hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1111

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 1 BvR 1766/14, Beschluss v. 30.10.2016, HRRS 2016 Nr. 1111


BVerfG 1 BvR 1766/14 (3. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 30. Oktober 2016 (AG München)

Akteneinsichtsrecht für den Verletzten einer Straftat (Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung; unterlassene Anhörung als nicht heilbarer Verfahrensfehler); materielle Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Erfordernis der Erhebung einer erst nach Abschluss des Verfahrens zulässigen Beschwerde).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 Satz 1 GG; § 406e Abs. 1 StPO; § 406e Abs. 4 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Gewährung von Akteneinsicht greift regelmäßig in das Recht des Beschuldigten auf informationelle Selbstbestimmung ein, so dass die Staatsanwaltschaft zu einer vorherigen Anhörung des von dem Einsichtsersuchen Betroffenen verpflichtet ist. Die unterlassene Anhörung stellt einen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar, der durch die Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung nicht geheilt werden kann.

2. Der Grundsatz der materiellen Subsidiarität erfordert es, vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde gegen die Bewilligung von Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft nicht nur die - nach § 406e Abs. 4 Satz 4 StPO zunächst unanfechtbare - Entscheidung des Ermittlungsrichters einzuholen, sondern auch von der - wenngleich erst nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens oder dem rechtskräftigen Abschluss des Hauptverfahrens eröffneten - Möglichkeit der Beschwerde Gebrauch zu machen.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer und Beschuldigte in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die einem Dritten gemäß § 406e Abs. 1 StPO gewährte Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft, ohne ihn hierzu vorher anzuhören. Auf den Antrag des Beschwerdeführers auf richterliche Feststellung, dass die bewilligte Akteneinsicht ohne vorheriges rechtliches Gehör rechtswidrig war, bestätigte das Amtsgericht die staatsanwaltschaftliche Verfügung zur Bewilligung von Akteneinsicht. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Sie ist aus Gründen der materiellen Subsidiarität unzulässig, weil der Beschwerdeführer gegen die Entscheidung des Amtsgerichts keine Beschwerde gemäß § 406e Abs. 4 Satz 4 in Verbindung mit § 304 Abs. 1 StPO eingelegt hat.

1. Der aus § 90 Abs. 2 Satz 1 GG abgeleitete Grundsatz der materiellen Subsidiarität fordert, dass ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne (formelle Subsidiarität) hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in den unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 107, 395 <414>; 112, 50 <60>; 129, 78 <92>; 134, 106 <115 Rn. 27>; stRspr). Es entspricht der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung, dass vorrangig die Fachgerichte Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen selbst gewähren und etwaige im Instanzenzug auftretende Fehler durch Selbstkontrolle beheben (BVerfGE 68, 376 <380>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. April 2015 - 1 BvR 3276/08 -, NJW 2015, S. 2175). Hat sich der Eingriff erledigt bevor der Betroffene Abhilfe im fachgerichtlichen Verfahren erlangen konnte, gebietet der von den Fachgerichten zu gewährende Grundrechtsschutz, dass der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung eines schwer wiegenden - wenn auch tatsächlich nicht mehr fortwirkenden - Grundrechtseingriffs nachträglich gerichtlich klären zu lassen (vgl. BVerfGE 96, 27 <40>; 104, 220 <232 f.>; 117, 244 <268 f.>; stRspr).

2. Diesen Anforderungen genügt die Verfassungsbeschwerde nicht. Mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung in entsprechender Anwendung von § 406e Abs. 4 Satz 2 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Januar 1993 - 5 AR (VS) 44/92 -, NJW 1993, S. 1341 <1342>; Schmitt/Meyer-Goßner, StPO, 58. Auflage 2015, § 406e Rn. 11 m.w.N.) hat der Beschwerdeführer den Rechtsweg zwar formell erschöpft, da die Entscheidung des Amtsgerichts als Ermittlungsgericht gemäß § 406e Abs. 4 Satz 4 StPO unanfechtbar ist, solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind. Nach der Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder dem rechtskräftigen Abschluss des Hauptverfahrens ist gegen die Entscheidung des nach § 406e Abs. 4 Satz 2 StPO angerufenen Ermittlungsgerichts jedoch die Beschwerde gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthaft (vgl. BTDrucks 16/12098, S. 36). Diese Möglichkeit des Rechtsschutzes vor den Fachgerichten mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Akteneinsicht wegen der unterlassenen vorherigen Anhörung hat der Beschwerdeführer nicht ausgeschöpft. Er trägt auch nicht vor, weshalb ihm die Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtswegs nicht zumutbar ist. Dass in der Zeit bis zur Entscheidung die Akten von der Staatsanwaltschaft erneut ohne Anhörung des Beschwerdeführers herausgegeben würden, ist nicht zu erwarten, da sie nicht mehr bei der Staatsanwaltschaft, sondern nunmehr bei Gericht sind. Über die Gewährung der Akteneinsicht nach Anklageerhebung entscheidet gemäß § 406e Abs. 4 Satz 1 StPO der Vorsitzende; seine Entscheidung kann mit der Beschwerde angefochten werden.

3. Bei der Entscheidung über die Beschwerde wird das Landgericht zu berücksichtigen haben, dass die Gewährung von Akteneinsicht regelmäßig mit einem Eingriff in Grundrechtspositionen des Beschuldigten, namentlich in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, verbunden ist und die Staatsanwaltschaft vor Gewährung der Akteneinsicht deshalb zu einer Anhörung des von dem Einsichtsersuchen betroffenen Beschuldigten verpflichtet ist (vgl. Zabeck, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Auflage 2013, § 406e, 8.; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. April 2005 - 2 BvR 465/05 -, NStZ-RR 2005, S. 242; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2006 - 2 BvR 67/06 -, NJW 2007, S. 1052). Die unterlassene Anhörung stellt einen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar, der durch die Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung nicht geheilt werden kann (vgl. AG Zwickau, Beschluss vom 12. April 2013 - 13 Gs 263/13 -, juris; entgegen LG Stralsund, Beschluss vom 10. Januar 2005 - 22 Qs 475/04 -, juris; KG, Beschluss vom 2. Oktober 2015 - 4 Ws 83/15 - 141 Ar 417/15, NStZ 2016, S. 438 zur Nachholung im Beschwerdeverfahren).

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1111

Bearbeiter: Holger Mann