beschwerdeführer allein auf dessen Aussagen im Telefonat mit dem Landeskriminalamt am 2. September 2019 gestützt. Diesen Aussagen und dem dort mitgeteilten Verhalten des Beschwerdeführers konnten keine belastbaren Anhaltspunkte dafür entnommen werden, die die Annahme eines zu erwartenden Informationsaustauschs zwischen Beschwerdeführer und dem Beschuldigen nachvollziehbar zu begründen vermochten. So war es bereits mehr als zweifelhaft, ob überhaupt angenommen werden konnte, dass der Beschwerdeführer sich mit dem Beschuldigten in Kontakt setzen oder dies jedenfalls versuchen würde. Ausweislich der Angaben des Beschwerdeführers lag der letzte Kontakt zum Beschuldigten etwa 30 Jahre zurück. Seitdem fand kein Kontakt mehr statt. Nachdem der Beschuldigte bereits auf die persönliche Konfrontation durch den Beschwerdeführer in Costa Rica geschwiegen hatte, war unklar, welchen Anlass der Beschuldigte haben sollte, nun doch mit dem Beschwerdeführer über den Sachverhalt zu sprechen. Ein Verhältnis, welches einen Austausch etwaiger Informationen nahegelegt hätte, schien nicht zu bestehen, zumal der Beschwerdeführer offenbar noch nicht einmal sichere Kenntnis davon hatte, ob der Beschuldigte noch lebt. Aus welchem Grund der Beschwerdeführer vor diesem Hintergrund den Kontakt zum Beschuldigten suchen sollte, bleibt im Dunkeln.

Ebenso stand nicht fest, ob der Beschwerdeführer überhaupt über eine Telefonnummer des Beschuldigten oder sonstige Kontaktmöglichkeiten zu diesem verfügte. Die Angaben des Beschwerdeführers, er wisse nicht, ob er noch Kontaktdaten des Beschuldigten habe, lassen vielmehr darauf schließen, dass er sich für einen Kontakt noch um entsprechende Daten bemühen müsste. Ob er hierzu willens und in der Lage war, ist völlig unklar. Die Ausführungen der Staatsanwaltschaft, es bestehe die Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer den Beschuldigten erreichen oder für die Erreichbarkeit sorgen könne, erweisen sich vor diesem Hintergrund als bloße Vermutung und nicht durch entsprechende tatsächliche Anhaltspunkte gedeckt.

Die Annahme der Nachrichtenmittlereigenschaft erschöpft sich vorliegend darin, dass aus einer in den Neunzigerjahren erfolgten Reise des Beschwerdeführers zum Beschuldigten nach Costa Rica und der Konfrontation des Beschuldigten mit dem Tatvorwurf darauf geschlossen wird, der Beschwerdeführer werde sich 30 Jahre später erneut um einen Kontakt mit dem Beschuldigten bemühen. Diese Annahme beruht auf nicht tragfähigen Vermutungen und vermag den schwerwiegenden Eingriff in das grundrechtlich geschützte Fernmeldegeheimnis nicht zu rechtfertigen.

3. Da der Telekommunikationsüberwachung schon keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für die Annahme der Nachrichtenmittlereigenschaft des Beschwerdeführers zugrunde liegen, kommt es auf die weiteren gegen die Maßnahme geltend gemachten Beanstandungen nicht an.

V.

1. Es war festzustellen, dass der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 4. September 2019 - 621 Qs 99/19 -, der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 13. Januar 2020 - 166 Gs 872/19 - und der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 4. März 2020 - 621 Qs 7/20 - den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG verletzen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

2. Der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 4. März 2020 war aufzuheben und die Sache lediglich noch wegen der Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens an das Landgericht Hamburg zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen, das angesichts der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Anordnung der Telekommunikationsüberwachung nur noch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden hat. Von einer Aufhebung des amtsgerichtlichen Beschlusses war abzusehen, da die Entscheidung der unteren Instanz erhalten bleiben muss, um der erneuten Entscheidung der höheren Instanz nicht den Gegenstand zu entziehen (vgl. von Ungern-Sternberg, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, § 95 Rn. 19 m.w.N. <Dez. 2022>). Einer Aufhebung des Beschlusses des Landgerichts Hamburg vom 4. September 2019 bedarf es nicht, da dessen Wirkungen mit Beendigung der Telekommunikationsüberwachung entfallen sind (vgl. BVerfGE 42, 212 <222>; 44, 353 <383>).

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung im Verfassungsbeschwerdeverfahren beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 485

Bearbeiter: Holger Mann