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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 480

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 1 BvR 1384/16, Beschluss v. 28.03.2017, HRRS 2017 Nr. 480


BVerfG 1 BvR 1384/16 (3. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 28. März 2017 (OLG Bamberg / LG Würzburg / AG Würzburg)

Verletzung der Meinungsfreiheit durch Verurteilung wegen Beihilfe zur Volksverhetzung (Meinungsfreiheit und Schutz von Tatsachenbehauptungen; allgemeine Gesetze als Schranken der Meinungsfreiheit; Ausnahme bei meinungsbeschränkenden Gesetzen gegen die propagandistische Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft; Wechselwirkungslehre; Auslegung mehrdeutiger Äußerungen; Berücksichtigung des Gesamtkontexts der Äußerung; erhöhte verfassungsgerichtliche Kontrolldichte).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 5 Abs. 2 GG; § 130 Abs. 3 Var. 2 StGB; § 27 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Der Satz „So seltsam es klingen mag, aber seit 1944 ist kein einziger Jude nach Auschwitz verschleppt worden“ kann nicht allein dahingehend verstanden werden, dass im gesamten Verlauf des Jahres 1944 kein Mensch jüdischen Glaubens durch das nationalsozialistische Unrechtsregime in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt worden sei. Ebenfalls möglich ist die Deutung, dass eine Verschleppung letztmalig im Jahr 1944 stattfand. Eine auf die erstgenannte Interpretation gestützte strafgerichtliche Verurteilung wegen der öffentlichen Verbreitung des Satzes verletzt daher die Meinungsfreiheit des Betroffenen, wenn die Gerichte nicht darlegen, weshalb der Äußerung bei verständiger Würdigung gerade der zu einer Verurteilung führende Bedeutungsgehalt zukommt.

2. Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst auch Tatsachenbehauptungen, soweit sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen und nicht bewusst oder erwiesen unwahr sind. Die Trennung tatsächlicher und wertender Bestandteile einer Aussage ist im Einzelfall nur zulässig, soweit dadurch der Sinn der Äußerung nicht verfälscht wird. Im Zweifel ist eine Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung anzusehen.

3. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit unterliegt den Schranken, die sich aus den allgemeinen Gesetzen ergeben, die nicht eine Meinung als solche verbieten, sondern dem Schutz eines ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen. Eine Ausnahme vom Erfordernis der Allgemeinheit meinungsbeschränkender Gesetze hat das Bundesverfassungsgericht für Vorschriften anerkannt, die auf die Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen den Jahren 1933 und 1945 zielen.

4. Bei der Auslegung und Anwendung meinungsbeschränkender Gesetze haben die Fachgerichte den wertsetzenden Gehalt des Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat zu berücksichtigen. Es findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die Schranken zwar dem Grundrecht Grenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.

5. Die Feststellung, ob eine Äußerung den Schutz der Meinungsfreiheit genießt, setzt voraus, dass die Äußerung in ihrem Sinngehalt zutreffend erfasst worden ist. Daher verstößt die Verurteilung wegen einer Äußerung schon dann gegen Art. 5 Abs. 1 GG, wenn diese den Sinn, den das Gericht ihr beigemessen hat, nicht besitzt oder wenn bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Deutung zugrunde gelegt worden ist, ohne dass andere, ebenfalls mögliche Deutungen mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind. Dabei haben die Gerichte ausgehend vom Wortlaut der Äußerung auch deren Kontext und die sonstigen Begleitumstände zu beachten.

6. Einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung der tatsächlichen Feststellungen stehen insoweit nicht diejenigen Umstände entgegen, die bei sonstigen Tatsachenfeststellungen regelmäßig zu einer Bindung an die Feststellungen der Fachgerichte führen.

Entscheidungstenor

1. Das Urteil des Landgerichts Würzburg vom 2. Dezember 2015 - 7 Ns 701 Js 20952/11 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 7. April 2016 - 3 OLG 6 Ss 20/16 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.

2. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Würzburg zurückverwiesen.

3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

4. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

5. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen strafgerichtliche Urteile. Er wurde im Zusammenhang mit einem auf seiner Internetseite veröffentlichten Text wegen Beihilfe zur Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 3 Variante 2, § 27 StGB verurteilt.

I.

1. Der Beschwerdeführer, der als selbständiger Publizist tätig ist, veröffentlichte auf seiner Internetseite zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt im April 2010 einen mit „Konspiration“ überschriebenen Text. Darin heißt es unter anderem:

„Auch der Staat bedient sich des Mittels der Konspiration, um unerwünschte Meinungen zu bekämpfen. Da wird ganz offen zum ,Kampf gegen Rechts‘ aufgerufen, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. So seltsam es klingen mag, aber seit 1944 ist kein einziger Jude nach Auschwitz verschleppt worden. Und seit die Alliierten keine deutschen Städte mehr bombardieren, werden Synagogen nur noch gebaut und nicht gesprengt. Der schreckliche Antisemitismus, gegen den der ,Kampf gegen Rechts‘ so entschlossen vorgeht, bezieht sich heute auf WORTE, die den Juden nach Ansicht der Meinungskontrolleure womöglich nicht gefallen.“

Diesen Text veröffentlichte ein gesondert abgeurteilter Dritter - was der Beschwerdeführer für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hatte - Anfang Juni 2010 in einer Zeitschrift, die im Jahr 2010 zweimonatsweise mit einer Auflage von etwa 700 Exemplaren erschien und über einen Abonnentenkreis von etwa 200 Personen verfügte.

2. Das Amtsgericht sprach den Beschwerdeführer mit Urteil vom 14. August 2013 wegen des vorstehenden Geschehens sowie der Veröffentlichung eines weiteren durch ihn verfassten Textes in der betreffenden Zeitschrift der Volksverhetzung schuldig und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 160 Tagessätzen, wobei mit zwei weiteren Geldstrafen, denen im vorliegenden Zusammenhang keine Bedeutung zukommt, eine Gesamtgeldstrafe von 240 Tagessätzen gebildet wurde. Nachfolgend wurden zwei daraufhin ergangene Berufungsurteile des Landgerichts jeweils durch das Oberlandesgericht aufgehoben.

3. Schließlich verwarf das Landgericht die Berufung des Beschwerdeführers mit Urteil vom 2. Dezember 2015 mit der Maßgabe, dass er wegen Beihilfe zur Volksverhetzung zu einer Geldstrafe von 140 Tagessätzen zu je 10 € verurteilt wurde. Zur Begründung führte das Landgericht insbesondere Folgendes aus.

Die Veröffentlichung des Artikels „Konspiration“ erfülle den Tatbestand des Leugnens einer unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Handlung der in § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art (§ 130 Abs. 3 Variante 2 StGB). Der Satz „So seltsam es klingen mag, aber seit 1944 ist kein einziger Jude nach Auschwitz verschleppt worden“ sei nach seinem klaren sprachlichen Inhalt so zu verstehen, dass schon im gesamten Jahr 1944, also noch während der Dauer der Herrschaft des Nationalsozialismus, keine Verschleppung von Menschen jüdischen Glaubens nach Auschwitz mehr stattgefunden habe. Eine andere Interpretation des Satzes scheide als denkbare Verständnismöglichkeit aus. Insbesondere könne der Satz nicht dahingehend verstanden werden, dass im Jahr 1944 noch Deportationen von Menschen nach Auschwitz stattgefunden hätten und dass insoweit nicht in Abrede gestellt werde, dass - was zutreffend sei - noch bis November 1944 derartige Deportationen stattgefunden hätten.

Dies ergebe sich aus dem Beginn des Satzes („So seltsam es klingen mag“). Dieser sei unsinnig, wenn der Beschwerdeführer lediglich hätte zum Ausdruck bringen wollen, dass erst ab November 1944 keine Deportationen mehr stattfanden. Diese zutreffende Aussage wäre für niemanden seltsam gewesen. Auch die Behauptung des Beschwerdeführers, dass er lediglich darauf habe hinweisen wollen, wie lange die betreffenden Ereignisse zurückliegen, ändere hieran nichts. Auch erkläre dieser Umstand nicht den Beginn des Satzes. Schließlich ergebe sich eine günstigere Auslegung auch nicht aus dem Kontext der literarischen Schriften des Beschwerdeführers oder aus dem Umstand, dass er - seiner Einlassung nach - Monarchist sei. Die literarischen Schriften des Beschwerdeführers wiesen keinen Sachbezug zu der Verfolgung von Menschen jüdischen Glaubens während der Zeit des Nationalsozialismus auf. Einem Künstler sei hinsichtlich politisch-satirischen Schaffens erheblicher Freiraum zu lassen. Die „Auschwitzlüge“, die vorliegend zumindest in temporärer Hinsicht gegeben sei, werde von dieser Freiheit nicht umfasst. Auch die behauptete monarchistische Gesinnung des Beschwerdeführers legitimiere die „Auschwitzlüge“ nicht.

4. Mit Beschluss vom 7. April 2016 verwarf das Oberlandesgericht die Revision des Beschwerdeführers als unbegründet. Das Landgericht habe nachvollziehbar dargelegt, wieso es der Interpretation, die der Beschwerdeführer dem verfahrensgegenständlichen Satz geben wollte, nicht gefolgt ist.

5. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Entscheidungen des Amtsgerichts, des Landgerichts und des Oberlandesgerichts und rügt - unter anderem - die Verletzung seiner Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

6. Dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen dem Bundesverfassungsgericht vor.

II.

1. Soweit der Beschwerdeführer rügt, durch das angegriffene Urteil des Landgerichts und den angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts in seinen Rechten aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt zu sein, nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Insbesondere ist die für die Entscheidung maßgebliche verfassungsrechtliche Frage der Reichweite von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bei der strafrechtlichen Beurteilung von Meinungsäußerungen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 7, 198 <207 ff.>; 61, 1 <7 ff.>; 90, 1 <14 ff.>; 90, 241 <246 ff.>; 93, 266 <289 ff.>; 124, 300 <320 ff.>).

a) Das Urteil des Landgerichts und der Beschluss des Oberlandesgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seiner durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Meinungsfreiheit.

aa) Gegenstand des Schutzbereiches des Art. 5 Abs.1 Satz 1 GG sind Meinungen, das heißt durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägte Äußerungen (vgl. BVerfGE 7, 198 <210>; 61, 1 <8>; 90, 241 <247>). Sie fallen stets in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden (vgl. BVerfGE 90, 241 <247>; 124, 300 <320>).

Neben Meinungen sind vom Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG aber auch Tatsachenmitteilungen umfasst, da und soweit sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind beziehungsweise sein können (vgl. BVerfGE 61, 1 <8>; 90, 241 <247>). Nicht mehr in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallen hingegen bewusst oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen, da sie zu der verfassungsrechtlich gewährleisteten Meinungsbildung nichts beitragen können (vgl. BVerfGE 61, 1 <8>; 90, 241 <247>). Im Einzelfall ist eine Trennung der tatsächlichen und der wertenden Bestandteile aber nur zulässig, wenn dadurch der Sinn der Äußerung nicht verfälscht wird. Wo dies nicht möglich ist, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung angesehen werden, weil andernfalls eine wesentliche Verkürzung des Grundrechtsschutzes drohte (vgl. BVerfGE 61, 1 <9>; 90, 241 <248>).

Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist allerdings nicht vorbehaltlos gewährleistet. Nach Art. 5 Abs. 2 GG unterliegt es insbesondere den Schranken, die sich aus den allgemeinen Gesetzen ergeben. Darunter sind alle Gesetze zu verstehen, die nicht eine Meinung als solche verbieten, sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen (vgl. BVerfGE 7, 198 <209>; 93, 266 <291>; 124, 300 <321 f.>). Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht eine Ausnahme vom Erfordernis der Allgemeinheit meinungsbeschränkender Gesetze für Vorschriften anerkannt, die auf die Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen den Jahren 1933 und 1945 zielen (vgl. BVerfGE 124, 300 <328 ff.>). Die Fachgerichte haben bei der Auslegung und Anwendung der die Meinungsfreiheit beschränkenden Gesetze dem eingeschränkten Grundrecht Rechnung zu tragen, damit dessen wertsetzende Bedeutung, die in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen führen muss, auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt. Zwischen Grundrechtsschutz und Grundrechtsschranken findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die Schranken zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Grenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen (BVerfGE 124, 300 <332, 342>).

Die Feststellung, ob eine Äußerung den Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG genießt und ob sie die Tatbestandsmerkmale eines der in Art. 5 Abs. 2 GG bezeichneten Gesetze erfüllt, sowie die dann erforderliche fallbezogene Abwägung setzen allerdings voraus, dass die Äußerung in ihrem Sinngehalt zutreffend erfasst worden ist. Ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 GG liegt infolgedessen nicht nur dann vor, wenn eine Äußerung fälschlich dem Schutz des Grundrechts entzogen oder wenn dieses bei Auslegung und Anwendung der Gesetze nicht ausreichend beachtet worden ist. Vielmehr verstößt die Verurteilung wegen einer Äußerung schon dann gegen Art. 5 Abs. 1 GG, wenn diese den Sinn, den das Gericht ihr entnommen und der Verurteilung zugrunde gelegt hat, nicht besitzt oder wenn bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Deutung zugrunde gelegt worden ist, ohne dass andere, ebenfalls mögliche Deutungen mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind (vgl. BVerfGE 43, 130 <136 f.>; 61, 1 <7 ff.>; 82, 43 <52>). Dabei haben die Gerichte insbesondere ausgehend vom Wortlaut auch den Kontext und die sonstigen Begleitumstände der Äußerung zu beachten. Insoweit stehen einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung der tatsächlichen Feststellung nicht diejenigen Umstände entgegen, die bei sonstigen Tatsachenfeststellungen regelmäßig zu einer Bindung an die Feststellungen der Fachgerichte führen (BVerfGE 43, 130 <137>).

bb) Einer Nachprüfung anhand dieser Maßstäbe halten die angegriffenen Entscheidungen nicht stand. Die Strafgerichte haben bei der Würdigung der der Verurteilung zugrundeliegenden Textpassage andere mögliche Deutungen nicht mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen und das Grundrecht der Meinungsfreiheit nicht beachtet.

(1) Das Landgericht und das Oberlandesgericht gehen übereinstimmend davon aus, dass der Satz „So seltsam es klingen mag, aber seit 1944 ist kein einziger Jude nach Auschwitz verschleppt worden“ allein dahingehend verstanden werden kann, dass im gesamten Verlauf des Jahres 1944 kein Mensch jüdischen Glaubens in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt worden sei. Die Fachgerichte haben, ohne hierbei die Meinungsfreiheit und die sich hieraus ergebenden Anforderungen an die Auslegung von mehrdeutigen Äußerungen zu berücksichtigen, dies letztlich allein damit begründet, dass der Beschwerdeführer den Satz mit den Worten „So seltsam es klingen mag“ einleitet. Hierdurch haben die Fachgerichte die ebenfalls mögliche Deutung, dass letztmalig im Jahr 1944, nämlich im November diesen Jahres, Menschen jüdischen Glaubens durch das nationalsozialistische Unrechtsregime in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt wurden, schon auf Ebene des Wortlauts nicht mit überzeugenden Gründe ausgeschlossen.

Der schriftlichen Äußerung des Beschwerdeführers können bei isolierter Betrachtung des Wortlauts beide Bedeutungen zugemessen werden. Da „1944“ keinen bestimmten Zeitpunkt, sondern einen Zeitraum bezeichnet, ist es mit der schriftlichen Äußerung des Beschwerdeführers ohne Weiteres vereinbar, dass sich das Wort „seit“ auf jeden möglichen Zeitpunkt innerhalb des bezeichneten Zeitraums bezieht. Allein die Satzeinleitung „So seltsam es klingen mag,“ bietet keine tragfähige Grundlage, der Äußerung des Beschwerdeführers den durch die Fachgerichte zugrunde gelegten Bedeutungsgehalt beizumessen. Die Wendung würde insbesondere nicht sinnlos, wenn man ein dem Beschwerdeführer günstiges Verständnis seiner Äußerung zugrunde legt. Wenn der Beschwerdeführer seinen Aussagen insoweit einen möglicherweise seltsamen Klang attestiert, heißt das nicht ohne Weiteres, dass sich die Seltsamkeit der Äußerung für den Zuhörer auf den Inhalt oder Wahrheitsgehalt der Aussage bezieht. Vielmehr kann hiermit auch auf die Seltsamkeit der eingenommenen Perspektive oder des Kontextes, in den die Äußerung gestellt wird, in Bezug genommen werden.

(2) Eine überzeugende und den durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG aufgestellten Anforderungen genügende Erfassung der Aussage des Beschwerdeführers hätte den Kontext berücksichtigen müssen. Der Beschwerdeführer bezieht sich in den folgenden, den Gedanken fortführenden Passagen allein auf die Situation in der Bundesrepublik und gibt seinem Missfallen darüber Ausdruck, dass, obwohl es unter der neuen Ordnung keine nationalsozialistischen Verbrechen mehr gäbe, trotzdem zu einem Kampf gegen Rechts aufgerufen würde. Vor diesem Hintergrund hätten sich die Strafgerichte jedenfalls damit auseinandersetzen müssen, aus welchem Grund der Äußerung des Beschwerdeführers bei verständiger Würdigung dennoch gerade der zu seiner Verurteilung führende Bedeutungsgehalt zukommt. Es ist nicht ohne weitere Begründung nachvollziehbar, warum in diesem Kontext der streitbefangene, diesen Ausführungen vorangehende Satz eine davon losgelöste und andersartige Stoßrichtung haben soll, die die geschichtliche Behauptung beinhaltet, dass bereits im gesamten Jahr 1944 keine Menschen jüdischen Glaubens in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt wurden. Allein die Anknüpfung an die aus dem Gesamttext ersichtliche politische Haltung des Beschwerdeführers rechtfertigt eine solche Interpretation jedenfalls nicht. Die von den Strafgerichten vorgenommene Interpretation hätte somit weiterer Begründung bedurft, um gegebenenfalls zu überzeugen.

(3) Obwohl die den Gegenstand der Verurteilung bildende schriftliche Äußerung des Beschwerdeführers ersichtlich mit Meinungsäußerungen verbunden ist, fehlt im Urteil des Landgerichts jede Auseinandersetzung mit der Frage, welche Bedeutung dem Grundrecht für die zu treffende Entscheidung zukommt. Das Landgericht hat die Reichweite des Art. 5 GG im konkreten Fall nicht etwa nur unrichtig bestimmt, es hat das Grundrecht der Meinungsfreiheit bei seiner Entscheidung nicht beachtet. Diese Abwägung ist im Rahmen einer Neuentscheidung nachzuholen.

b) Das Urteil des Landgerichts und der Beschluss des Oberlandesgerichts beruhen auch auf der Verkennung der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Es ist zwar nicht zwingend zu erwarten, aber auch nicht auszuschließen, dass Landgericht und Oberlandesgericht bei Berücksichtigung der grundrechtlichen Anforderungen zu einem anderen Ergebnis gekommen wären.

2. Das Urteil des Landgerichts und der Beschluss des Oberlandesgerichts sind demnach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen.

3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>)

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 480

Bearbeiter: Holger Mann