HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2023
24. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Das Spannungsverhältnis zwischen konkretem Gefährdungsvorsatz und (bedingtem) Verletzungs- bzw. Tötungsvorsatz in der aktuellen Rechtsprechung

Kurzbeitrag zu BGH HRRS 2022 Nr. 1147

Von Dr. Anna Steins, Berlin[*]

I. Einleitung

Das Verhältnis zwischen konkretem Leibes- bzw. Lebensgefährdungsvorsatz und (bedingtem) Verletzungs- bzw. Tötungsvorsatz ist ein noch immer umstrittenes Problem der deutschen Strafrechtswissenschaft. Während sich der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung bislang ausdrücklich für eine Differenzierung zwischen konkretem Gefährdungsvorsatz und bedingtem Verletzungs- bzw. Tötungsvorsatz aussprach, ist ein Wandel dieser Rechtsprechung zu beobachten.[1] In einer Entscheidung aus dem Jahre 2019 zur besonders schweren Brandstiftung nach § 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB führte der Vierte Strafsenat des Bundesgerichtshofs aus, dass die Verneinung eines bedingten Verletzungs- bzw. Tötungsvorsatzes in einem Widerspruch zur Bejahung eines konkreten Lebensgefährdungsvorsatzes (und umgekehrt) stehe.[2] Die dabei zu beobachtende Tendenz der Rechtsprechung zur Gleichsetzung des konkreten Leibes- bzw. Lebensgefährdungsvorsatzes mit bedingtem Verletzungs- bzw. Tötungsvorsatz setzt sich in einer Entscheidung des Vierten Strafsenats vom 18. August 2022 – nunmehr eingebettet in den straßenverkehrsrechtlichen Straftatbestand des verbotenen Kraftfahrzeugrennens gemäß § 315d Abs. 1 StGB – fort.[3]

II. Blick in die Praxis

Nach den Feststellungen des Landgerichts Ingolstadt befuhr der Angeklagte am 20. Oktober 2019 mit seinem Fahrzeug BMW M4 um kurz nach 23:00 Uhr eine Bundesautobahn. Innerhalb der Geschwindigkeitsbegrenzung

120 km/h überholte der links fahrende Angeklagte einen mit ca. 100 km/h auf der mittleren Spur fahrenden Pkw, wechselte sodann auf die mittlere, dann auf die rechte Spur und ließ sich hinter den Pkw zurückfallen, sodass dieser wieder an ihm vorbeifuhr. In der Absicht, eine möglichst schnelle Beschleunigung und eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, wechselte der Angeklagte auf die mittlere und sodann auf die linke Spur, beschleunigte und überholte den auf dem mittleren Fahrstreifen befindlichen Pkw mit hoher, nicht mehr feststellbarer Geschwindigkeit, wobei er die Geschwindigkeitsbegrenzung ignorierte. Einige Sekunden später schloss er zu einem vor ihm auf der linken Fahrspur fahrenden Pkw auf und ging leicht vom Gas. Der Fahrer bemerkte das Fahrzeug des Angeklagten und wechselte auf die mittlere Spur. Der Angeklagte beschleunigte, überholte den Pkw von links mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit und beschleunigte weiter auf mindestens 233 km/h. Sodann nahm der Angeklagte – erst im letzten Augenblick – den vor ihm auf dem linken Fahrstreifen fahrenden Pkw des Geschädigten wahr. Der zunächst auf dem mittleren Fahrstreifen mit einer Geschwindigkeit von 120 km/h fahrende Geschädigte hatte etwa 4,2 Sekunden vor der Kollision seinen Blinker gesetzt und war anschließend auf die linke Spur gewechselt. In dem Zeitpunkt, zu dem der Geschädigte den Blinker setzte, war der Angeklagte noch 125 m entfernt, wobei er das Fahrzeug des Angeklagten im Rück- und Seitenspiegel hätte erkennen können. Dabei war dem Geschädigten eine zutreffende Einschätzung der Positionierung des Fahrzeugs des Angeklagten infolge dessen überhöhter Geschwindigkeit jedoch nur eingeschränkt und mit hoher Fehlertoleranz möglich. Zwar leitete der Angeklagte eine Vollbremsung ein und wich weitestmöglich nach links aus, fuhr dem Fahrzeug des Geschädigten aber auf. Dieses schleuderte über die mittlere und rechte Spur ins Bankett und überstürzte sich. Der Geschädigte erlitt ein schweres und offenes Schädel-Hirn-Trauma und verstarb noch an der Unfallstelle. Das Fahrzeug des Angeklagten geriet ebenfalls ins Schleudern, kollidierte mit einem auf der mittleren Spur fahrenden Wohnwagengespann und überschlug sich. Der Angeklagte erlitt leichte Verletzungen. Beide Fahrzeuge erlitten einen Totalschaden, an weiteren Fahrzeugen wurden hohe Sachschäden verursacht. Wäre der Angeklagte mit einer Geschwindigkeit von höchstens 197 km/h gefahren, wäre der Unfall vermeidbar gewesen.[4]

Die Jugendkammer des Landgerichts Ingolstadt sprach den Angeklagten des verbotenen Kraftfahrzeugrennens mit Todesfolge in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs schuldig, verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten, entzog ihm Fahrerlaubnis und Führerschein und ordnete eine Sperre für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis von einem Jahr und sechs Monaten an.

Zwar bejahte die Kammer das kognitive Element des bedingten Tötungsvorsatzes. Denn der Angeklagte habe spätestens in dem Zeitpunkt, in dem er kurz vor dem Zusammenstoß mit dem Fahrzeug des Geschädigten auf einen anderen Pkw getroffen war, dessen Fahrer ihm Platz machte, sicher gewusst, dass sich überholende Fahrzeuge mit langsamerer Geschwindigkeit auf der linken Spur befinden oder auf diese wechseln könnten und dass in einem solchen Fall aufgrund des erheblichen Geschwindigkeitsunterschiedes die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass es zu einem schwerwiegenden Unfall mit möglicherweise tödlichen Folgen kommt.

Jedoch verneinte die Kammer das voluntative Element des bedingten Tötungsvorsatzes. Denn soweit sich der Angeklagte dahingehend geständig eingelassen hatte, dass er darauf vertraut habe, dass andere Verkehrsteilnehmer sein Fahrzeug und die Geschwindigkeit wahrnehmen und den Fahrstreifen nicht wechseln würden, könne ihm dies nicht widerlegt werden.

Auf die Revisionen des Angeklagten und des Nebenklägers hob der Vierte Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil des Landgerichts Ingolstadt mit den Feststellungen zur subjektiven Tatseite auf und verwies die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurück. Im Übrigen verwarf er die Revisionen.

Die Erwägungen des Landgerichts zur Feststellung eines bedingten Gefährdungsvorsatzes könnten nicht mit den Erwägungen zur Ablehnung eines bedingten Tötungsvorsatzes in Einklang gebracht werden. Unter Zugrundelegung der Argumentation des Landgerichts könne nicht angenommen werden, dass der Angeklagte überhaupt den Eintritt einer konkreten Gefahrenlage angenommen habe. Denn zur Verneinung des kognitiven Elements des bedingten Tötungsvorsatzes hätte in den Blick genommen werden müssen, dass der Angeklagte nicht lediglich auf das Ausbleiben der (tödlichen) Tatbestandsverwirklichung für den Fall des Eintritts einer konkreten Gefahrenlage, sondern auf das Ausbleiben von Gefahrenlagen aufgrund der Umsicht der anderen Verkehrsteilnehmer vertraute.[5]

III. Bewertung

In seinem Urteil hat sich der BGH (erneut) mit der Vorschrift des § 315d Abs. 2 StGB auseinandergesetzt. Soweit die Entscheidung das Verhältnis des konkreten Gefährdungsvorsatzes zum (bedingten) Verletzungs- bzw. Tötungsvorsatz beleuchtet, können die Ausführungen des Vierten Strafsenats durchaus als Fortführung seiner Entscheidung vom 31. Januar 2019 zur besonders schweren Brandstiftung nach § 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB – die der Senat in seinem Urteil auch anführt – verstanden werden.

In ebenjener Entscheidung führt der Vierte Strafsenat aus, dass Gefährdungsvorsatz und Schädigungsvorsatz zwar durchaus unterschiedliche Bezugspunkte hätten, beim Vorliegen eines auf die Gefahr des Todes bezogenen Vorsatzes aber kein Raum mehr für die Verneinung des kognitiven Elements eines bedingten Tötungsvorsatzes verbleibe. Denn die Gefahr beschreibe begrifflich nichts anderes als die naheliegende Möglichkeit einer Schädigung, wisse doch derjenige um die Möglichkeit des Eintritts eines

tödlichen Erfolgs, der die Gefahrenlage für das Leben anderer erkennt und sich mit ihr abfindet.[6]

Unter Berücksichtigung dieser Entscheidung des Vierten Strafsenats zeichnet sich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Tendenz ab, die durchaus als Gleichsetzung des konkreten Gefährdungsvorsatzes mit bedingtem Verletzungs- bzw. Tötungsvorsatzes aufgefasst werden kann.[7]

Diese Tendenz begegnet durchgreifenden Bedenken. Denn konkreter Gefährdungsvorsatz und bedingter Verletzungs- bzw. Tötungsvorsatz sind derart inkongruent, dass eine Gleichsetzung mit dem gegenwärtigen strafgesetzlichen Regelwerk unvereinbar ist.

Diese Unvereinbarkeit ergibt sich schon aus der Existenz der konkreten Gefährdungsdelikte an sich, die nach dem Willen des Gesetzgebers einen eigenständigen Anwendungsbereich neben (entsprechenden versuchten) Verletzungs- und Tötungsdelikten haben sollen.

Dogmatisch betrachtet zeigt sich zudem, dass auch der der jeweiligen Tathandlung innewohnende Handlungsunwert divergiert. Eine Tathandlung im Sinne der Erfolgsdelikte ist tatbestandsmäßig, wenn sie das Risiko der Herbeiführung des (unwertigen) Erfolges in sich trägt. Dementsprechend haftet den jeweiligen Tathandlungen ein unterschiedliches Risiko an. Denn die tatbestandliche Handlung trägt im Rahmen der konkreten Gefährdungsdelikte das Risiko einer konkreten Gefahr und im Rahmen der Verletzungs- und Tötungsdelikte das Risiko der Verletzung bzw. Tötung in sich. Dieser unterschiedliche Handlungsunwert spiegelt sich nicht zuletzt auch in der teils unterschiedlich ausgestalteten Strafandrohung wider.

Die Identifikation des konkreten Gefährdungsvorsatzes mit bedingtem Verletzungs- bzw. Tötungsvorsatz würde auch die dogmatische Inkongruenz zwischen vollendetem konkreten Gefährdungsdelikt und versuchtem Verletzungs- bzw. Tötungsdelikt verkennen. Soweit das kognitive (und voluntative) Element des konkreten Gefährdungsvorsatzes bejaht wird, läge hierin zugleich ein Tatentschluss bzgl. der Tötung, womit den konkreten Gefährdungsdelikten letztendlich kein eigenständiger Anwendungsbereich mehr verbliebe. Zwar kann der taugliche Versuch durchaus – im Sinne von Roxin – als Gefährdung sui generis konzipiert werden.[8] Denn sowohl beim tauglichen Versuch als auch beim konkreten Gefährdungsdelikt rückt das Rechtsgut in die sog. empirische Nähe des Verhaltens. Dabei zeigt sich jedoch ein erster Unterschied darin, dass die empirische Nähe des Verhaltens im Sinne des konkreten Gefährdungsdelikts gerade nicht – wie im Rahmen der Versuchsstrafbarkeit – im Sinne einer zeitlich-räumlichen Beziehung, sondern im Sinne einer zufälligen Realisierung des Schadens am geschützten Rechtsgut zu verstehen ist. Dabei begründet sich die zwischen konkreten Gefährdungsdelikten und tauglicher Versuchsstrafbarkeit bestehende – wesentliche – dogmatische Inkongruenz insbesondere darin, dass die jeweiligen Gründe für das Ausbleiben der Schadensrealisierung divergieren. Während der Grund für das Ausbleiben der Verletzung bzw. des Todes im Rahmen der konkreten Gefährdungsdelikte auf den Zufall zurückgeführt werden kann, ist das Ausbleiben der (tödlichen) Tatbestandsverwirklichung im Rahmen des entsprechenden tauglichen Versuchs bzgl. des Tötungsdelikts auf das Scheitern der im Tatplan vorgesehenen Verteidigungshandlung zurückzuführen.[9]

Die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anklingende Identifizierung des konkreten Gefährdungsvorsatzes mit bedingtem Verletzungs- bzw. Tötungsvorsatz hat bereits in Teilen der tatgerichtlichen Rechtsprechung Anklang gefunden. Beispielsweise vertritt das Landgericht Deggendorf unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 31. Januar 2019 die Auffassung, dass derjenige, der eine für ihn (unvermeidbare) Möglichkeit eines Erfolgseintritts akzeptiere und in Kauf nehme, logischerweise auch den Fall der Realisierung der Möglichkeit in einem Erfolgseintritt in Kauf nehme. Soweit der Eintritt des Schadens nur noch vom Zufall abhänge, komme ein ernsthaftes, nicht nur vages Vertrauen auf das Ausbleiben eines Erfolges schon begrifflich nicht mehr in Betracht.[10]

Vor diesem Hintergrund wäre eine deutliche Positionierung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu ebendiesem Verhältnis – insbesondere auch im Hinblick auf das jeweilige voluntative Vorsatzelement – begrüßenswert.


[*] Die Autorin ist Richterin auf Probe im Justizdienst des Landes Berlin und hat bei Prof. Dr. Jochen Bung (Lehrstuhl für Rechtsphilosophie und Strafrecht) an der Universität Hamburg promoviert.

[1] Vgl. nur BGH, Urt. v. 12.6.2008 – 4 StR 78/08, HRRS 2008 Nr. 759.

[2] BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18, HRRS 2019 Nr. 304; vgl. hierzu eingehend Heghmanns ZJS 4/2019, 333 ff.

[3] BGH, Urt. v. 18.8.2022 – 4 StR 377/21, HRRS 2022 Nr. 1147.

[4] Zu den ausführlichen tatsächlichen Feststellungen vgl. BGH, Urt. v. 18.8.2022 – 4 StR 377/21, HRRS 2022 Nr. 1147 Rn. 2-5.

[5] BGH, Urt. v. 18.8.2022 – 4 StR 377/21, HRRS 2022 Nr. 1147.

[6] BGH, Urt. v. 31.1.2019 – 4 StR 432/18, HRRS 2019 Nr. 304 Rn. 13.

[7] a.A. Jäger JA 2022, 1044 ff. (1045 f.); Preuß NZV 2022, 569 ff., 571 f.

[8] Roxin, Dogmática penal y Política criminal, Lima 1998, 258 ff., 261; zit. nach Puig, Roxin-FS 2001, 729 ff.

[9] Roxin, a.a.O., 261.

[10] LG Deggendorf, Urt. v. 22.11.2019 – (1 Ks) 6 Js 5538/18 -, BeckRS 2019, 35102 Rn. 163.