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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 1089

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, GSSt 2/17, Beschluss v. 12.06.2017, HRRS 2017 Nr. 1089


BGH GSSt 2/17 - Beschluss vom 12. Juni 2017

BGHSt 62, 184; Grundsätze der Strafzumessung (Berücksichtigung des zeitlichen Abstandes zwischen Tat und Urteil; Ruhen der Verjährung (kein Widerspruch zu Grundsätzen der Strafzumessung).

§ 46 StGB; § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 176 StGB; § 176a StGB

Leitsätze

1. Dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt im Rahmen der Strafzumessung bei Taten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Straftaten. (BGHSt)

2. Die Strafe soll eine angemessene staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat sein. Ihre Bemessung ist zugleich tatrichterlicher Wertungsakt und Rechtsanwendung auf einen bestimmten Strafzumessungssachverhalt unter vom Gesetzgeber formulierten Strafzumessungskriterien und Leitlinien; sie erfordert nach anerkannten Grundsätzen eine einzelfallorientierte Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände. Grundlagen der Strafzumessung sind dabei die Schwere der Tat in ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung und der Grad der persönlichen Schuld des Täters. (Bearbeiter)

3. Der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil gehört zu den Umständen, die nach diesen am Einzelfall orientierten Maßgaben Einfluss auf die Bemessung der Strafe gewinnen können. (Bearbeiter)

4. Das Gewicht, mit dem der zeitliche Abstand zwischen einer noch verfolgbaren Tat und dem Urteil in die Bemessung der Strafe einzustellen ist, hängt auch nicht von der Länge der Verjährungsfrist ab. Es wird ebenfalls nicht dadurch beeinflusst, dass die Tat gegebenenfalls länger verfolgbar ist, weil die Verjährung ruht oder unterbrochen ist. Insbesondere die Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB steht dem sich aus den Grundsätzen der Strafzumessung ergebenden Erfordernis, den Faktor Zeitablauf zwischen Tat und Urteil stets individuell zu betrachten und zu gewichten, nicht entgegen; sie führt nicht dazu, dass bei Straftaten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern betreffen, dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil generell, d.h. losgelöst von den konkreten Einzelfallumständen, ein geringeres Gewicht zukommt als bei anderen Straftaten. (Bearbeiter)

5. Die Bedeutung des Strafzumessungsgesichtspunktes zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil ist einzelfall- und nicht deliktsgruppenabhängig. Dies bedeutet jedoch nicht, dass neben anderen die wesentlichen Gründe, die den Gesetzgeber zur Schaffung und sukzessiven Erweiterung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB bewogen haben, nicht auch im Rahmen der Strafzumessung Bedeutung erlangen können. Insbesondere erlauben es die Grundsätze der Strafzumessung, in systemkonformer Weise die wesentlichen unrechtssteigernden Elemente zu erfassen, die auch im Rahmen des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB eine Rolle spielen. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt im Rahmen der Strafzumessung bei Taten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Straftaten.

Gründe

Die Vorlage betrifft eine Frage aus dem Bereich der Strafzumessung.

I.

1. In dem beim 3. Strafsenat anhängigen Verfahren hat das Landgericht den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 35 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen.

Nach den von der Strafkammer getroffenen Feststellungen nahm der Angeklagte in dem Zeitraum vom 1. März 1990 bis zum 1. März 1994 in mindestens 35 Fällen beim Zubettbringen seiner am 1. März 1985 geborenen Tochter an ihr sexuelle Handlungen vor oder ließ solche von ihr an sich vornehmen. Während der Taten erklärte der einen offenen und liberalen Erziehungsstil pflegende Angeklagte, dass dies „dazu gehöre“ und eine „gute Tochter das so mache“. Allerdings schärfte er seiner Tochter auch ein, sie dürfe niemandem von den Geschehnissen berichten, da er sonst „ins Gefängnis müsse“.

Der Angeklagte hat die Verurteilung mit der Revision umfassend angegriffen und die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet.

Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Revision durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen.

Nach Auffassung des 3. Strafsenats dringen die Verfahrensbeanstandungen aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts ausgeführten Gründen nicht durch. Er ist der Ansicht, der Schuldspruch halte auch materiellrechtlicher Überprüfung stand. Die Feststellungen beruhten auf einer nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung; gegen die rechtliche Würdigung des Geschehens sei ebenfalls nichts zu erinnern.

Der 3. Strafsenat beabsichtigt allerdings, auf die Sachrüge den gesamten Strafausspruch aufzuheben. Anlass hierzu gibt ihm die unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Rechtsprechung des 1. Strafsenats (BGH, Beschluss vom 8. Februar 2006 - 1 StR 7/06, NStZ 2006, 393) vorgenommene Wertung des Landgerichts, zu Gunsten des Angeklagten spreche zwar, dass die Taten inzwischen sehr lange zurück lägen; jedoch könne dieser Umstand vorliegend nicht in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten, da der sexuelle Kindesmissbrauch im familiären Umfeld erfolgt und die späte Anzeige der Tat hierdurch mitbedingt gewesen sei, so dass die gesetzgeberische Wertung des § 78b StGB tangiert werde.

Im Einzelnen hatte der 1. Strafsenat in der vom Landgericht in Bezug genommenen Entscheidung im Einklang mit Erwägungen in einem früheren Urteil des 3. Strafsenats (BGH, Urteil vom 10. November 1999 - 3 StR 361/99, NJW 2000, 748, 749), das zu dem in § 358 Abs. 2 StPO normierten Verschlechterungsverbot ergangen war, ausgeführt, dem langen Abstand zwischen Tat und Urteil komme bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht eine gleich hohe Bedeutung wie in anderen Fällen zu. Dies gelte insbesondere in den Fällen, in denen ein Kind vom im selben Familienverband lebenden (Stief-)Vater missbraucht werde und erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige finde. Deshalb habe der Gesetzgeber auch die besondere Verjährungsregelung in § 78b StGB getroffen. Zuvor hatte der 5. Strafsenat in einem Fall, der die Vergewaltigung eines zur Tatzeit 14 Jahre alten Mädchens betraf, - nicht tragend - darauf hingewiesen, der Umstand, dass der Angeklagte erst 18 Jahre nach der Tat strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sei, stelle einen strafmildernd zu berücksichtigenden Gesichtspunkt dar, auch wenn Fälle der vorliegenden Art aus tatsächlichen Gründen vielfach lange Jahre unbekannt blieben und der Gesetzgeber diesem Umstand in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB dadurch Rechnung getragen habe, dass die Verjährung bei diesen Delikten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers ruhe (BGH, Beschluss vom 29. September 1997 - 5 StR 363/97, NStZ-RR 1998, 207). In der Literatur hat die Auffassung des 1. Strafsenats überwiegend Zustimmung gefunden (vgl. SK-StGB/Wolters, 135. Lfg., § 176 Rn. 13; LK/Hörnle, StGB, 12. Aufl., § 176 Rn. 55; S/S-Eisele, StGB, 29. Aufl., § 176 Rn. 29; MüKo-StGB/Miebach/Maier, 3. Aufl., § 46 Rn. 323); zum Teil ist sie aber auch auf Ablehnung gestoßen (vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl., § 46 Rn. 61, § 176 Rn. 35; MüKo-StGB/Renzikowski, 3. Aufl., § 176 Rn. 72).

Der 3. Strafsenat versteht die Ausführungen der Strafkammer dahin, diese habe durch den ausdrücklichen Verweis auf die Entscheidung des 1. Strafsenats und die Betonung der gesetzgeberischen Wertung des § 78b StGB deutlich gemacht, dass sie bezüglich des Gewichts des Strafzumessungsgesichtspunktes Zeitablauf zwischen Tat und Urteil zwischen Straftaten, die den sexuellen Missbrauch eines Kindes zum Gegenstand haben, und sonstigen Straftaten generell unterscheide. Er hält diese Erwägung für rechtsfehlerhaft und kann nicht ausschließen, dass die Einzelstrafen und die Gesamtstrafe niedriger ausgefallen wären, hätte das Landgericht diesen Gesichtspunkt nicht in die Abwägung eingestellt.

2. Der 3. Strafsenat hat deshalb unter Darlegung seiner Auffassung bei den anderen Strafsenaten gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG angefragt, ob diese an (gegebenenfalls) entgegenstehender Rechtsprechung festhalten (BGH, Beschluss vom 29. Oktober 2015 - 3 StR 342/15, NStZ 2016, 277, mit Anm. Schiemann, NStZ 2016, 336).

Hierauf hat der 1. Strafsenat mit Beschluss vom 10. Mai 2016 (1 ARs 5/16, NStZ-RR 2016, 336) mitgeteilt, dass die beabsichtigte Entscheidung des 3. Strafsenats seiner Rechtsprechung widerspreche und er an seiner Rechtsansicht grundsätzlich festhalte. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, einem besonders langen Zeitraum zwischen Tat und Urteil komme für sich genommen eine strafmildernde Wirkung zu. Die strafzumessungstheoretische Verankerung dieses selbständigen Strafzumessungsgrundes sei nicht eindeutig, beruhe aber bei unbeeinflusster Tatschuld auf einem allgemein abnehmenden Sühnebedürfnis bzw. einer geminderten Notwendigkeit von Sühne; daneben könnten besondere Prüfungspflichten im Hinblick auf spezialpräventiv wirksame Umstände ausgelöst werden. Dies führe zu der Notwendigkeit einer individuellen Gewichtung des Faktors Zeitablauf; diese Wertung sei grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Nach den Maßgaben, die für die Ãœberprüfung der tatgerichtlichen Strafzumessung in der Revisionsinstanz gelten, sei es rechtsfehlerfrei, wenn das Tatgericht in diesem Zusammenhang auf die gesetzgeberischen Wertungen zurückgreife, die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommen seien. Er könne deshalb die Ansicht nicht teilen, dass das Gewicht des Zeitablaufs von der Länge der Verjährungsfrist nicht beeinflusst werden dürfe. Eine entsprechende Anknüpfung finde sich in mehreren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts. Die Verjährungsvorschriften hätten zwar „zum Teil“ eine andere Zielrichtung als die Strafzumessungsregelungen, letztlich komme aber in ihnen auch zum Ausdruck, dass die Rechtsordnung ein Strafbedürfnis infolge Zeitablaufs verneine. Es gehe mithin um die Bewertung ein und desselben Phänomens, nämlich des Zeitablaufs seit den Taten. Durch den Rückgriff auf die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wertung werde der Strafzumessungsgrund Zeitablauf entsprechend dieser Wertung ausgefüllt. Zu den Verjährungsvorschriften, an denen sich das Tatgericht orientieren dürfe, zähle auch § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB. Dass der Gesetzgeber mit dieser „Regelung betreffend die Verfolgbarkeit von Taten“ nicht den ersichtlichen Willen kundgetan habe, Strafzumessungskriterien oder deren Gewichtung zu modifizieren, sei nicht aussagekräftig.

Der 2. Strafsenat hat mit näher begründetem Beschluss vom 14. Juni 2016 (2 ARs 67/16, juris) geantwortet, er stimme der Rechtsauffassung des 3. Strafsenats zu.

Der 4. und der 5. Strafsenat haben mitgeteilt, ihre Rechtsprechung stehe der beabsichtigten Entscheidung des 3. Strafsenats nicht entgegen.

3. Mit Beschluss vom 17. November 2016 (3 StR 342/15, NStZ-RR 2017, 103) hat der 3. Strafsenat dem Großen Senat für Strafsachen gemäß § 132 Abs. 2 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:

„Kann der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes nicht in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten?" Er hat ausgeführt, er vermöge sich der Ansicht des 1. Strafsenats auch unter Berücksichtigung der Erwägungen in dem Beschluss vom 10. Mai 2016 nicht anzuschließen; denn sie vermische in sachlich nicht gerechtfertigter Weise Gesichtspunkte der Strafzumessung mit solchen der Verjährung. Er halte deshalb an seiner in dem Anfragebeschluss vom 29. Oktober 2015 dargelegten Auffassung fest; soweit er in der Entscheidung vom 10. November 1999 noch Anderes vertreten habe, gebe er diese Rechtsprechung auf. Danach könne der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten; die gesetzliche Regelung des Ruhens der Verjährung in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB führe nicht zu einem anderen Ergebnis.

Dem hat die Verteidigung mit näheren Ausführungen zugestimmt.

4. Der Generalbundesanwalt erachtet die Vorlage für zulässig und beantragt zu beschließen:

„Es ist nicht rechtsfehlerhaft, wenn im Einzelfall bei einer Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern im Rahmen der Strafzumessung der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil unter Berücksichtigung der dem § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB zugrundeliegenden Motive des Gesetzgebers nicht in gleicher Weise Beachtung findet wie bei anderen Straftaten.“

II.

Die Vorlage ist zulässig.

1. Sie betrifft eine Rechtsfrage im Sinne des § 132 Abs. 2 GVG und nicht die tatgerichtliche Wertung von für die Strafzumessung bedeutsamen Tatsachen, die dem Revisionsgericht grundsätzlich verschlossen und damit dem Divergenzverfahren nicht zugänglich ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Juni 1977 - 5 StR 30/77, BGHSt 27, 212, 213 ff.; vom 15. November 2007 - 4 StR 400/07, BGHSt 52, 84, 86 ff.); denn es steht die vom 3. Strafsenat bereits im rechtlichen Ansatz und damit losgelöst von dem konkreten Einzelfall als fehlerhaft erachtete Erwägung in Rede, aufgrund einer Vorschrift aus dem Bereich der Verjährungsregelungen sei ein strafzumessungsrechtlich erheblicher Umstand für bestimmte Delikte generell mit einem geringeren Gewicht zu bewerten als bei anderen Straftaten.

2. Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich. Nach dem jedenfalls vertretbaren und deshalb für den Großen Senat für Strafsachen bindenden Verständnis der tatgerichtlichen Urteilsgründe (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Juli 1995 - GSSt 1/95, BGHSt 41, 187, 194; vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, BGHSt 51, 298, 302; Kissel/Mayer, GVG, 8. Aufl., § 132 Rn. 29; LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 132 GVG Rn. 42) durch den 3. Strafsenat hängt die Entscheidung über die Revision des Angeklagten davon ab, ob die Ausführungen der Strafkammer als rechtsfehlerhaft oder rechtsfehlerfrei zu bewerten sind. Durch ihre Beantwortung wird somit das Ergebnis des konkreten Revisionsverfahrens beeinflusst (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 128; vom 15. Juli 2016 - GSSt 1/16, NJW 2017, 94, 95).

3. Der 3. Strafsenat kann auch mit Blick auf den im Anfrageverfahren ergangenen Antwortbeschluss des 1. Strafsenats nicht wie beabsichtigt entscheiden, ohne von dessen Rechtsauffassung abzuweichen. Dem steht im Ergebnis nicht entgegen, dass der 1. Strafsenat ausgeführt hat, er halte „grundsätzlich“ an seiner Rechtsansicht fest, und im Folgenden - jedenfalls auch - darauf hingewiesen hat, es beurteile sich nach dem Einzelfall, mit welchem Gewicht sich der Zeitablauf strafmildernd auswirke. Hierdurch haben sich die Auffassungen der beiden Senate zwar angenähert, indes ist die entscheidungserhebliche Divergenz zwischen den verschiedenen Ansichten betreffend die Frage, ob die in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB getroffene Regelung dazu führt, dass dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil bei Straftaten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, generell eine geringere Bedeutung als bei anderen Straftaten zukommt, nicht beseitigt.

III.

Der Große Senat für Strafsachen beantwortet die Vorlegungsfrage in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Sinne.

Die Strafzumessung erfordert eine sich am Einzelfall orientierende Bewertung der hierfür bedeutsamen Umstände (hierzu u. 1.). Zu diesen kann auch der eigenständige Strafzumessungsgesichtspunkt des zeitlichen Abstands zwischen Tat und Urteil gehören (hierzu u. 2.). Die Verjährungsvorschriften und dabei insbesondere die Regelung des § 78b StGB stehen dieser sich nach den Umständen des konkreten Falles richtenden Würdigung nicht entgegen; aus ihnen ergibt sich insbesondere nicht, dass bei dem von § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB erfassten sexuellen Missbrauch von Kindern (§ 176 StGB) dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil generell, d.h. losgelöst von den konkreten Einzelfallumständen, ein geringeres Gewicht zukommt als bei anderen Straftaten (hierzu u. 3.). Allerdings kann das Tatgericht diejenigen Gesichtspunkte, die der Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB zugrunde liegen, bei der Strafzumessung berücksichtigen, sofern sie im Einzelfall festgestellt und für die Bemessung der Strafe von Bedeutung sind (hierzu u. 4.). Im Einzelnen:

1. Die Strafe soll eine angemessene staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat sein. Ihre Bemessung ist zugleich tatrichterlicher Wertungsakt und Rechtsanwendung auf einen bestimmten Strafzumessungssachverhalt unter vom Gesetzgeber formulierten Strafzumessungskriterien und Leitlinien (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 2007 - 2 BvR 1447, 136/05, BVerfGE 118, 212, 228 ff.; BGH, Beschluss vom 15. November 2007 - 4 StR 400/07, BGHSt 52, 84, 87); sie erfordert nach anerkannten Grundsätzen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Juni 1977 - 5 StR 30/77, BGHSt 27, 212, 215) eine einzelfallorientierte Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände. Grundlagen der Strafzumessung sind dabei die Schwere der Tat in ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung und der Grad der persönlichen Schuld des Täters (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB; BGH, Urteil vom 4. August 1965 - 2 StR 282/65, BGHSt 20, 264, 266). Daneben ist dessen Resozialisierung der zentrale Gesichtspunkt, denn das Tatgericht hat bei der konkreten Strafbemessung die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB). Es ist im Rahmen der konkreten Strafzumessung gehalten, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände festzustellen, zu bewerten, gegeneinander abzuwägen (§ 46 Abs. 2 Satz 1 StGB) und die Strafe innerhalb des ihm zur Verfügung stehenden Strafrahmens zu bestimmen. Eine „Mathematisierung“ oder ein sonstiger Schematismus sind dem Gesetz hierbei fremd (BGH, Beschluss vom 10. April 1987 - GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 351; Urteil vom 28. März 2013 - 4 StR 467/12, juris Rn. 30; Beschluss vom 10. November 2016 - 1 StR 417/16, juris).

2. Der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil gehört zu den Umständen, die nach diesen am Einzelfall orientierten Maßgaben Einfluss auf die Bemessung der Strafe gewinnen können.

a) Kommt es in einem Strafverfahren zu einem großen Abstand zwischen Tat und Urteil, kann dies bei der Bestimmung der Rechtsfolgen unter drei verschiedenen Aspekten von Belang sein (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Dezember 1998 - 3 StR 561/98, NJW 1999, 1198 f.): Zum einen kann der betreffende Zeitraum bereits für sich genommen ins Gewicht fallen. Unabhängig hiervon kann zum zweiten einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zukommen, bei der insbesondere die mit dem Verfahren selbst verbundenen Belastungen des Angeklagten zu berücksichtigen sind. Zum dritten kann sich schließlich eine darüber hinausgehende rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu Gunsten des Angeklagten auswirken.

b) Die sich an diese drei Gesichtspunkte anknüpfenden Rechtsfolgen sind unterschiedlich:

aa) Die zu einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung führende Verletzung des Beschleunigungsgebotes gebietet eine Kompensation zu Gunsten des hierdurch betroffenen Angeklagten (sog. Vollstreckungsmodell; st. Rspr.; vgl. grundlegend BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124).

bb) Demgegenüber handelt es sich bei dem großen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil und bei den mit einer langen Verfahrensdauer einhergehenden Belastungen des Angeklagten um zwei selbständige, gegebenenfalls im Rahmen der nach den §§ 46 ff. StGB vorzunehmenden Strafzumessung getrennt zu prüfende und im tatgerichtlichen Urteil zu erörternde Strafzumessungsgesichtspunkte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, aaO S. 141 f.; vom 29. November 1985 - 2 StR 596/85, NStZ 1986, 217, 218; vom 29. März 1988 - 5 StR 76/88, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 2; vom 22. Januar 1992 - 3 StR 440/91, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 6; vom 21. Dezember 2010 - 2 StR 344/10, NStZ 2011, 651).

Dies entspricht, soweit es um die hier relevante strafmildernde Wirkung des Zeitraums zwischen Tat und Urteil geht, im Ergebnis einhelliger Auffassung in der Rechtsprechung (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 1998 - 3 StR 561/98, NJW 1999, 1198; vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f.; vom 13. Mai 2015 - 2 StR 535/14, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Wertungsfehler 40; vom 29. September 2015 - 2 StR 128/15, NStZ-RR 2016, 7) und Literatur (vgl. etwa Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl., 1974, S. 461; ders., Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 181; Frisch, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, Bd. 4, S. 269, 299 f.; Streng, JR 2006, 257, 259; LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240; Fischer, StGB, 64. Aufl., § 46 Rn. 61; MüKo-StGB/Miebach/Maier, 3. Aufl., § 46 Rn. 319; NK-StGB/Streng, 5. Aufl., § 46 Rn. 88; S/S-Stree/Kinzig, StGB, 29. Aufl., § 46 Rn. 57a; AnwK-StGB/Seebode, 2. Aufl., § 46 Rn. 97; SSW-StGB/Eschelbach, 3. Aufl., § 46 Rn. 168 ff.). Der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil ist als sonstiger, nicht ausdrücklich namentlich aufgeführter Aspekt im Sinne des § 46 Abs. 2 StGB einzuordnen (vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl., § 46 Rn. 56, 61; AnwK-StGB/Seebode, 2. Aufl., § 46 Rn. 97), wenn auch die strafzumessungstheoretische Verankerung dieses Gesichtspunktes variiert (vgl. hierzu im Einzelnen BGH, Beschluss vom 10. Mai 2016 - 1 ARs 5/16, NStZ-RR 2016, 336 m. zahlr. w.N.). Im hiesigen Zusammenhang von wesentlicher Bedeutung ist dabei, dass der Ablauf der Zeit zwar nicht die Tatschuld mindert; jedoch kann er Tat und Täter unter den Aspekten von Schuld und Spezialprävention in einem günstigeren Licht erscheinen lassen, als es bei schneller Ahndung der Fall gewesen wäre. Dies gilt insbesondere, wenn sich die Tat durch den Zeitablauf als einmalige Verfehlung des Täters erwiesen, er sich inzwischen jahrelang einwandfrei geführt und der Verletzte die Folgen der Tat überwunden hat (vgl. LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240 mwN). Ein langer Zeitablauf nach der Tat führt deshalb nicht nur zu einer Minderung des Sühneanspruchs, weil das Strafbedürfnis allgemein abnimmt (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f.), sondern erfordert auch eine gesteigerte Prüfung der Wirkungen der Strafe für den Täter (BGH, Beschluss vom 20. Februar 1998 - 2 StR 20/98, BGHR StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 35).

c) Mit den dargelegten, die Strafzumessung allgemein prägenden Grundsätzen und dem Wesen des zeitlichen Abstands zwischen Tat und Urteil als Strafzumessungsgesichtspunkt im Sinne des § 46 Abs. 2 StGB sind generalisierende, die konkreten Einzelfallumstände außer Acht lassende Wertungen nicht vereinbar. Dies gilt für alle in diesem Zusammenhang bedeutsamen Strafzumessungsfaktoren; ein Grund, insoweit zwischen dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil und den sonstigen nach § 46 Abs. 2 StGB zu beachtenden Faktoren zu unterscheiden, ist nicht ersichtlich. Vielmehr ist aus strafzumessungsdogmatischer Sicht die Bedeutung des hier relevanten Kriteriums zum einen weder absolut, noch begründet es eine Regelwirkung; zum anderen ist dem strafrechtlichen Sanktionensystem auch eine Differenzierung der Bedeutung nach Deliktsgruppen fremd.

3. Das Gewicht, mit dem der zeitliche Abstand zwischen einer noch verfolgbaren Tat und dem Urteil in die Bemessung der Strafe einzustellen ist, hängt auch nicht von der Länge der zunächst nach den §§ 78, 78a StGB zu bestimmenden Verjährungsfrist ab. Es wird ebenfalls nicht dadurch beeinflusst, dass die Tat gegebenenfalls länger verfolgbar ist, weil die Voraussetzungen eines der Tatbestände gegeben sind, bei deren Erfüllung die Verjährung nach § 78b StGB ruht oder gemäß § 78c StGB unterbrochen ist. Insbesondere die Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB steht dem sich aus den Grundsätzen der Strafzumessung ergebenden Erfordernis, den Faktor Zeitablauf zwischen Tat und Urteil stets individuell zu betrachten und zu gewichten, nicht entgegen; sie führt nicht dazu, dass bei Straftaten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern betreffen, dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil generell, d.h. losgelöst von den konkreten Einzelfallumständen, ein geringeres Gewicht zukommt als bei anderen Straftaten.

a) Dies folgt zunächst aus den im Vergleich zu dem Bereich der Strafzumessung unterschiedlichen Regelungsgehalten, Zielen und Ausgestaltungen der Vorschriften über die Verfolgungsverjährung.

§ 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB ist Teil des die Verfolgungsverjährung betreffenden gesetzlichen Regelungsgefüges. Dieses knüpft zwar wie der Strafzumessungsgesichtspunkt zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil an den seit der Begehung der Straftat vergangenen Zeitraum an. Die Verjährungsvorschriften begründen indes keine Maßstäbe für eine angemessene staatliche Sanktion für eine begangene Straftat; sie regeln vielmehr - unabhängig davon, welchen Sinn und Zweck man der Verjährung im Einzelnen beimisst (vgl. hierzu etwa BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1969 - 2 BvL 15, 23/68, BVerfGE 25, 269, 293 ff.; Asholt, Verjährung im Strafrecht, 2016, S. 90 ff.; Hörnle in Festschrift Beulke, 2015, S. 115 ff.; Schiemann, NStZ 2016, 336) - die Verfolgbarkeit der Tat und lassen deren Strafbarkeit bzw. deren Unrecht und die Schuld des Täters unberührt (BVerfG, Beschlüsse vom 26. Februar 1969 - 2 BvL 15, 23/68, BVerfGE 25, 269, 287, 294; vom 31. Januar 2000 - 2 BvR 104/00, NStZ 2000, 251). Nach Ablauf der Verjährungsfrist ist die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen nicht mehr möglich (§ 78 Abs. 1 Satz 1 StGB). Das Rechtsinstitut der Verjährung soll dem Rechtsfrieden dienen und einer etwaigen Untätigkeit der Behörden in jedem Abschnitt des Verfahrens entgegenwirken (BGH, Urteil vom 26. Juni 1958 - 4 StR 145/58, BGHSt 11, 393, 396; Beschluss vom 23. Januar 1959 - 4 StR 428/58, BGHSt 12, 335, 337 f.). Damit betrifft die Verjährung nicht die Strafdrohung an sich, sondern lediglich das „Ob“ der Verfolgung; ihr Eintritt führt deshalb nach ständiger und einhelliger Rechtsprechung aller Strafsenate des Bundesgerichtshofs nicht zu einer Veränderung der materiellrechtlichen Lage, sondern zu einem Verfahrenshindernis (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 7. Juni 2005 - 2 StR 122/05, BGHSt 50, 138, 139). Ist die Straftat verjährt, so ist der Angeklagte grundsätzlich nicht freizusprechen, sondern das Verfahren einzustellen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 2004 - 1 StR 565/03, wistra 2005, 27).

Um die mit der Verjährung verbundenen Ziele zu erreichen, hat der Gesetzgeber in den §§ 78 ff. StGB ein differenziert ausgestaltetes System normiert, innerhalb dessen die Dauer der Verjährungsfrist im Ausgangspunkt unabhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalles maßgeblich vom Höchstmaß der durch die betreffende Strafvorschrift allgemein angedrohten Strafe bestimmt wird (vgl. § 78 Abs. 3 StGB). Die diesem Regelungsgefüge zugrunde liegenden Wertungen sind Ausdruck generalisierender Betrachtungen. Eine Aussage über das Strafbedürfnis im Einzelfall treffen die Verjährungsvorschriften nicht. Für sie ist ohne Belang, ob mit Blick auf die Strafzumessungsmaximen Schuld und Spezialprävention eine staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat in Form einer Sanktionierung des Täters (noch) notwendig und gegebenenfalls welche angemessen erscheint. Umgekehrt beeinflussen die für die Strafzumessung maßgebenden Aspekte den Eintritt der Verfolgungsverjährung nicht. Der Zweck der verjährungsrechtlichen Regelungen besteht nicht darin, einer Verminderung des Gewichts von Strafzumessungsgründen Rechnung zu tragen. Deshalb führt etwa ein aus welchem Grund auch immer entfallenes oder geringeres Strafbedürfnis nicht zum vorzeitigen Eintritt der Verjährung.

Folgerichtig hat die Rechtsprechung die Länge der Verjährungsfrist im Rahmen der Strafzumessung regelmäßig nur dafür herangezogen, um im Einzelfall die Dauer des seit der Tat vergangenen Zeitraumes bzw. das Gewicht des Tatunrechts näher zu verdeutlichen, ohne eine darüber hinausgehende innere Verknüpfung - etwa zu § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB - herzustellen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Januar 1992 - 3 StR 440/91, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 6; vom 26. Juli 1994 - 5 StR 113/94, StV 1995, 130; vom 7. Juni 2011 - 4 StR 643/10, StV 2011, 603, 607; insoweit unklar BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2006 - 2 BvR 750, 752 und 761/06, NStZ 2006, 680, 682; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 12. August 2015 - 2 BvR 2646/13, juris Rn. 30).

b) Somit steht das Gewicht, mit dem der zeitliche Abstand zwischen einer noch verfolgbaren Tat und dem Urteil in die Strafzumessung einzustellen ist, mit der Länge der nach abstrakt-generellen Regelungen vorgegebenen Verjährungsfrist in keinem unmittelbaren Zusammenhang. Gründe dafür, von diesem allgemein für das Verhältnis zwischen Strafzumessung auf der einen und Verjährung auf der anderen Seite geltenden Grundsatz für die Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern abzuweichen und dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil für diese Deliktsgruppe generell ein geringeres Gewicht zuzumessen, bestehen nicht.

aa) Solche ergeben sich insbesondere nicht aus dem Sinn und Zweck des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, wie sie sich unter Beachtung des den Gesetzesmaterialien zu entnehmenden Willens des Gesetzgebers ergeben.

(1) Der Gesetzgeber hat in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB - erstmals mit dem 30. Strafrechtsänderungsgesetz vom 23. Juni 1994 (BGBl. I S. 1310) - eine deliktsspezifische Bestimmung zum Ruhen der Verfolgungsverjährung getroffen, die den Besonderheiten bei zum Nachteil von jungen Menschen begangenen Sexualstraftaten Rechnung tragen soll (vgl. Hörnle in Festschrift Beulke, 2015, S. 115, 116). Hierzu ist in der Gesetzesbegründung ausgeführt, Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen würden den Strafverfolgungsbehörden häufig erst bekannt, wenn die Taten bereits viele Jahre zurückliegen, weil sie überwiegend von Familienangehörigen begangen und die Opfer von den Tätern häufig dahin beeinflusst würden, die Übergriffe zu verschweigen. Wenn die Opfer erst lange Zeit nach der Tat in der Lage seien, Strafanzeige zu erstatten, sei eine Strafverfolgung wegen Verjährung der Taten in vielen Fällen nicht mehr möglich (vgl. BTDrucks. 12/2975, S. 1; 12/3825, S. 1; 12/6980, S. 1). Deshalb solle die Verjährung bis zu dem Zeitpunkt ruhen, bis zu dem das Opfer in der Lage sei, das Erlebte in seiner gesamten Dimension zu erfassen und auf dieser Grundlage über das Für und Wider einer Strafanzeige zu entscheiden (vgl. BTDrucks. 12/6980, S. 4).

(2) Diese Erwägungen belegen zunächst, dass der Gesetzgeber lediglich den Willen hatte, die Verfolgbarkeit von bestimmten Straftaten, hinsichtlich derer er ein entsprechendes Regelungsbedürfnis sah, über die bis dahin geltenden Verjährungsfristen hinaus zu ermöglichen. Den Gesetzesmaterialien ist demgegenüber an keiner Stelle zu entnehmen, dass es ihm auch darauf ankam, die in den §§ 46 ff. StGB geregelten und von Rechtsprechung und Literatur entwickelten Grundsätze der Strafzumessung, insbesondere die dort relevanten Kriterien sowie deren Gewichtung, zu modifizieren, und dabei eine Aussage über das Verhältnis zwischen Zeitablauf und dem Gewicht des Strafbedürfnisses zu treffen (so aber Schiemann, NStZ 2016, 336). Dies gilt auch für die nachfolgenden Änderungen der Vorschrift, durch die der Deliktskatalog erweitert und das Ruhen der Verjährung bis mittlerweile zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers angeordnet worden ist (vgl. etwa BTDrucks. 15/350, S. 13 f.; 16/13671, S. 23 f.; 18/2601, S. 14, 22 f.).

bb) Dagegen, dass aufgrund der Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB das Gewicht des Strafzumessungsfaktors Zeitablauf in Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern generell gemindert ist, sprechen auch die folgenden weiteren Erwägungen:

(1) Wollte man den Gedanken, dass durch die von § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB hervorgerufene längere Verfolgbarkeit der Tat das Gewicht des Zeitablaufs seit der Tat bei der Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten vermindert wird, konsequent weiter denken, so wäre die Bedeutung dieses Strafzumessungsgesichtspunktes allgemein auch über die von § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB erfassten Fallgestaltungen hinaus mit der Länge der Verjährungsfrist verknüpft bzw. hinge sie von den diesbezüglichen Ruhens- oder Unterbrechungsbestimmungen ab. Ein solcher systemwidriger Zusammenhang wäre etwa im Falle des § 78b Abs. 4 StGB, der an die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Landgericht und das Bestehen besonders schwerer Fälle anknüpft, die bei bestimmten Delikten als strafschärfende Umstände gesetzlich normiert sind, in besonderer Weise unplausibel. Entsprechendes gilt für die Unterbrechensregelungen des § 78c StGB. Eine derart weitgehende Anbindung der Strafzumessung an die für die Verfolgungsverjährung geltenden Fristen ist - soweit ersichtlich - bisher auch weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur befürwortet worden.

(2) Ließe man die Art der begangenen Straftat ausreichen, um einen anerkannten Strafmilderungsgrund zu relativieren, so fiele dies auch dann zum Nachteil des Angeklagten ins Gewicht, wenn die Gründe, die zur Schaffung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB geführt haben, im konkreten Fall gar nicht vorliegen, der lange zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil vielmehr auf sonstigen Gesichtspunkten, etwa Versäumnissen der Strafverfolgungsorgane, beruht. Es bedarf keiner näheren Darlegung, dass dies mit den Grundsätzen einer den Maßgaben der §§ 46 ff. StGB folgenden Strafzumessung nicht vereinbar wäre.

Entsprechendes gilt für die vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift aufgeführte Fallkonstellation, bei der der sexuelle Missbrauch von einem Nachbarn begangen wurde, der kurz nach der Tat wegzieht und zu der Familie des kindlichen Opfers keinen Kontakt mehr unterhält. In diesen Fällen ist eine Drucksituation, die Anlass für den Gesetzgeber war, die Ruhensregelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB in das Strafgesetzbuch aufzunehmen, nicht gegeben. Es erschließt sich nicht, aus welchem Grunde dann gleichwohl dem Zeitablauf zwischen Tat und Urteil ein geringeres Gewicht beizumessen sein soll, nur weil es sich bei der Tat um ein bestimmtes Delikt handelt.

(3) Eine strafzumessungsrechtliche Koppelung des Faktors Zeitablauf an die Länge der Verjährungsfrist könnte in bestimmten Konstellationen auch zu sachwidrigen Ergebnissen führen. So verringert sich etwa mit zunehmendem zeitlichen Abstand von der Tat in den Fällen, in denen sich der Täter nicht weiter strafbar gemacht hat, unter dem Gesichtspunkt der Spezialprävention das Strafbedürfnis, möglicherweise bis zu dessen vollständigem Wegfall. Der relevante Zeitraum kann gegebenenfalls auch mehrere Jahrzehnte betragen. Dies gilt nicht nur im Anwendungsbereich von § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, bei dem die letzte Erhöhung der Altersgrenze bewirkt hat, dass schwere Sexualdelikte frühestens mit Vollendung des 50. Lebensjahres des Opfers verjähren, wobei sich diese Frist durch Unterbrechungshandlungen bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres des Opfers verlängern kann (BTDrucks. 18/2601, S. 23). Noch längere Zeiträume können etwa bei den gemäß § 78 Abs. 2, 4 StGB unverjährbaren Delikten des versuchten Mordes oder der Beihilfe zum Mord (vgl. LK/Schmid, StGB, 12. Aufl., § 78 Rn. 6) eintreten. Diese Wertungen des Gesetzgebers sind zwar zu beachten. Dies führt jedoch nicht dazu, sie über den Bereich der Verjährung hinaus auf die Strafzumessung zu erstrecken, deren Wesenselement die umfassende Würdigung der Einzelfallumstände darstellt (§ 46 Abs. 2 Satz 1 StGB). Zudem wäre es nicht sachgerecht, den Strafzweck der Spezialprävention trotz seiner gesetzlich hervorgehobenen Bedeutung (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StPO) in den beschriebenen Fällen aufgrund allein an die Art der begangenen Straftat anknüpfender Überlegungen nur eingeschränkt zu berücksichtigen.

(4) Wollte man schließlich die hier in Rede stehende Verknüpfung zwischen Strafzumessung und Verfolgungsverjährung herstellen, so erschiene es wenig konsequent, sie auf die Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu beschränken. Auch in anderen Fallkonstellationen des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB oder solchen, die von dieser Vorschrift nicht erfasst werden, kann es - wenn auch möglicherweise weniger häufig - vorkommen, dass Täter und Opfer eine besondere persönliche Beziehung verbindet und der Täter versucht, das Opfer davon abzuhalten, die Straftat zu offenbaren. Dies gilt etwa für Körperverletzungs- oder Nötigungshandlungen zum Nachteil von Lebenspartnern, kann aber auch bei anderen Delikten wie zum Beispiel gegen das Vermögen oder das Eigentum von Familienangehörigen gerichteten Straftaten von Bedeutung sein.

4. Die Bedeutung des Strafzumessungsgesichtspunktes zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil ist nach alldem einzelfall- und nicht deliktsgruppenabhängig. Dies bedeutet jedoch nicht, dass neben anderen die wesentlichen Gründe, die den Gesetzgeber zur Schaffung und sukzessiven Erweiterung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB bewogen haben, nicht auch im Rahmen der Strafzumessung Bedeutung erlangen können. Insbesondere erlauben es die in § 46 Abs. 2 StGB aufgeführten Strafzumessungskriterien, in systemkonformer Weise die wesentlichen unrechtssteigernden Elemente zu erfassen, die auch im Rahmen des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB eine Rolle spielen. Hierzu gilt:

Aus dem Umstand, dass der Faktor Zeitablauf zwischen Tat und Urteil als Strafzumessungsfaktor stets nach Maßgabe der Umstände des konkreten Falles zu betrachten und zu gewichten ist, folgt auch, dass eine Wechselwirkung mit den anderen im Einzelfall für die Bemessung der Sanktion bedeutsamen Gesichtspunkten besteht. § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB nennt als Strafzumessungskriterien neben anderen die verschuldeten Auswirkungen der Tat und das Verhalten des Täters nach dieser. Damit können dem Täter zum einen Auswirkungen auf das Tatopfer straferschwerend angelastet werden, die er verschuldet hat, sie somit von ihm mindestens vorausgesehen werden konnten und ihm vorzuwerfen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 1990 - 4 StR 359/90, BGHSt 37, 179, 180), wobei es bezüglich der Vorhersehbarkeit genügt, dass sie in ihrer Art und ihrem Gewicht im Wesentlichen erkennbar waren (vgl. BGH, Beschluss vom 29. August 2006 - 1 StR 285/06, NStZ-RR 2006, 372). Zum anderen kann jedes Tun oder Unterlassen berücksichtigt werden, das Schlüsse auf den Unrechtsgehalt der Tat zulässt, auf Rechtsfeindlichkeit, Gefährlichkeit und die Gefahr künftiger Rechtsbrüche des Täters hinweist oder Einblicke in die innere Einstellung des Täters zu seiner Tat gewährt (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 24. Juli 1985 - 3 StR 127/85, NStZ 1985, 545; Beschluss vom 6. Dezember 1996 - 2 StR 468/96, NStZ-RR 1997, 196; vgl. auch S/S-StreeKinzig, StGB, 29. Aufl., § 46 Rn. 39; MüKo-StGB/Miebach/Maier, 3. Aufl., § 46 Rn. 246 ff. jeweils mwN).

Nach diesen Maßgaben gewinnt das Zeitmoment aufgrund der verminderten Notwendigkeit, durch die Verhängung der Strafe spezialpräventiv auf den Angeklagten einzuwirken, etwa dann an Bedeutung, wenn der Täter sich in der Zwischenzeit nicht weiter strafbar gemacht hat. Das Gewicht des langen Abstandes zwischen Tat und Urteil kann aber auch durch andere Umstände, darunter solchen, die im Zusammenhang mit § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB relevant sind, beeinflusst werden. So war wie dargelegt vor allem der mögliche Einfluss, den der Täter auf das Opfer nimmt, um dieses zu veranlassen, die Tat nicht zu offenbaren, für den Gesetzgeber Grund für die Schaffung der genannten Norm. Dieser Umstand erfüllt zumindest regelmäßig die genannten Voraussetzungen und kann deshalb als für die Strafzumessung relevantes, die strafmildernde Wirkung des Zeitablaufs reduzierendes Nachtatverhalten zu Lasten des Angeklagten gewertet werden. Aber auch ohne ein unmittelbares Einwirken durch den Täter kann zum Beispiel die mit dem Zeitablauf einhergehende längere Dauer der psychischen Belastung, denen das Opfer durch eine familiäre Drucksituation ausgesetzt ist, von Bedeutung sein, sofern der Täter diese Auswirkungen verschuldet hat. Eine solche Bewertung kann das Tatgericht systemgerecht und damit ohne Rekurs auf die Verjährungsregeln freilich nicht bereits allein aufgrund der Zuordnung der Tat zu einer bestimmten Deliktsgruppe, sondern nur auf der Grundlage der im konkreten Fall getroffenen Feststellungen nach Maßgabe aller relevanten Einzelfallumstände vornehmen.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 1089

Externe Fundstellen: BGHSt 62, 184; NJW 2017, 3537; StV 2018, 221

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner