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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 596

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 65/18, Beschluss v. 08.05.2018, HRRS 2018 Nr. 596


BGH 5 StR 65/18 - Beschluss vom 8. Mai 2018 (LG Berlin)

Umfang der richterlichen Hinweispflicht bei Veränderung der Sachlage (Neuregelung; Kodifizierung der Rechtsprechungsgrundsätze; vergleichbare Gewicht wie Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunktes; Erforderlichkeit für genügende Verteidigung; faires Verfahren; wesentliche Veränderung des Tatbildes; keine Pflicht zur Offenlegung der Beweiswürdigung; unwesentliche Umstände; Randgeschehen; Anforderungen an den Revisionsvortrag); Einziehung von für die Aufnahme und Speicherung kinderpornographischen Materials verwendeter Hardware (Verhältnismäßigkeit; milderes Mittel).

§ 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO; § 344 Abs. 2 StPO; § 74 StGB; § 74f StGB; § 184b StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Der Gesetzgeber wollte in § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO die ständige Rechtsprechung kodifizieren, wonach eine Veränderung der Sachlage eine Hinweispflicht auslöst, wenn sie in ihrem Gewicht einer Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunkts gleichsteht (vgl. hierzu BGH HRRS 2015 Nr. 48). Weitergehende Hinweispflichten sollten durch die Neuregelung hingegen nicht eingeführt werden.

2. Danach bestehen Hinweispflichten auf eine geänderte Sachlage bei einer wesentlichen Veränderung des Tatbildes beispielsweise betreffend die Tatzeit, den Tatort, das Tatobjekt, das Tatopfer, die Tatrichtung, eine Person des Beteiligten oder bei der Konkretisierung einer im Tatsächlichen ungenauen Fassung des Anklagesatzes. Hingegen sind Hinweise etwa hinsichtlich der Bewertung von Indiztatsachen auch künftig nicht erforderlich. Ebenso wenig muss das Gericht unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens vor der Urteilsberatung seine Beweiswürdigung offenlegen oder sich zum Inhalt und Ergebnis einzelner Beweiserhebungen erklären.

3. Ein Hinweis gemäß § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO muss ferner nur gegeben werden, wenn er zur genügenden Verteidigung des Angeklagten erforderlich ist. Er ist dementsprechend entbehrlich, wenn die Änderung der Sachlage durch den Gang der Hauptverhandlung für die Verfahrensbeteiligten ohne weiteres ersichtlich ist. Veränderungen der Sachlage hinsichtlich unwesentlicher Umstände, etwa solcher aus dem Randgeschehen, lösen die Hinweispflicht ebenfalls nicht aus.

4. Um dem Revisionsgericht die Prüfung eines Verstoßes gegen § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO zu ermöglichen, muss der Revisionsführer gemäß § 344 Abs. 2 S. 2 StPO zu allen genannten Voraussetzungen vollständig vortragen. Für die Prüfung der Erforderlichkeit des Hinweises ist namentlich darzulegen, ob der Revident durch den Gang der Hauptverhandlung über die Veränderung der Sachlage bereits zuverlässig unterrichtet war und ein ausdrücklicher Hinweis deshalb unterbleiben konnte. Schließlich muss - wenn sich dies nicht von selbst versteht - ausgeführt werden, inwieweit der Hinweis für die genügende Verteidigung des Angeklagten erforderlich war.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 12. Oktober 2017 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit die Einziehung des Mobiltelefons Samsung und des Laptops HP mit Netzteil angeordnet worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten - unter Freisprechung im Übrigen - wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in 39 Fällen, davon in drei Fällen zugleich in Tateinheit mit sexueller Nötigung und in einem Fall zugleich in Tateinheit mit Besitz kinderpornographischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es Adhäsionsentscheidungen getroffen und die Einziehung eines Mobiltelefons sowie eines Laptops des Angeklagten angeordnet. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die Rüge einer Verletzung von § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO bleibt ohne Erfolg. Sie bezieht sich auf eine unterbliebene Unterrichtung des Angeklagten darüber, dass die Jugendschutzkammer nach Erhebung eines Entlastungsbeweises zu Abwesenheitszeiten der Mutter der Nebenklägerin lediglich von einer geringeren Anzahl an Taten, nicht aber von einer Erschütterung der Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin ausgehen werde.

a) Durch § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO in der seit 24. August 2017 geltenden Fassung (Gesetz vom 17. August 2017, BGBl. I S. 3202) ist die Hinweispflicht des § 265 Abs. 1 StPO auf Fälle erweitert worden, in denen sich in der Hauptverhandlung die Sachlage gegenüber der Schilderung des Sachverhalts in der zugelassenen Anklage ändert und dies zur genügenden Verteidigung vor dem Hintergrund des Gebots rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und des rechtsstaatlichen Grundsatzes des fairen Verfahrens (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1769/04) einen Hinweis erforderlich macht (vgl. BT-Drucks. 18/11277, S. 37).

aa) Der Gesetzgeber hat in § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO an die ständige Rechtsprechung angeknüpft, wonach eine Veränderung der Sachlage eine Hinweispflicht auslöst, wenn sie in ihrem Gewicht einer Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunkts gleichsteht (BT-Drucks. 18/11277 S. 37 unter Hinweis auf BGH, Urteil vom 20. November 2014 - 4 StR 234/14, NStZ 2015, 233). Die durch den Bundesgerichtshof hierzu entwickelten Grundsätze (vgl. MüKoStPO/Norouzi, § 265 Rn. 48 ff. mwN) wollte der Gesetzgeber kodifizieren, weitergehende Hinweispflichten hingegen nicht einführen (vgl. SSW/StPO/Rosenau, 3. Aufl., § 265 Rn. 31). Danach bestehen Hinweispflichten auf eine geänderte Sachlage bei einer wesentlichen Veränderung des Tatbildes beispielsweise betreffend die Tatzeit, den Tatort, das Tatobjekt, das Tatopfer, die Tatrichtung, eine Person des Beteiligten oder bei der Konkretisierung einer im Tatsächlichen ungenauen Fassung des Anklagesatzes (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2011 - 1 StR 582/10, BGHSt 56, 121, 123 ff., und Urteil vom 20. November 2014 - 4 StR 234/14, aaO; Norouzi, aaO, Rn. 51; BeckOKStPO/Eschelbach, Stand 1. Januar 2018, § 265 Rn. 36). Hingegen sind Hinweise etwa hinsichtlich der Bewertung von Indiztatsachen (vgl. Eschelbach, aaO, Rn. 39 ff.) nach dem Willen des Gesetzgebers auch künftig nicht erforderlich. Ebenso wenig muss das Gericht unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens vor der Urteilsberatung seine Beweiswürdigung offenlegen oder sich zum Inhalt und Ergebnis einzelner Beweiserhebungen erklären (vgl. BGH, Beschluss vom 3. September 1997 - 5 StR 237/97, BGHSt 43, 212, 215).

bb) Ein - protokollierungsbedürftiger - Hinweis gemäß § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO muss ferner nur gegeben werden, wenn er zur genügenden Verteidigung des Angeklagten erforderlich ist. Er ist dementsprechend entbehrlich, wenn die Änderung der Sachlage durch den Gang der Hauptverhandlung für die Verfahrensbeteiligten ohne weiteres ersichtlich ist (zur st. Rspr. nach überkommener Gesetzeslage vgl. z.B. BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2015 - 4 StR 332/15 mwN; siehe auch Eschelbach, aaO, Rn. 44). Veränderungen der Sachlage hinsichtlich unwesentlicher Umstände, etwa solcher aus dem Randgeschehen, lösen die Hinweispflicht nicht aus (vgl. Eschelbach, aaO, Rn. 38).

b) Um dem Revisionsgericht die Prüfung eines Verstoßes gegen § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO zu ermöglichen, muss der Revisionsführer gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO - wie schon bisher - zu allen genannten Voraussetzungen vollständig vortragen. Für die Prüfung der Erforderlichkeit des Hinweises ist namentlich darzulegen, ob der Revident durch den Gang der Hauptverhandlung über die Veränderung der Sachlage bereits zuverlässig unterrichtet war und ein ausdrücklicher Hinweis deshalb unterbleiben konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2015 - 4 StR 332/15 mwN). Schließlich muss - wenn sich dies nicht von selbst versteht - ausgeführt werden, inwieweit der Hinweis für die genügende Verteidigung des Angeklagten erforderlich war. Denn nur unter dieser Voraussetzung besteht für das Gericht überhaupt die Rechtspflicht, einen Hinweis zu erteilen. Deshalb ist in ausreichender Weise vorzutragen, warum der Angeklagte durch das Unterlassen des Hinweises in seiner Verteidigung beschränkt war und wie er sein Verteidigungsverhalten nach erfolgtem Hinweis anders hätte einrichten können (vgl. BGH, Urteil vom 25. März 1992 - 3 StR 519/91, BGHR StPO § 265 Abs. 1 Hinweispflicht 9 mwN).

c) Diesen Vortragspflichten ist nicht genügt. Entsprechend den zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts lässt das Revisionsvorbringen nicht erkennen, inwieweit der Angeklagte sein Verteidigungsverhalten anders eingerichtet hätte, wenn er förmlich darauf hingewiesen worden wäre, dass das Gericht den von der Verteidigung initiierten Entlastungsbeweis für einen mehrmonatigen Abschnitt des Tatzeitraums (teilweise) als gelungen betrachtete und deshalb bei einigen Anklagefällen zum Freispruch neigte. Die insoweit eingetretene Entlastung des Angeklagten hat die Strafkammer in gebotenem Umfang auch in ihre sorgfältige Beweiswürdigung eingestellt.

2. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge hat hinsichtlich des Schuld- und Strafausspruchs einen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler nicht ergeben. Jedoch begegnen die ohne nähere Begründung auf § 184b Abs. 6, § 74 StGB gestützten Einziehungsentscheidungen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Zwar ist bei einer Verurteilung gemäß § 184b Abs. 4 StGB aF wegen Sichverschaffens oder Besitzes kinderpornographischer Schriften eine Einziehung des für den Aufnahme- und Speichervorgang verwendeten Mobiltelefons bzw. Computers nebst Zubehör nach § 74 Abs. 1 StGB nF als Tatmittel möglich, während nach § 184b Abs. 6 Satz 1 StGB nF nur die Beziehungsgegenstände der Tat - hier also die Festplatten der zur Bildspeicherung genutzten Geräte - zwingend einzuziehen sind (BGH, Beschluss vom 8. Februar 2012 - 4 StR 657/11, NStZ 2012, 319 mwN). Das Landgericht hat indes nicht erkennbar beachtet, dass die Entscheidung nach § 74 Abs. 1 StGB im pflichtgemäßen Ermessen des Tatgerichts steht.

Außerdem fehlen Feststellungen dazu, ob es technisch möglich ist, die Dateien in einer Weise von der Festplatte zu löschen, dass sie nicht mehr wiederhergestellt werden können. Diese wären aber zu treffen gewesen, weil für Anordnungen gemäß § 74 Abs. 1 und § 184b Abs. 6 StGB der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt (§ 74f StGB nF) und gegebenenfalls von den Möglichkeiten des § 74f Abs. 2 StGB Gebrauch gemacht werden muss. Danach können Einziehungen zunächst vorbehalten bleiben und weniger einschneidende Maßnahmen anzuordnen sein, wenn auch auf diese Weise der Einziehungszweck erreicht werden kann. Dies kann bei einer Speicherung von Bilddateien durch deren endgültige Löschung geschehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. November 2008 - 2 StR 501/08, BGHSt 53, 69, 71; vom 8. Februar 2012 - 4 StR 657/11, aaO; vom 28. August 2012 - 4 StR 278/12, BGHR StGB § 74b Abs. 2 Einziehung 1, und vom 18. Juni 2014 - 4 StR 128/14, NStZ-RR 2014, 274).

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 596

Externe Fundstellen: NStZ 2019, 239

Bearbeiter: Christian Becker