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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 736

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1011/10, Beschluss v. 05.05.2011, HRRS 2011 Nr. 736


BVerfG 2 BvR 1011/10 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. Mai 2011 (LG Hof/AG Hof)

Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei; Verhältnismäßigkeit; Tatbestandsverwirklichung (Möglichkeit); Auffinden belastender Beweismittel (Möglichkeit).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG, § 102 StPO; § 103 StPO, § 352 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei der Anordnung einer Durchsuchung nach §§ 102, 103 StPO haben die Gerichte ein dem Beschuldigten zur Last gelegtes Verhalten zu schildern, das den objektiven und den subjektiven Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt. Bestehen nach den bisherigen Ermittlungen Zweifel, ob der Beschuldigte mit dem erforderlichen Vorsatz gehandelt hat, müssen die Gerichte sich vor der Anordnung einer Durchsuchung mit dieser Frage auseinandersetzen.

2. Die Anordnung einer Durchsuchung verletzt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn die Durchsuchung nicht erwarten lässt, dass über die bereits vorliegenden Unterlagen hinaus weitere den Beschuldigten belastende Beweismittel aufgefunden werden.

3. Eine Durchsuchung kann nicht allein damit gerechtfertigt werden, dass die Möglichkeit besteht, entlastendes Material aufzufinden, denn dieses kann der Beschuldigte selbst vorlegen.

4. Hat der einer Gebührenüberhebung beschuldigte Rechtsanwalt dargelegt, aus welchen Gründen er die Gebührenforderung aus seiner Sicht zu Recht erhoben hat, so sind im Rahmen der Anordnung einer Durchsuchung Ausführungen dazu erforderlich, weshalb gleichwohl der Verdacht einer vorsätzlich ungerechtfertigen Gebührenforderung besteht.

5. Befinden sich in einem Ermittlungsverfahren wegen Gebührenüberhebung die Gebührenrechnung, ein Beratungshilfeschein des Mandaten sowie eine Stellungnahme des beschuldigten Rechtsanwalts, weshalb er die Gebührenforderung gleichwohl für berechtigt hält, bereits bei den Ermittlungsakten, so ist die Sicherstellung der anwaltlichen Handakte in der Regel nicht erforderlich.

Entscheidungstenor

1. Der Beschluss des Amtsgerichts Hof vom 25. November 2009 - 1 Gs 2067/09 -, die Nichtabhilfeentscheidung des Amtsgerichts Hof vom 18. März 2010 - 1 Gs 574/10 - und der Beschluss des Landgerichts Hof vom 7. April 2010 - 1 Qs 40/10 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 13 Absätze 1 und 2 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben.

2. Die Sache wird an das Landgericht Hof zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

3. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

A.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei.

I.

1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt. Gegen ihn wird wegen des Verdachts der Gebührenüberhebung (§ 352 StGB) ermittelt. Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Im Februar 2007 wandte sich eine Frau H. wegen einer Erbschaftsstreitigkeit an den Beschwerdeführer und legte dabei einen vom Amtsgericht ausgestellten Beratungshilfeschein vor. Der minderjährige Sohn M. H. war zusammen mit zwei weiteren Personen Mitglied einer Erbengemeinschaft geworden. Nach Angaben von Frau H. habe der Miterbe trotz Aufforderung keine Zustimmung zur Erbauseinandersetzung gegeben. Der Beschwerdeführer forderte daraufhin den Miterben zur Abgabe der Zustimmungserklärung und Auszahlung des Erbschaftsanteils in Höhe von 9.290,34 € für M. H. auf. Der Miterbe kam dem nach, weigerte sich jedoch, die Gebührenrechnung des Beschwerdeführers zu bezahlen, weil er - wie Frau H. später bestätigte - niemals zuvor von Frau H. oder deren Sohn zur Erbauseinandersetzung aufgefordert worden war. Nachdem Frau H. dem Beschwerdeführer den Eingang des Geldes mitteilte und gleichzeitig angab, dass dessen weitere Hinzuziehung nicht erforderlich sei, übersandte der Beschwerdeführer seine Gebührenrechnung in Höhe von 775,64 € an Frau H. Frau H. wandte sich daraufhin im Juli 2007 an die Rechtsanwaltskammer. Diese bat den Beschwerdeführer um Stellungnahme. Der Beschwerdeführer legte den Sachverhalt dar. Unstreitig sei, dass der M. H. zu einem Viertel Miterbe nach seinem Großvater geworden sei und der Nachlass insgesamt 38.728,39 € betrage; es sei lediglich noch um die Aufteilung gegangen. Wenn Frau H. dem Amtsgericht gegenüber diesen Sachverhalt so mitgeteilt hätte, wäre ihr kein Berechtigungsschein erteilt worden, weil die zu erwartende Auszahlung an den minderjährigen Erben ausgereicht hätte, die Anwaltskosten zu decken. Es habe von Anfang an an der Bedürftigkeit des Sohnes der Frau H. gefehlt. Daher habe der Beschwerdeführer sich berechtigt gesehen, die Gebührenrechnung des Beratungsscheines an Frau H. als Vertreterin ihres Sohnes zu senden. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens, welches offenbar durch die Rechtsanwaltskammer initiiert worden ist, zog die Staatsanwaltschaft die Beratungshilfeakten des Amtsgerichts und die Akten der Rechtsanwaltskammer bei. Die Gebührennote des Beschwerdeführers lag der Staatsanwaltschaft ebenfalls vor.

2. Das Amtsgericht ordnete mit Beschluss vom 25. November 2009 nach §§ 102, 103 StPO die Durchsuchung der Kanzleiräume des Beschwerdeführers zum Auffinden der Handakte in der Beratungshilfesache M. H. an. Dem Beschwerdeführer habe ein Beratungshilfeschein vorgelegen, so dass er nicht berechtigt gewesen sei, Gebühren abzurechnen. Der Verdacht beruhe auf dem Ergebnis der bisherigen Ermittlungen, den Angaben der Zeugin H. und dem Schriftverkehr mit der Rechtsanwaltskammer. Die Durchsuchung stehe in angemessenem Verhältnis zur Schwere der Tat und zur Stärke des Tatverdachts und sei für die Ermittlungen notwendig. Weil Durchsuchungsobjekt die Kanzlei sei, sei die Annahme gerechtfertigt, dass die Durchsuchung zum Auffinden der Gegenstände führe.

3. Bei der Durchsuchung wurde die gesuchte Handakte freiwillig herausgegeben.

4. In seiner Beschwerde gegen die Durchsuchungsanordnung machte der Beschwerdeführer geltend, der Beschluss sei rechtswidrig, genüge nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und greife schwerwiegend in seine Grundrechte ein.

a) Die Durchsuchung sei nicht erforderlich gewesen, um den Tatverdacht zu erhärten. In der - den Strafverfolgungsbehörden vorliegenden - Akte der Rechtsanwaltskammer hätten sich der Beratungshilfeschein des Amtsgerichts und die Stellungnahme des Beschwerdeführers mit allen Anlagen befunden. Die Handakte sei zum Beweis des dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Verhaltens daher nicht erforderlich gewesen. Der Beschluss lasse auch nicht erkennen, welcher weitere Sachverhalt aufklärungsbedürftig gewesen sei und welche weiteren Erkenntnisse bei Erlangung der Handakte hätten gefunden werden können.

b) Eine Abwägung zwischen den berührten Grundrechten und der Schwere des Tatvorwurfs sei nicht vorgenommen worden. Angesichts der Möglichkeit, durch die bereits getätigten Ermittlungen den Sachverhalt aufzuklären, hätte die Durchsuchung einer besonders sorgfältigen Prüfung und Begründung bedurft. Dabei sei auch die geringe Beweiseignung der Handakte zu berücksichtigen gewesen. Grundlage des Ermittlungsverfahrens sei nicht das Bestreiten bestimmter Tatsachen durch den Beschwerdeführer, sondern dessen Rechtsauffassung zu der Frage, ob Frau H. in Anbetracht der feststehenden Erbschaft Anspruch auf einen Beratungsschein gehabt habe und ob der Beschwerdeführer verpflichtet sei, in Kenntnis der mangelnden Bedürftigkeit die Staatskasse mit Kosten zu belasten.

5. Das Landgericht wies die Beschwerde als unbegründet zurück. Der Anfangsverdacht ergebe sich daraus, dass der Beschwerdeführer dem M. H. trotz Vorliegens eines Beratungshilfescheins eine Rechnung übersandt habe. Die Durchsuchung sei zum Auffinden der Beweismittel erforderlich gewesen. Die Beschlagnahme der Handakte sei zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts unerlässlich gewesen. Die Vollständigkeit der dem Gericht vorliegenden Unterlagen könne nur durch Sichtung und Abgleich mit der Handakte erfolgen. Durchsuchung und Beschlagnahme hätten dem Auffinden sowohl weiterer Beweismittel als auch den Beschwerdeführer entlastender Umstände gedient. Daher seien eventuelle handschriftliche Vermerke des Beschwerdeführers von Belang gewesen.

II.

Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung seines Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 13 Abs. 2 GG. Ergänzend zum bisherigen Vorbringen verweist er darauf, dass auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nicht gewahrt sei. Den Ermittlungsbehörden hätten bereits sämtliche relevanten Erkenntnisse vorgelegen, eine weitere Aufklärung sei nicht zu erwarten gewesen.

III.

1. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat zu dem Verfahren Stellung genommen. Es hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

2. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten der Staatsanwaltschaft Hof vorgelegen.

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Zu dieser Entscheidung ist sie berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits durch das Bundesverfassungsgericht entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

I.

Die Beschlüsse des Amts- und des Landgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 13 Absätze 1 und 2 GG.

1. a) Art. 13 Abs. 1 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Sinn der Garantie ist die Abschirmung der Privatsphäre in räumlicher Hinsicht. Damit wird dem Einzelnen zur freien Entfaltung der Persönlichkeit ein elementarer Lebensraum gewährleistet. In seinen Wohnräumen hat er das Recht, in Ruhe gelassen zu werden (vgl. BVerfGE 27, 1 <6>; 51, 97 <107>). Im Interesse eines wirksamen Schutzes hat das Bundesverfassungsgericht den Begriff der Wohnung weit ausgelegt. Er umfasst auch Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume (vgl. BVerfGE 32, 54 <68 ff.>; 42, 212 <219>; 44, 353 <371>; 76, 83 <88>). In diese grundrechtlich geschützte Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein (vgl. BVerfGE 96, 27 <40>; 103, 142 <150 f.>).

b) Das Gewicht des Eingriffs verlangt als Durchsuchungsvoraussetzung Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Ein Verstoß gegen diese Anforderung liegt vor, wenn sich sachlich zureichende plausible Gründe für eine Durchsuchung nicht mehr finden lassen (vgl. BVerfGE 44, 353 <371 f.>; 59, 95 <97>). Es ist zu verlangen, dass ein dem Beschuldigten angelastetes Verhalten geschildert wird, das den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt. Die wesentlichen Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes, die die Strafbarkeit des zu subsumierenden Verhaltens kennzeichnen, müssen berücksichtigt werden (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 7. September 2006 - 2 BvR 1219/05 -, NJW 2007, S. 1443, und vom 5. Mai 2008 - 2 BvR 1801/06 -, NJW 2008, S. 2422 <2423>).

c) Die Durchsuchung bedarf vor allem einer Rechtfertigung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie muss im Blick auf den bei der Anordnung verfolgten gesetzlichen Zweck erfolg versprechend sein. Ferner muss gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der vorgeworfenen Tat erforderlich sein; das ist nicht der Fall, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen. Schließlich muss der jeweilige Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Tat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 96, 44 <51>).

2. Weder die Begründung des Durchsuchungsbeschlusses noch die Beschwerdeentscheidung lassen erkennen, dass die von Verfassungs wegen zu fordernden Voraussetzungen einer Wohnungsdurchsuchung gegeben waren.

a) Es bestehen schon Zweifel am Vorliegen des subjektiven Tatbestandes der Gebührenüberhebung nach § 352 StGB. Dieser erfordert das Erheben von Vergütungen, von denen der Täter weiß, dass der Zahlende sie überhaupt nicht oder nur in geringerem Betrage schuldet. Der Vorsatz muss sich auf die Unrechtmäßigkeit der Gebührenforderung erstrecken (vgl. Fischer, StGB , 57. Aufl. 2010, § 353 Rn.8 m. w. N.). Im vorliegenden Fall hätte für die Fachgerichte Anlass bestanden, sich mit der Frage des Vorsatzes des Beschwerdeführers auseinanderzusetzen, weil der Beschwerdeführer mehrfach dargelegt hat, dass er sich wegen der - unstreitig - fehlenden Voraussetzungen für die Vergabe eines Beratungshilfescheins nicht an diesen gebunden gesehen habe.

b) Jedenfalls war die Durchsuchung der Kanzleiräume des Beschwerdeführers nicht erforderlich, um den Tatverdacht gegen ihn zu erhärten. Das Vorliegen des Beratungshilfescheins, die Gebührenrechnung und Stellungnahmen des Beschwerdeführers zu seiner angenommenen Berechtigung, trotz Vorliegens des Beratungshilfescheins eine Rechnung zu stellen, ergeben sich aus der Beratungshilfeakte des Amtsgerichts und den Akten der Rechtsanwaltskammer zu der von Frau H. dort eingelegten Beschwerde. Die Handakte des Beschwerdeführers war zum Beweis der ihm vorgeworfenen Tathandlung (Erheben von Gebühren ohne Rechtsgrund) nicht erforderlich, denn es war nicht zweifelhaft, dass er trotz Vorliegens eines Beratungshilfescheins eine Gebührenrechnung erstellt hat. Das Auffinden etwaigen entlastenden Materials kann den Grundrechtseingriff - entgegen der Auffassung des Landgerichts - nicht rechtfertigen, weil es dem Beschwerdeführer ohne weiteres möglich gewesen wäre, solches Material im Rahmen seiner Verteidigung selbständig vorzulegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Mai 2008 - 2 BvR 1801/06 -, NJW 2008, S. 2422 <2423>).

II.

Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG.

III.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 34a Abs. 2 Alt. 2 BVerfGG.

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 736

Externe Fundstellen: NJW 2011, 2275

Bearbeiter: Holger Mann