HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2020
21. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Widerspruch gegen Vernehmung behördlicher Zeugen

Die Funktionsweise des menschlichen Gehirns und die Grundlage von Fehlurteilen in der Justiz

Von RA Dr. jur. Jörg Burkhard, Fachanwalt für Steuerrecht und Strafrecht, Wiesbaden

Problemstellung: in Verfahren mit Behördenbeteiligung studieren die Beamten/Funktionsträger der Verwaltung zur Vorbereitung auf die Aussage bei Gericht die Behördenakten.[1] Der Betriebsprüfer lässt sich sein Fallheft und die Steuerakten Wochen vor seiner Vernehmung schicken bzw. teilweise viele Wochen vor dem Vernehmungstermin aus dem Archiv holen und bereitet sich dann meist über mehrere Wochen oder Tage je nach Umfang der Akte 10-30, 40 oder 50 oder noch mehr Stunden lang auf seine Vernehmung vor, indem er die Akte mehr oder weniger auswendig lernt. Damit wird das alte Wissen wieder aufgefrischt[2] . Erinnerungslücken gibt es nicht

mehr. Widersprüche oder Unklarheiten oder Verwechslungen mit anderen Akten werden ausgeschlossen. Ein behördlicher Zeuge hat daher nie Erinnerungslücken oder den Sachverhalt vergessen. Dies ist bei Fahndungsprüfungen durch Steuerfahnder oder Prüfung des Hauptzollamtes oder auch Polizeibeamten nicht anders: Sie bereiten sich gemäß innerdienstlicher Anweisung pflichtgemäß auf ihre Aussage vor. Kein Wunder, dass die Beamten nichts vergessen haben und vollständig den Akteninhalt wiederholen können. Da sie auch vorher nicht vernommen werden, kann man ihnen nicht mal ihre frühere Aussage vorhalten. Widersprüche zu früheren Aussagen gibt es daher bei den behördlichen, professionellen Zeugen nicht. Die Messlatte bei Vernehmungen "normaler" Zeugen ist damit völlig unterschiedlich. Die professionellen behördlichen Zeugen wiederholen den letzten Stand der Akte. Es ist ein Referat über den Akteninhalt. Eigene Erlebnisse treten in den Hintergrund. Auch Ermittlungsergebnisse von Kollegen und Ergebnisse von Begutachtungen von Sachverständigen fließen mit in die Berichte der behördlichen Zeugen ein.

Sind das aber noch Zeugenaussagen? Der normale Zeuge bekommt extra keine Kopie seiner Aussage bei der Polizei oder der Finanzverwaltung, damit er sich gerade bei einer späteren Aussage vor Gericht nicht auf diese Aussage vorbereiten kann und die Aussage nicht noch einmal zur Vorbereitung auf die Vernehmung lesen kann. Es soll der Wahrheitsgehalt seiner Aussage an dem Kriterium der Aussagekontinuität geprüft werden: ob er zumindest im Wesentlichen zum Kerngeschehen gleich aussagt. Er soll gerade nicht seine ursprüngliche Aussage bei der Polizei oder der Bußgeld- und Strafsachenstelle oder der Steuerfahndung auswendig lernen und dann wiederholen können, sondern soll nur das aussagen, an was er sich wirklich erinnert. Das ist der Grund, warum normale Zeugen keine Kopien ihrer Aussagen bei der Polizei bzw. Steufa bekommen, damit sie das nicht später vor einer erneuten Vernehmung noch einmal lesen können, um so Erinnerungslücken dann zu schließen und das zu repetieren, was sie damals sagten.

Man misst den Wahrheitsgehalt daran, ob und wie sich der normale Zeuge erinnert, ob er zum Kerngeschehen aussagekonstant ist oder ob es minimale Abweichungen im Nebensächlichen gibt. Und sagt der Zeuge zu sehr das aus, was er damals in seiner Aussage sagte, kommt die Frage auf, mit wem er über die Aussage gesprochen hat, ob er von dem Beschuldigten oder dessen Anwalt eine Kopie der damaligen Aussage erhalten hat oder es erscheint dem Gericht so unglaubwürdig, dass sich der Zeuge an diesen für ihn so unbedeutenden Sachverhalt so genau erinnern kann, dass Gedächtnisauffrischungen durch Vorgespräche oder Kopien gemutmaßt werden.

Der Detailreichtum einer Aussage und die Aussagekonstanz sind dabei wichtige Parameter zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen … aber warum ist das anders bei behördlichen Zeugen? Dabei ist es normal, dass der normale Zeuge Sachverhalte, die viele Jahre zurück liegen, nicht mehr genau weiß oder er sie vielleicht vollständig vergessen hat. Während also bei den normalen Zeugen darauf geachtet wird, dass er zumindest partielle Erinnerungslücken zeigt und vielleicht auch Sachverhalte nach vielen Jahren verwechselt oder nicht mehr alles ganz zusammenbringt, vielleicht je nach Erlebnis und emotionaler Befasstheit nur das Kerngeschehen in groben Zügen noch weiß, ist das bei den behördlichen Zeugen aufgrund deren pflichtgemäßer Aktenlektü-

re vor deren Vernehmungen gerade nicht der Fall: die behördlichen Zeugen vergessen nichts, repetieren noch nach Jahren Zahlen, Fakten, Zusammenhänge, als wären sie gestern erlebt, vergessen nichts, verwechseln nichts, haben keine Widersprüche, beten den Akteninhalt 1:1 herunter.

Das wirft nicht nur die Frage nach dem Sinn solcher Vernehmungen auf und lässt einen staunen, dass es offenbar zweierlei Maß bei den Zeugen und bei der Beurteilung deren Glaubwürdigkeit gibt, die keinen Anhalt in der StPO finden. Und warum der professionelle Zeuge glaubwürdig ist, wenn er nach Jahren aufgrund der Aktenlektüre den Sachverhalt berichten kann, als wäre er gestern erlebt und dem Zeugen nicht geglaubt wird, wenn er sich an vieles erinnert oder ihm unterstellt wird, er habe sich kurz zuvor den Sachverhalt durch Besprechungen wieder erarbeitet oder vom Beschuldigten erzählen lassen.

Die Vorbereitung des professionellen Zeugen wirft aber auch die Frage auf, ob diese professionellen Zeugen überhaupt noch Zeugen sind. Was ist eigentlich ein Zeuge im Sinne der StPO? Die StPO definiert den Begriff des "Zeugen" nicht, was angesichts der praktischen Bedeutung dieses Beweismittels erstaunlich ist, aber in ZPO, FGO und VwGO, VwVfG ebenso gehandhabt wird. Die Verfahrensordnungen und insbesondere die StPO setzen voraus, dass man weiß, was ein Zeuge ist. Die StPO kennt auch keine spezifischen "Berufszeugen". Sie unterscheidet nicht zwischen behördlichen, professionellen und normalen Zeugen. Es gibt nur Zeugen. Die hier gewählte Unterscheidung zwischen behördlichen (professionellen) und normalen ist daher in der StPO nicht zu finden – sie ist aber nötig, um die unterschiedlichen Positionen, die unterschiedlichen Rechte und Pflichten und die unterschiedliche Behandlung bei der Vorbereitung und der Behandlung der Beweiswürdigung dieser unterschiedlichen Zeugengruppen herauszuarbeiten.

In der StPO gibt es keine direkten Anweisungen für den Umgang mit den Zeugen und erst Recht keine Vorschriften über die unterschiedliche Behandlung der beiden Zeugengruppen – der normalen und der behördlichen (professionellen). Die StPO befasst sich in den §§ 48 – 71 StPO mit der Stellung des Zeugen im Strafprozess allgemein. Dort handelt es sich um sehr allgemeine Regelungen, dennoch lassen sie erkennen, dass der Gesetzgeber der StPO bestimmte Vorstellungen von den Eigenschaften eines Zeugen gehabt hat: § 58 Abs. 1 StPO ordnet an, dass die Zeugen einzeln und in Abwesenheit der später zu hörenden Zeugen zu vernehmen sind. Dies macht nur Sinn, wenn man unterstellt, dass die Zeugen nicht über die Sache vorher reden sollen und ihre Aussage nicht inhaltlich auffrischen sollen anhand des Inhalts, den die anderen gerade zuvor erzählt haben und sich die Zeugen auch nicht Stimmungen und Tendenzen und anderen Aussagen anpassen sollen und ihr Gehirn gerade unbeeinflusst von neuen oder anderen Erkenntnissen nur das selbst Erlebte unverändert und unbeeinflusst wiedergeben können soll. Das sieht der BGH genauso: "Der Zeuge soll, ohne zu wissen, was der Angeklagte angegeben hat und was andere Zeugen vor ihm bekundet haben, unbefangen aussagen. Die darin liegende höhere Gewähr für die Ermittlung der Wahrheit war dem Gesetz also wichtiger als die uneingeschränkte Durchführung des Grundsatzes der Öffentlichkeit."[3] Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 StPO ist der Zeuge zu veranlassen, das, was ihm von dem Gegenstand seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhang anzugeben und nach § 69 Abs. 1 Satz 2 StPO sind dem Zeugen der Gegenstand der Untersuchung und die Person des Beschuldigten (erst) vor seiner Vernehmung zu bezeichnen. § 69 StPO geht also davon aus, dass der Zeuge entsprechend seiner konkreten Erinnerung Angaben macht. Zusammengefasst: Der Zeuge im Sinne der StPO soll vor seiner Vernehmung grundsätzlich nichts über den Gegenstand des Verfahrens wissen, auch nichts darüber, wer Beschuldigter ist oder was andere Zeugen gesagt haben. Er soll aus seiner Erinnerung vortragen, nicht aus der Erinnerung an die Aussagen anderer oder gar an den Akteninhalt.[4]

Diese aus den genannten allgemeinen Anforderungen ableitbaren Eigenschaften des Zeugen spiegeln sich auch in der mangels einer Legaldefinition von Rechtsprechung und Literatur erarbeiteten Definition des Zeugen wider. Nach ganz einhelliger Auffassung ist der Zeuge ein persönliches Beweismittel, das in einem nicht gegen ihn gerichteten Verfahren eine persönliche Wahrnehmung über einen in der Vergangenheit liegenden Vorgang bekunden soll.[5]

Andererseits kann natürlich ein Zeuge spätestens, wenn er die Ladung mit dem Beweisthema erhalten hat, darüber nachdenken, was damals geschah und wozu er befragt werden soll.

Bei professionellen Zeugen ist die Situation grundverschieden: da ist es normal, dass sie mit Kollegen und Vorgesetzten reden und die Akte noch einmal lesen und sie den Akteninhalt dann repetieren können. Kein Wunder: sie haben auch unmittelbar zuvor über Stunden, Tage, Wochen die Akte wiederholt und auswendig gelernt. Klar, dass sie dann den Akteninhalt präsent haben.

Noch einmal zum langsamen Verstehen: bei den normalen Zeugen untersucht man angeblich wissenschaftlich die Glaubwürdigkeit des Zeugen und die Glaubhaftigkeit dessen Aussage: Glaubwürdigkeit als Personenmerkmal ist jedoch erheblich, wenn Banden, Seilschaften oder besonders verbundene Interessenträger verwickelt und Zeugenabsprachen zu befürchten sind.

Die Glaubhaftigkeit im weiteren Sinne ist das Ergebnis der Beurteilung, ob die auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Aussagen zutreffen. Vier potenzielle Fehlerquellen müssen berücksichtigt werden: Die Wahrnehmung des Sachverhalts, die Speicherung unter Berücksichtigung der jeweiligen Bewusstseinslage, die Wiedergabequalität (Aussagetüchtigkeit) und der Wahrheitsgehalt der Aussage in sich (Glaubhaftigkeit im engeren Sinne).[6]

Die Glaubhaftigkeit im engeren Sinne wird im Regelfall ggf. durch den Richter festgestellt; dazu bedient er sich eines Sachverständigen und geht folgendermaßen vor: Es wird zunächst davon ausgegangen, die Aussage sei unwahr (Nullhypothese).[7] Diese Hypothese wird anhand folgender Positivindizien überprüft:[8]

• konkrete, anschauliche Schilderung

• Detailreichtum und Zugeben von Erinnerungslücken

• Schilderung abgebrochener Handlungsketten und von Unverstandenem

• Selbstkorrekturen und Belastungen

• Originalität

• Innere Stimmigkeit (logische Konsistenz)

• sachverhaltstypische Details.

Wenn das aber die richtigen Kriterien sind, warum werden sie bei den behördlichen Zeugen systematisch ausgehebelt und nicht angewandt?

Da staunt man über dieses System. Beides sind Zeugen, während es bei den Behördenzeugen als normal und pflichtgemäß angesehen wird, dass diese sich durch auswendig Lernen der Akte auf die Vernehmung vorbereiten und dann fehlerfrei und konstant den Akteninhalt wiedergeben, während dasselbe Verhalten bei "normalen" Zeugen als anstößig, als habe es etwas ungehöriges an sich bewertet und es wird bei Gericht meist irritierend empfunden, wenn der normale Zeuge den Sachverhalt vorher gelesen hat und herunterbeten kann und sich nach Jahren noch genau an Einzelheiten erinnern kann – das ist dann da auffällig – beim behördlichen Zeugen sei derselbe Sachverhalt pflichtgemäß und normal.

Diese Irrationalität der Beweiswürdigung der Zeugenaussagen kann man nicht wirklich verstehen. Deswegen ist es ja auch angeblich "ureigenste Aufgabe" des Tatrichters, die Glaubwürdigkeit zu beurteilen. Da pfuscht ihm keiner rein. Mit ureigenste Aufgabe ist nur gemeint, dass er allein würdigen kann, wie er will und kein anderer da mitzureden hat, nicht einmal das Revisionsgericht. Da ist der Willkür Tür und Tor geöffnet. Die unterschiedlichen willkürlichen Bewertungsmaßstäbe sind schon in der unterschiedlichen Behandlung der Aussagen zwischen behördlichen und normalen Zeugen evident. Da soll die Bewertung des Richters unangreifbar sein – das versteckt sich hinter der Redewendung mit der "ureigensten Aufgabe" – weil sie eben willkürlich und sachlich nicht verständlich ist. Es soll aber wegen dieser evidenten falschen und widersprüchlichen Bewertungen nicht jedes Urteil aufgehoben werden, deswegen werden die Bewertungen einer Überprüfbarkeit einer Anfechtbarkeit weitestgehend entzogen – ein Zaubertrick, der die Willkürlichkeit verbergen soll und als Wissenschaft verkaufen soll, dem aber die Ungerechtigkeit und Beliebigkeit und Voreingenommenheit schon bei bloß grobem Hinsehen auf der Stirn geschrieben steht. Unangreifbar und ureigenste Aufgabe als Blankettversteck für systembedingte Willkür. Kurzum: Das System ist verlogen und unglaubwürdig. Es ist ein Hokospokus, der unseriös ist. Bei behördlichen Zeugen wird das Erinnern bei Gericht aber für normal gehalten. Damit gibt es zwei Klassen von Zeugen vor Gericht.

Aber warum ist das eigentlich problematisch, wenn ein behördlicher Zeuge die Akte liest? Er meint es doch nur gut, da ist doch nichts Böses dabei – oder?

Kammann [9] weist darauf hin, dass der Polizeibeamte seine Vorbereitung jedoch nicht so gestalten sollte, dass der Inhalt der Akte auswendig gelernt und so vor Gericht wiedergegeben wird. Dies würde die Glaubhaftigkeit der Aussage eher schmälern. Vielmehr ist es geboten darauf hinzuweisen, an welche Einzelheiten des Sachverhalts sich der Polizeibeamte vor dem Aktenstudium noch selbst erinnerte und welche ihm erst wieder durch die Einsichtnahme bewusst wurden.[10] . Das ist ein nett gemeinter Vorschlag, nur spielt da das Gehirn nicht mit: die neuen Informationen werden mit den alten untrennbar vermengt und vermischt und zu einer neuen Wahrheit verformt und dann so abgespeichert. Das ist auch ein schleichender Prozess, da weitere Gespräche und weitere Aktenseiten zu lesen Stückchenweise die Erinnerung wieder bringt und neue Erkenntnisse hinzusetzt. Es ist gerade nicht möglich, die einzelnen Lernschritte separat abzulegen – das hilft dem menschlichen Hirn nicht und deswegen ist es darauf auch gar nicht ausgerichtet und trainiert. Das Gehirn funktioniert schon so seit vielen Jahr Millionen: es ist nicht wichtig, wann wer wie erlernte, wie die Beute am Besten gestellt und erlegt wird –es ist nur wichtig zu wissen, wie es am Besten, am Effektivsten und Schnellsten geht – das Ergebnis und der Erfolg zählen. Die einzelnen Lernschritte sich zu merken, war für den Bestand der Rasse Mensch noch nie wichtig. Und jetzt nach Jahr Millionen Entwicklung schaffen wir diesen für das Gehirn unwichtigen Schritt, wann was wie von wem gelernt wurde und wann was dazu kam zu sezieren? Wer glaubt das?

Wissen Sie noch, wer Ihnen zuerst beibrachte, was 8*7 ist? Nein! Es langt, dass Sie wissen, dass es 56 ist. So funktioniert Ihr Gehirn. Die Lernschritte im kleinen Einmaleins sind dabei dann nicht wichtig und daran kann sich auch keiner mehr erinnern. Und das ist bei gelesenen und erlernten Aktenwissen genauso: das ist dann untrennbar mit den alten ursprünglichen erfahrenen und erlebten Situationen untrennbar verbunden.

Das führt auf die Frage zurück, wie unser Gehirn, unser Gedächtnis funktioniert. Ist das Gehirn tatsächlich einfach nur eine Festplatte, kann der wahre erlebte Sachverhalt einfach nur abgerufen werden? Oder ist die Erinnerung stets vermengt mit neu Erlebtem und verändert sich

die Erinnerung dauernd, je häufiger ein Sachverhalt wiederholt wird oder neu eingelesen wird oder weitere Informationen durch Gespräche hinzu kommen?

Der Bochumer Biopsychologe Prof. Onur Güntürkün beschreibt das Phänomen des Gehirns bzw. Gedächtnisses so: "Unsere Erinnerungen sind in größter Gefahr, wenn wir uns an sie erinnern. Dann werden sie sehr fragil und können zerstört oder modifiziert werden".[11] Das Gehirn speichert zu einem fraglichen Thema immer neue weitere Informationen hinzu. Das muss auch eigentlich so sein, denn nur so können wir lernen. Beim Tanzen lernen wir Grundschritte und in der nächsten Stunde lernen wir Modifikationen und Erweiterungen dazu. Nach drei Tanzstunden ist die Tanzfigur umfangreich und perfekt. Das ursprünglich erlernte, nämlich der Grundschritt und der Aufbau der einzelnen Figuren und Schritte sind dann im Gehirn längst verschmolzen zu einer einheitlichen Abfolge der Schritte. Nach der 10. Tanzstunde weiß keiner mehr, wie die einzelnen Figuren erarbeitet wurden und welche Sequenzen zur Erarbeitung der Gesamtfigur geübt wurden. Die Figuren werden dann automatisch abgerufen und ohne dass man sich darüber Gedanken macht, werden die Schritte automatisch abgerufen und umgesetzt. Die Schritte werden dann quasi zum Selbstläufer. Das menschliche Gehirn kann nicht mehr sich daran erinnern, wie anfangs die Grundschritte, die ersten Modifikationen und Ergänzungen hinzukamen. Das ist für das Gehirn nicht mehr wichtig. Die Gesamtfigur ist nun das Ziel, das abgerufen werden soll. Das menschliche Gehirn kann hier nicht mehr die einzelnen Lernsequenzen, sich nicht mehr an die einzelnen Sequenzen der 1., 2. oder 3. Tanzstunde oder gar an die spezielle Sequenz in der 17. Minute der 2. Tanzstunde erinnern. Sich das zu merken ist für das menschliche Gehirn nicht wichtig. Das Gehirn definiert ein eigenes Ziel, nämlich die Gesamtfigur als wichtig abzuspeichern. Damit verlieren sich die einzelnen Übungs- und Lernsequenzen und werden von der Gesamtfigur überlagert und verdrängt. Könnte sich oder müsste sich der Mensch jeden Teilschritt merken, ähnlich wie ein PC auf der Festplatte jede Zeile behält, müsste jedes Detail abgespeichert werden und später wieder getrennt abgerufen werden können. Da spielt uns unsere Erinnerung einen Streich. Aus Rationalisierungsgründen wird das hier zusammengefasst und verändert und modifiziert. Das ist natürlich eine tolle lebenswichtige Sache. Das Gehirn schmeißt unerhebliche und überflüssige Informationen raus und behält damit Platz für weitere neue Informationen. Die menschliche Gehirn-Festplatte ist eben nicht irgendwann randvoll – dann auch mit für uns unnützen Informationen –, sondern behält nur die für uns wichtigen Informationen und die unwichtigen werden einfach gelöscht. Es wäre doch auch frustrierend für uns, wenn wir uns an jedes einzelne 1. Wort, das wir schon im Kleinkindalter lernten und falsch aussprachen oder in der 1. Klasse auch noch falsch schrieben so merken würden und dies jederzeit abrufen könnten. Das menschliche Gehirn leistet hier exzellente Prozesse: das vom Erstklässler noch falsch geschriebene Wort "Foja" entwickelt sich zum "Feuja" und später zum "Feuer". In diesem Prozess ist es für das menschliche Gehirn nicht wichtig, wann und wieso der Entwicklungsprozess stattfand und warum Feuer nicht mit V sondern mit F geschrieben wird. Das Wort Feuer wird irgendwann abgespeichert, dass es eben so geschrieben wird. Ein fotografisches Gedächtnis etwa wie eine Festplatte, die hier die einzelnen Entwicklungssequenzen später noch abrufen könnte, gibt es nicht.

"Warum vergessen wir überhaupt etwas?", fragt Prof Dr. Axmacher. "Wir haben doch so viele Nervenzellen." Oft sind Gedächtnisspuren schlicht nicht mehr auffindbar, obwohl sie grundsätzlich noch vorhanden sind, oder sie haben sich einfach nicht genügend stabilisiert. Sie können sogar aktiv gelöscht werden. Das beweisen Experimente. "Es ist möglich, Gedächtnisinhalte willentlich zu unterdrücken." Der Laterale Präfrontale Cortex spielt dabei eine große Rolle. "Er ist dafür verantwortlich, dass sich die Aktivität im Hippocampus als Zentrum des Erinnerns vermindert." Das Vergessen ist im Grunde eine alltägliche Angelegenheit.

Ähnlich ist es mit dem Verdrängen. Hier wird das Gedächtnis bewusst unterdrückt. "Unser Leben ist von Konflikten geprägt, nicht nur interpersonell, sondern auch intrapsychisch." Gerade die Konflikte innerhalb der eigenen Psyche wiegen schwer, "weil wir sie selbst lösen müssen". Dabei geht es zum Beispiel um den Konflikt zwischen Nähe und Distanz oder Konflikte rund um das individuelle Selbstwertgefühl.[12]

So ist das beim Erlernen der eigenen Muttersprache, aber auch jeder Fremdsprache, so ist das beim Erlernen mathematischer Regeln oder bei Naturwissenschaften. Das Gehirn macht einfach immer wieder Platz für neue Informationen, wenn sie für erheblich gehalten werden, werden sie dann zu den bereits vorhandenen hinzugesetzt und die alten modifiziert. Auch bei technischen Fortschritten ist das natürlich so. Zu dem bisher Erlernten kommen neue Informationen hinzu und das bisher Erlernte verfeinert sich. Die neu hinzutretenden Informationen werden einfach zu den alten hinzugesetzt, hinein verarbeitet und damit untrennbar vermengt und dann als neues einheitliches Ganzes abgelegt. Später weiß man dann nicht mehr, wie man zu diesem Gesamtkunstwerk, zu diesem Gesamtergebnis des Abgelegten kam, man kann aber nur noch das Gesamtkunstwerk berichten. Es ist tatsächlich wie ein Ölgemälde: die Farben, die man hinzu mischt und auf der Leinwand vermengt, werden untrennbar mit den anderen zusammengesetzt. Die einmal aufgetragene und vermischte Farbe kann man natürlich nicht wieder extrahieren und isoliert betrachten oder scheibchenweise erläutern. Dieser an sich für das Überleben und die Weiterentwicklung der Menschheit bzw. des einzelnen Menschen lebenswichtige Vorgang ist eine Art Rationalisierungseffekt und wahnsinnig effizient. Diese tolle Funktionsfähigkeit des Gehirns macht es möglich, eine bereits bekannte Sache immer besser in den Griff zu bekommen, sei es durch Übung oder weiteres Anlernen und zu modifizieren. So kann man also quasi Schritt für Schritt sich voran arbeiten und sich ein

Thema erarbeiten, sich perfektionieren und an sich arbeiten. Das macht jeder Athlet, das macht jeder Wissenschaftler, das macht jeder, der zielorientiert mit einem Thema vorankommen will oder Erfolg im Beruf oder Hobby oder eben anderen Themen haben möchte. Das ist kein aktiver Prozess, den der Mensch steuern könnte oder müsste, sondern ein automatischer Prozess, der im Gehirn abläuft. Stellen Sie sich nur vor, sie würden ein neues Auto kaufen und müssten nun ganz von vorne anfangen. Wie kuppelt man? Was ist ein Blinker und wo ist er? Wie sind die Verkehrsregeln? Hat das Auto eine Hupe und wo ist diese? Gibt es einen Rückwärtsgang? Wie parke ich ein? Was ist ein Navigationsgerät und wie bediene ich das? Hat das Auto überhaupt ein Radio, eine Rückwärtskamera, ein Navigationsgerät? Gott sei Dank fangen wir hier nicht bei Null an, nur weil das Auto neu ist. Wir kombinieren altbekanntes mit Neuem und verschmelzen das im Gehirn zu einem Wissen über das neue Auto. Es wäre sehr anstrengend für uns und ineffizient, wenn wir bei einem neuen Fernseher, dem neuen Auto, der neuen Kaffeemaschine, der neuen Zahnbürste alles von vorne wieder erlernen müssten. Das Gehirn hat bereits ganz viele Informationen gespeichert und nur das was neu ist fügt es einfach hinzu. Dann brauchen wir bei dem neuen Auto vielleicht nur zu lernen, dass statt des bislang üblichen Pkw-Schlüssels ein keyless go System eingebaut ist, bei dem wir weder Türen aufschließen müssen noch den Schlüssel in das Zündschloss stecken müssen, vielmehr aufgrund des mitgeführten Schlüssels der Pkw uns als berechtigten Besitzer erkennt, die Türen öffnet und der Wagen sich starten lässt. Die übrigen Informationen sind bekannt und damit wird die Frage, wie der Wagen zu benutzen ist schnell durch die neue Information ergänzt und spätestens am 10. Tag ist das Fahren ohne aktive Benutzung der Schlüssel zum Aufschließen oder zum Starten des Wagens völlig normal und selbstverständlich. Nach einem Jahr Fahrzeugnutzung kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie das früher war mit dem Aufschließen der Türen und dem Einstecken des Schlüssels in das Zündschloss und dem Startvorgang. So wird also durch ständig neu hinzukommend neue Informationen und ein ständiges Wiederholen und Einüben eines bestimmten Vorgangs das Gehirn modifiziert, ohne dass wir abspeichern könnten und würden, ob, warum und wann und durch was unser Wissen im Detail ergänzt und verändert wird. Die Fragen ob, wann und wie unser Wissen modifiziert wurde, sind für uns Menschen unerhebliche Informationen. Denn wann wir etwas lernten, ist für uns nicht wichtig, das uns zu merken wäre theoretisch vielleicht möglich, aber praktisch unerheblich – darauf sind wir nicht trainiert, sodass gerade nicht wie auf einer Festplatte oder in einer fotografischen Zeitlupenanalyse die einzelnen Sequenzen später reproduziert werden können, wann wir was durch wen und wie erlernten. Das was uns subjektiv wichtig ist, merken wir uns. Der Rest verschwindet im Nichts und wird vergessen. So wichtig dieses Phänomen des Gehirns für unsere Lernprozesse und die Aufnahmefähigkeit neuer Informationen ist, so schwierig und gefährlich ist dieses Phänomen bei der Vernehmung von Zeugen und dem angeblichen Wahrheitsgehalt deren Zeugenaussagen. Dazu kommt in der Rechtsprechung, das einige Juristen meinen, sie könnten alles in ihrer Selbstherrlichkeit ermitteln und durch Fragen erkennen, wann welche Informationen in dem Gehirn verändert und gespeichert wurden und dabei verkennen, dass die Zeugenaussage natürlich gerade nicht eine Fotodokumentation des Erlebten ist, sondern den oben beschriebenen Veränderungen, Implementationen und Modifikationen und Manipulationen unterlegen ist. Dagegen kann sich auch kein Mensch wehren, da dies ein normaler menschlicher Prozess im Gehirn ist. Jedes Durchgehen und jedes Besprechen der Erinnerung führt denknotwendig zu neuen Erkenntnissen, zu Veränderungen und neuen Schwerpunktsetzungen und zum Einschleifen von vergessenen Punkten und zur Aufnahme neuer, für interessant oder wichtig erkannter Punkte. So kann das Besprechen eines damals erlebten Sachverhaltes etwa mit einem Kollegen, der den Sachverhalt auch erlebt hat, dazu führen, dass dessen Erinnerungen untrennbar mit den eigenen Erinnerungen vermengt, vermischt und optimiert werden – bei beiden Gesprächspartnern natürlich. Aus Sicht des Gehirns ein ganz normaler und sinnvoller Vorgang: das bereits vorhandene Wissen wird um neue, hinzugekommene Informationen ergänzt und diese als neuester Stand im Gehirn abgelegt. Wird dann dieser Vorgang wieder aufgerufen, wird natürlich die neue, beste Version aufgerufen und als aktuelle zutreffende Version benutzt. Stellen wir uns noch einmal für eine Sekunde vor, wir müssten erst einmal sortieren, wann wir was gelernt haben und in welchem Stadium wir was wussten, wäre das für den Menschen nicht fürchterlich, wenn er etwa flüchten müsste: wie laufe ich? Wie stehe ich? Wie kann ich schnell rennen? Wie mache ich Ausweichbewegungen? Diese Informationen sind, wann wir sie erlernten und wie wir sie perfektioniert und ergänzten, längst nicht mehr abgespeichert. In einer Gefahrensituation wird sofort abgerufen, wie man am besten flüchtet. Wann wir wie über wie viele Jahre das Laufen lernten, ist dabei nicht mehr wichtig. Das ist längst vergessen. Es wird einfach nur die Informationen abgerufen wie man am Schnellsten flüchten kann und diese wird in Bruchteilen von Sekunden umgesetzt. Nur diese Information ist wichtig und alle anderen nicht differenziert abrufbar. Auf die Frage, wie man flüchtet, würde der befragte Mensch immer nur die letzte Version als selbstverständlich richtige darstellen. An dieser Stelle kommen aber noch weitere interessante Aspekte des menschlichen Gehirns hinzu: je nach Kontext wird die Frage nach der Flucht anders ausfallen, die Antwort also, wie man am Besten flüchtet, völlig unterschiedlich darlegt werden. Derjenige, der gestern einer Prügelattacke ausgewichen und geflohen ist, wird die Flucht unter diesen Aspekten erzählen. Der Flüchtling, der aus Kriegs- und Krisengebieten geflohen ist, wird seine Flucht, auf die Frage, was Flucht ist, etwa über das Mittelmeer oder über andere Wege völlig anders erzählen. Derjenige, der noch nie geflohen ist, wird zwar abstrakt wissen, was eine Flucht ist, wird aber natürlich mit seiner Definition auf die Frage was Flucht ist, völlig anders antworten. Abstraktes, erlerntes und erlebtes Wissen vermischen sich also auch hier und bestimmen die Aussage. Das heißt aber bei einem professionellen Zeugen, etwa einem Polizisten, einem Steuerfahnder, oder einen Zollfahnder von der FKS mischen sich erlebte Vorgänge aus einem konkreten Fall mit späteren Erkenntnissen und Erzählungen von Kollegen, der Aktenlektüre und anderen Vorgängen, die er in ähnlichem Umfeld erfährt und zu dem Thema passen mit den konkreten Abläufen eines bestimmten Falles. Und je nachdem, welche Bilder oder Texte dem Befragten nun

vorgelegt werden, passt er unbewusst seine Aussage an. Deswegen kommen durch die Fragetechnik und einzelne Fangfragen bzw. Fangbegriffe andere Emotionen und Erinnerungen des Befragten zum Vorschein. Bleiben wir noch für eine Sekunde bei dem Fluchtbeispiel. Bei dem Zeugen, der einer Prügelattacke auswich und wegrannte, nicht getroffen wurde, kann die Frage wie akut die Bedrohung war oder ob er tatsächlich getroffen wurde oder wie fest der 1. Treffer war, bevor er rannte, natürlich zu neuen Interpretationen seinerseits führen. Ist der vermeintliche Angriff und die Flucht schon einige Zeit her, impliziert die Frage, wie heftig der 1. Schlag war und ob der 2. überhaupt traf, eine gewisse Ablenkung von der eigentlichen Thematik. Der Fragesteller impliziert mit seiner Fangfrage, dass es wohl Treffer gegeben habe. Ohne dass der Fragende vielleicht den Befragten manipulieren möchte und ohne dass der Befragte dies merkt, analysiert das Gehirn des Befragten diese neue Information: habe ich den 1. Schlag nur vergessen? Welcher von beiden Schlägen war der schlimmere? Blamiere ich mich, wenn ich jetzt sage, dass ich mich an einen Schlag bzw. Treffer gar nicht mehr erinnern kann? Ist das eigene Erinnerungsvermögen so sicher und so fest, dass der Zeuge jetzt standhaft versichert, dass es keinen 1. und keinen 2. Schlag gab und daher die Frage, welcher schlimmer war, sich erübrigt, weil es keinen Treffer gab, so dass die Frage nach dem "schlimmer" so nicht beantwortet werden kann? Kommt da vielleicht noch Obrigkeitsgehorsam hinzu, wenn eine höher gestellte Person (Richter, Vorgesetzter, Chef) diese Frage stellt und der Zeuge diesem gefallen möchte und unterstellt, dass die hochgestellte Persönlichkeit natürlich keine unseriösen oder Fangfragen stellt oder falsche Vorhalte macht? Und selbst wenn eine solche unseriöse Fangfrage erkannt und etwa im Gerichtssaal beanstandet wird, ist sie jedoch in den Raum geworfen und das Gehirn das Befragten fängt schon an zu arbeiten, ob es nicht vielleicht doch so gewesen sein kann. Schon wird das Gehirn innerlich sich fragen, was der Fragesteller damit meint, ob er mehr oder besseres Erinnerungsvermögen hat als man selbst und ob die eigene Abspeicherung zutreffend ist oder nicht, ob die neu erlangte Information besser und richtiger ist. Schon fängt das Gehirn an zu lernen und die alte Information mit der neuen zu vermischen. Vielleicht ist der Zeuge bis dahin noch standhaft, wenn nur eine Person ihn nach der Intensität der Schläge fragt. Spätestens wenn zwei oder drei Personen unabhängig voneinander diese Frage stellen, wird der Zeuge davon ausgehen, dass es tatsächlich Treffer gab, gerade wenn der Sachverhalt schon länger her ist und diese Details damals nicht so richtig wichtig waren und das eigene Gehirn eigentlich andere Schwerpunkte ablegte und abspeicherte. Schon beginnt die Modifikation der abgespeicherten Vorgänge und der als richtig interpretierte Sachverhalt wird jetzt als optimal und vermeintlich zutreffend abgelegt. Finden dann weitere Besprechung über dieses Thema, über diesen Vorgang statt, kommen neue Informationen auf den Zeugen zu, legt er auch dies wieder in einer optimierten Version ab. Umgangssprachlich sagt man, der habe sich etwas eingeredet. Das ist durchaus richtig: durch ständiges Neubearbeiten des Vorgangs können Teile des Erlebten verdrängt und andere hinzugesetzt werden. Das sind die typischen Vergessens- und Erlernensregeln – das sind die typischen Funktionsweisen des Gehirns. Wird also ein Sachverhalt über drei Jahre alle drei Monate neu besprochen, kann der Zeuge nicht mehr repetieren, wann welche Version aktuell war, sondern wird im Regelfall nur noch die letzte Version als einzig richtige darstellen. Dann kommen durch die Fragetechnik natürlich weitere Modifikationen hinzu. Das Wort Prügeln und Attacke sind natürlich sehr aktive Beschreibungen. Die Worte wirken schwer und aggressiv. Die Frage, ob der Zeuge einer drohenden Schlägerei ausgewichen ist oder ob der Zeuge nur einem drohenden Schlag ausgewichen ist oder woraus er entnehme, dass sich eine Bedrohung oder eine Gefahr entwickeln könnte oder ob der vermeintliche Angreifer überhaupt nur schon eine Faust geballt hätte oder etwa auch nur zu einem Schlag ausholte, führen in das Thema der Flucht natürlich ganz anders und unterschiedlich ein. Warum ist das so? Weil das Gehirn auch hier natürlich sofort anfängt zu interpretieren, was der Fragesteller wissen will. Diese Aktivität des Gehirns ist natürlich bei der Klausurentechnik in der Schule oder im Studium wichtig: wenn der Schüler oder Student weiß, was der Prüfer wohl mit dieser Frage gemeint hat, ist das Interpretieren der Frage wichtig und führt in der Regel zu einer richtigen und guten Beantwortung und damit zu den gewünschten guten Noten. Diese Interpretationen der Fragen sind aber in der menschlichen Diskussion oder Argumentation ebenfalls extrem wichtig: Wir interpretieren die Fragen und versuchen bestmöglich darauf zu antworten. Dies ist meistens höflich und zielführend. In der Fragesituation bei Gericht kann aber allein diese Frage mit unterschiedlich starken Verben oder Begrifflichkeiten oder Sinnbildern zu völlig unterschiedlichen Anpassungsverhalten des befragten Zeugen führen und folglich zu völlig unterschiedlichen Antworten, obwohl er eigentlich – und das ist der Irrglaube vieler Juristen – nur einen objektiven Lebenssachverhalt neutral und unbeeinflusst wiedergeben soll, wie ein damaliges Foto, das quasi damals festgehalten wurde. Das ist dann natürlich auch bei der Stellung des Zeugen zu erkennen, warum er auf Fragen des Gerichts oder Staatsanwalts anders reagiert als auf Fragen der Verteidigung oder des Angeklagten: Wenn in seiner Vorstellungswelt die einen die Guten und die anderen die Bösen sind, werden natürlich die Fragen entsprechend eingeordnet und eine offene Haltung oder eine Abwehrhaltung eingenommen, so dass die wörtlich gleiche Frage zu unterschiedlichen Antworten führen kann, weil der Befragte anders interpretiert. Deswegen ist es so verwunderlich, dass in manchem Gerichtssaal Fragen als unzulässig beanstandet werden, weil einer der vorhergehenden Fragesteller sie schon stellte... es wäre doch sehr spannend zu erkennen, ob dieselbe Frage von dem Zeugen nun anders beantwortet wird…

Aber selbst wenn also der Zeuge unbeeinflusst über all die Jahre gewesen wäre, hat er sich im Regelfall mit der Ladung zum Termin auf die Zeugenaussage vorbereitet, in dem er sich fragte, warum er geladen wird und worum es eigentlich geht und was er dazu wohl sagen könne und spätestens mit der Fragetechnik beginnen weitere Modifikationen und Manipulationen an seiner Aussage. Die behördlichen Zeugen, die allerdings hier über Tage und Wochen die Akten lesen, vielleicht mit Kollegen oder Vorgesetzten über den Sachverhalt sprechen und sich über Tage und Wochen mit diesem Alt-Sachverhalt beschäftigen, können unmöglich differenzieren, was sie damals erlebt haben und sich nun wieder angelesen haben oder durch Rückfragen bei beim Chef neuerlernt

haben. Sie können dann nur aufgrund der Funktionsweise des Gehirns die aktuelle letzte Version als optimale Version darstellen.

Es gibt aber auch die Gegenmeinung, die die Vernehmung von behördlichen Zeugen grundsätzlich für unproblematisch hält, und sinngemäß argumentiert, dass es "gefestigter Rechtsprechung entspricht", dass Zeugen ihre Erinnerung anhand vorhandener Unterlagen aufzufrischen haben (§§ 48, 69 StPO, vgl. nur BGH St, 1, 5, 8; BGHSt 51, 298-317, Rz 58 – juris) und nachsetzen: liest ein Polizeibeamter oder behördlicher Zeuge zur Vorbereitung seiner Aussage bei Gericht die Akte(n) vorher nicht, verletzt er seine Zeugenpflichten (vgl. zu alledem: Meyer-Goßner/ Schmitt , StPO, 57. A., § 69 Rz. 8). Und das wäre nicht im Sinne der Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO), denn die Erforschung des wahren Sachverhalts, ohne den das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann, ist das zentrale Anliegen des Strafprozesses (BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 1981 – 2 BvR 215/81 –, BVerfGE 57, 250-295). Dann fragt sich wieder, warum der normale Zeuge die Akten vorher nicht lesen darf und warum hierbei die hier dargelegten Probleme der Gedächtnismanipulation durch Nachlesen des Sachverhaltes und mehrstündige und mehrtätige Vorbereitung auf die Vernehmung nicht reflektiert wird.[13] Sind behördliche Zeugen mit einem anderen Gehirn ausgestattet? Erfolgen bei denen nicht die Überlagerungen durch neu Angelesenes und die Einordnung des Erlebten in den Inhalt der Akte? Wird bei denen nicht auch automatisch deren Erinnerung an den main stream der Akte angepasst und durch Selbsteinredung die eigene Erinnerung solange angepasst, bis sie zu dem Ermittlungsergebnis passt? Können sich die behördlichen Zeugen den normalen Informationsverarbeitungsprozessen entziehen? können die auf der Polizeischule und im Finanzamt lernen, die eigenen Gehirnprozesse zu filetieren und sich den üblichen Lernprozessen und Arbeitsweisen des Gehirns entziehen? Und wenn ja, wo lernt man das? Welche Ausbildungsgänge absolvieren die behördlichen Zeugen hierfür und wie bestehen sie die Prüfungen? Gibt es da nicht auch starke und schwache Absolventen? Muss man dies dann nicht bei der Vernehmung dieser behördlichen Zeugen erfragen, um den Vermischungsgehalt des Erlebten vom Erlernten zu differenzieren? Und da es ureigenste Aufgabe des Richters sein soll, die Glaubwürdigkeit eines Zeugen zu befragen – wie kann das alles der Richter wissen, erfragen und würdigen, und wo lernt er das im Studium und in der Ausbildung? Bisle hält die Vernehmung von Steuerfahndern für "zulässig und zumeist auch für sinnvoll. Die Verteidigung muss in diesen Fällen allerdings darauf achten, dass das Gericht strikt zwischen der Aufklärung des Sachverhalts und der Klärung von Rechtsfragen unterscheidet (iura novit curia). Unzulässig ist es jedenfalls, den Steuerfahnder zum Sachverständigen für steuerrechtliche Fragen heranzuziehen, der dem Gericht die Steuerverkürzung anhand der speziellen steuerlichen Vorschriften erklärt". Insofern liegt dann nach Auffassung von Bisle " regelmäßig ein Beweiswürdigungsfehler vor".[14]

Dann gibt es immer wieder Gerichte, oder genauer gesagt Richter, die glauben, durch geschickte Befragungen das Erlernte von dem damals Erlebten herausfiltern zu können. Das ist nicht nur Selbstherrlichkeit und Selbstüberschätzung einiger Juristen, die glauben Gehirnfunktionen austricksen, ausermitteln und erkennen zu können, das gipfelt in einem Unverständnis der menschlichen Gehirnfunktionen, die sich nicht auseinanderdividieren lassen. Das ist eine Arroganz gegenüber den Erkenntnissen aus der Hirnforschung und Nicht-Wahrnehmung der menschlichen Funktionsweisen des Gehirns.

Und natürlich kann das kein Richter herausfinden und natürlich auch kein Zeuge sich erinnern und erklären, welchen Inhalt er zuerst erlebte und wie und durch was sich seine aktuelle Version wie veränderte. Der Zeuge müsste dann wie einen Zeitraffer jede Modifikation seiner Lernphasen zu dem Thema festhalten und getrennt wiedergeben können, wann er was erfuhr, später weitere Details dazu lernte und was wie sein Erinnerungsvermögen beeinflusste und modifizierte… 1.000 und mehr Zeitrafferaufnahmen mit Ort, Zeit und Datum, was wie sein Erinnerungsvermögen und die heutige Version beeinflusste oder auch nur beeinflusst habe könnte…

Dies führt natürlich auf die Frage zurück, inwieweit die behördlichen Zeugen sich durch die Anweisung,[15] die Akten erneut komplett durchzulesen und sich auf die Vernehmung entsprechend vorzubereiten, sich nicht selbst ins Abseits stellen. Mit dieser Dienstanweisung, die Akten auswendig zu lernen und sich vorzubereiten, nicht vorsätzlich die Zeugen kaputt gemacht werden, da sie keine Zeugen dann mehr sind, sondern nur Aktenreferenten, die den jüngst erlesenen Sachverhalt berichten, aber Detailschritte aufgrund der Funktionsweise ihres

Gehirns natürlich nicht mehr auseinanderhalten können. Der Versuch der Verwaltung, diese Zeugen als ideale Zeugen darzustellen, ist natürlich absurd. Sie sind genauso Menschen wie jeder andere und das natürliche Vergessen bzw. auf das natürliche Modifizieren der erlebten Wirklichkeit durch neue ergänzende Informationen funktioniert bei diesen natürlich genauso wie bei jedem anderen Menschen auch. Es wäre ja geradezu schlimm, wenn die Beamten geistig nicht normal funktionieren würden und nicht weiter lernen könnten, sondern auf dem einmal Erlebten stehen bleiben würden. Sie haben natürlich grundsätzlich die gleiche Intelligenz und die gleichen menschlichen Gehirn-Mechanismen wie jeder andere Mensch auch. Vielleicht sogar noch bessere, deswegen sind sie Beamte geworden. Dann funktioniert die Arbeit dieser Optimierung und der Überschreibungsprozess des alten mit dem neuen noch besser. Umso gefährlicher ist es, wenn Sie die Akte dann noch einmal lesen, mit anderen sprechen und den Sachverhalt dann in einer neuen optimierten anderen Version abspeichern als in der ursprünglich erlebten. Damit aber sind sie eben per se keine tauglichen Zeugen mehr und spätestens mit der Aktenlektüre machen Sie ihren eigenen damaligen Wissensstand kaputt – ohnedies zu wissen und zu wollen – aber das ist eben die ganz natürliche menschliche Gehirn-Funktionsweise. Allein, um diese Prozesse deutlich zum Ausdruck zu bringen und dieses unzulässige Verhalten von Behörden-Zeugen endlich abzustellen, macht es natürlich nicht nur Sinn, sondern ist es meines Erachtens verpflichtend, darauf aufmerksam zu machen, dass dies keine echten Zeugen sind, sondern Referenten. Die Vernehmung eines Referenten sieht die StPO allerdings nicht vor. Daher muss ein Widerspruch gegen die Vernehmung eines solchen Referenten eingelegt werden. Der fragliche Sachverhalt kann natürlich auch anders in das Verfahren eingebracht werden, ohne dass solche manipulierten Referentenvorträge in Form von Schein-Zeugenvernehmungen den Prozessbeteiligten, dem Angeklagten und der Öffentlichkeit vorgegaukelt werden.

Bemerkenswert sind auch die Unterschiede, wenn ein Zeuge abliest: bei Behördenzeugen wird das als angeblich normal dargestellt, weil er sich Details nicht merken könne oder so viele Fälle hat, dass dies angeblich nur so geht. Bei den normalen Zeugen wird ein Ablesen im Regelfall unterbunden, da er sich selbst erinnern können muss und ein Vergessen ganz normal ist. Damit misst die Justiz mit zweierlei Maß. Bei Behörden-Zeugen gehen Richter dann davon aus, dass man irgendwie den Sachverhalt aufgrund des Mündlichkeitsgrundsatzes in das Verfahren einbringen müsse, während bei den normalen Zeugen eben ein Vergessen schulterzuckend als normal abgetan wird und dann der Beweis eben nicht durch diesen Zeugen erbracht werden kann. Da ist die Beweiserhebung schon von vornherein manipulativ und misst mit unterschiedlichen Maßstäben.

Und dann beginnt dauernd das Gezeter, wenn ein Zeuge abliest … von seinen Unterlagen … aber die behördlichen Zeugen lesen doch quasi auch den Akteninhalt vor – nicht direkt, aber sie haben ihn vorher auswendig gelernt und beten ihn dann aus dem ff herunter … Teilweise nehmen sie auch ihre Behördenakten dann in der mündlichen Verhandlung ganz offen hervor – das wird in der Gerichtspraxis als normal angesehen während dies der normale Zeuge eben gerade nicht machen darf. Mit der Gerechtigkeit ist das also schon auch in der Beweisaufnahme bei den Zeugenvernehmungen von vornherein sehr problematisch. Und die Verfahren entwickeln sich schon bei diesen unterschiedlichen Zeugenbehandlungen hinsichtlich des Beweisergebnisses sehr unterschiedlich und willkürlich. Es re ntiert sich hier über die Gerichtspraxis weiter nachzudenken und diese Willkür und diese Missstände abzustellen. Es geht schon so los, dass die Fragestellungen nicht protokolliert werden und der Wortlaut der Zeugenaussagen nicht protokolliert wird. Jeder im Gerichtssaal vernimmt seine subjektive Wahrheit, die keineswegs identisch sein muss mit dem, was die anderen gehört, gesehen, kurzum erlebt haben. Das erklärt dann auch die subjektiv unterschiedliche Wahrnehmung, weil natürlich der Zuhörer zwar die Aussage des Zeugen genauso zu dem eigenen Vorwissen dieser neuen Informationen hinzu nimmt und dann neu ablegt, was ein neues Gesamtbild bei dem jeweiligen Zuhörer gibt, das natürlich nicht deckungsgleich mit dem Vorwissen und der Wahrnehmung des nächsten Zuhörers ist. Daher haben dann im Gerichtssaal vielleicht 3, 5 oder 8 Personen die Zeugenvernehmung erlebt, aber unterschiedlich wahrgenommen, die Aussage dann mit dem jeweils bereits vorhandenen Wissen unterschiedlich verknüpft und auf unterschiedliche Schwerpunkte geachtet wurde und bestimmte aus ihrer Sicht signifikante Teile herausgehört. Das führt dazu, dass die gleiche Aussage je nach Vorprägung und vorgefasster Einstellung einen unterschiedlichen Inhalt angeblich hatte – also nur unterschiedlich wahrgenommen wird.

Noch schwieriger ist es eigentlich bei professionellen Behördenzeugen, die "dauernd" gleichförmige Sachverhalte erleben. Das Klischeedenken und das Erfahrungswissen von dem tatsächlich Erlebten im Einzelfall zu trennen, ist für das menschliche Gehirn auch dieser Zeugen kaum möglich, wenn nicht ganz besondere Umstände hinzutreten, warum sich der Beamte ausgerechnet an diesen Fall erinnern kann. Aber auch da finden natürlich dauernd Überlagerungen und Neuinformationen aufgrund hinzukommender neuer Erkenntnisse aus anderen und ähnlichen Fällen statt …

Zu Recht erhebt Hof schwerwiegende Bedenken gegen die Funktion der behördlichen "Zeugen" als Zeugen im Sinne der StPO. Er schreibt: "Bei Polizeizeugen bestehen Bedenken schon hinsichtlich der Wahrnehmung, diese setzen sich fort bei der Abspeicherung von Wahrnehmungen in der Erinnerung und der Kundgabe dieser Umstände in der Hauptverhandlung aus eigener Erinnerung, insbesondere, wenn der Zeuge sich durch Aktenlektüre vorbereitet hat oder diesem die Akte vorgehalten wird. Damit kann jedes einzelne Definitionsmerkmal von Polizeizeugen im Einzelfall nicht erfüllt sein. Sagen Polizeibeamte vor Gericht aus, stellt dies daher an das Gericht entgegen noch verbreiteter Auffassung nicht geringere, sondern höhere Anforderungen bei der Beweisaufnahme und -würdigung als bei anderen Zeugen, wenn deren Aussagen Grundlage des Urteils werden sollen."[16]

Hofs Folgerungen sind zutreffend. Er führt wörtlich aus: "In vielen Fällen dürfte den Aussagen der Polizeizeugen

nur ein geringer Beweiswert zuzusprechen sein. Für die ihnen von Gerichten zugesprochenen besonderen Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeiten gibt es keine kognitionswissenschaftliche Bestätigung. Entsprechende gerichtliche Feststellungen sollten daher unterbleiben oder mit Rechtsmitteln angegriffen werden."

Er hat damit völlig Recht. Die behördlichen Zeugen sind keine Zeugen im Sinne der StPO. Die Einführung von Sachverhalten durch Steufa, Zollfahnder im Rahmen von angeblichen Zeugenbefragungen sind in Wahrheit Aktenvorträge, die die StPO nicht kennt.

Da hilft nach der von BGH vertretenden Doktrin nur die Widerspruchslösung. Es bleibt zu hoffen, dass bald Fälle zum BGH dieser Art kommen, damit er Gelegenheit erhält, mit dieser Mogelpackung der angeblichen Zeugenvernehmung von behördlichen "Zeugen" aufzuräumen.

So könnte ein Widerspruch gegen die Vernehmung des behördlichen Zeugen aussehen:

"In dem Strafverfahren widerspreche ich der

Vernehmung der Zeugin …

HZA Karlsruhe

Begründung:

Die sog. "Zeugin" hat die Akte des Vorverfahrens zur Verfügung und sie hat sich weisungsgemäß auf das heutige Verfahren und auf ihre Aussage durch Lektüre der Akte vorbereitet. Damit aber erbringt sie keine Zeugenleistung, sondern repetiert lediglich das erst in den letzten Tagen sich wieder Angelesene.

Da eine Trennung zwischen wirklicher eigener Erinnerung und dem Angelesenen nicht möglich ist, sind es keine Erinnerungen, die sie als Zeugin darlegt, sondern optimiertes vermischtes erlerntes Wissen aus den Akten, kurzum Aktenvorträge. Dies aber sieht die StPO nicht vor (vgl. Hof , HRRS 2015, 277 ff.). Die Einführung von Akteninhalten durch eine Art Aktenvortrag eines Referenten ist der StPO fremd und weder ein zulässiges Beweismittel, noch entspricht es dem Unmittelbarkeitsgrundsatz.

Die Annahme, der Richter könne das herausfiltern, was angelesen, von Kollegen gehört und selbst erlernt ist, ist ein Irrglaube, da es den Funktionsweisen des menschlichen Gehirns zuwiderläuft, diese einzelnen Lern- und Erfassungsschritte extrahieren und separieren zu können.

Ich widerspreche daher der falschen Verfahrensführung und der unzulässigen Beweiserhebung, die in Wahrheit nur eine Art Aktenvorträge durch den Referenten sind. Eine Zeugin ist das jedenfalls nicht. Zumal der Referent den Sachverhalt nicht selbst miterlebt hat, sondern allenfalls Teile davon nachträglich erlernt oder erforscht und ermittelt zu haben glaubt. Einen Aktenvortrag oder eine Schilderung eines Ermittlers, der noch unbestimmter und unvollständiger und unzuverlässiger den Sachverhalt in Erfahrung gebracht hat, also ein Zeuge vom Hörensagen, sieht die StPO nicht vor."


[1] Die Polizeibeamten haben die Pflicht, sich auf ihre Aussage vor Gericht gründlich vorzubereiten. Dazu ist ein Studium der entsprechenden Akten notwendig. Zudem sollte der Beamte über frühere Wahrnehmungen zur Tat mithilfe von Auszeichnungen berichten, damit seine Erinnerungen aufgefrischt werden. Sollte die Vorbereitung auf die Aussage nicht gründlich genug erfolgen, kann der Beamte auch zur Verantwortung gezogen zu werden. Das Oberlandesgericht Köln verwies in einem Urteil die Beamten auf ihre Vorbereitungspflicht. Ein Zeuge müsse sich, wenn er unter Eid stehen würde, bestimmter Hilfsmittel bedienen und auch Gedächtnishilfen benutzen. Jedoch wird die Vorbereitungspflicht durch ein Studium von Akten in der Literatur auch kritisiert. Jedoch sei ein Beamter ohne eine gezielte Vorbereitung auf seine Aussage nicht genug vorbereitet. Denn das Studium der Akten helfe dem Beamten, sich an bestimmte Sachverhalte wieder zu erinnern, denn eine wichtige Rolle spiele auch die Erinnerungsfähigkeit. Manchmal fehle diese deswegen, weil der Vorfall bereits eine lange Zeit zurückliegen kann. Quelle: https://www.beamtenbesoldung.org/polizeibeamte/als-zeuge.html

[2] Teilweise wird behauptet, der Polizeibeamte habe eine Pflicht zur Vorbereitung auf seine Aussage in der Hauptverhandlung durch ein vorheriges Aktenstudium vor (Vgl. Eisenberg, Persönliche Beweismittel in der StPO, S. 301; Artkämper, Polizeibeamte als Zeugen vor Gericht, S. 10.) Die Verwässerung und Manipulation seines ursprünglichen Wissens durch die Lektüre der Akte und die Veränderung seines ursprünglichen Wissens und auch des natürlichen Vergessens wird bei solchen Meinungsvertretern weder gesehen noch erörtert. Wie kann ein behördlicher Zeuge sich nach Jahren noch an einen x-beliebigen Fall erinnern? Müsste nicht seine Aussage so lauten, dass er so viele und vor allem ähnliche und gleichgelagerte Fälle hatte, dass er nicht mehr oder nicht mehr genau weiß, was er bei der Durchsuchung vor 5 Jahren in dem Haus des Steuerpflichtigen sah? Vielleicht kann er sich an wenige herausragende Details erinnern, vielleicht auch, dass er ein Schwarzbuch suchen sollte, es nicht fand oder es da oder dort fand, wie es aussah – aber Details? Stattdessen kommen nach Aktenlektüre die Aussagen wie aus der Pistole geschossen, als wäre die Durchsuchung vorgestern gewesen. Ist das nicht ein lächerliches Theater, was uns allen da im Gerichtssaal vorgegaukelt wird? Das soll Wahrheitsfindung in einem modernen Rechtsstaat sein? Von Amts wegen manipulierte Zeugen zur Wahrheitsfindung? Was ist Wahrheit? Was ist Show? Und warum dürfen dann die normalen Zeugen nicht auch die Akte vorher lesen? Die Anhänger dieser Auffassung, dass sich die behördlichen Zeugen vorbereiten dürfen oder gar müssen, haben wohl ein merkwürdiges Bild vom Zeugen und von Zeugenbeeinflussungen und setzen sich auch nicht damit auseinander, warum es dem "normalen" Zeugen verwehrt sein soll, den Sachverhalt etwa durch Aktenlektüre vorher noch mal zu vervollständigen. Beantragen Sie doch mal als Zeuge in einem Strafverfahren Akteneinsicht, damit Sie sich auf Ihre Zeugenaussage wie die behördlichen Zeugen auch vorbereiten können. Immerhin haben Sie als normaler Zeuge dieselben Rechte und Pflichten wie der behördliche Zeuge und können sich bei einer Falschaussage genauso strafbar machen, wie der behördliche Zeuge. Die Rechtsprechung unterstreicht die angebliche bedenkenlose Zulässigkeit von der Vernehmung von Behördenzeugen in diversen Urteilen – reflektiert aber die Ungleichbehandlungen zu normalen Zeugen und die Probleme durch die Manipulationen der gespeicherten Erinnerungen durch das Aktenlesen nicht. Es wird bei den Autoren, die die Vernehmung der behördlichen Zeugen nach Aktenlektüre bejahen nicht einmal das Problem erkannt, geschweige denn diskutiert – sie behaupten nur begründungslos und unreflektiert die Zulässigkeit. So stellte der BGH bereits 1950 fest, dass für den Polizeibeamten, der über Wahrnehmungen aussagen soll, die er in amtlicher Eigenschaft gemacht hat, die Pflicht besteht, sich früherer Aufzeichnungen als Gedächtnisstützen zu bedienen, um sein Erinnerungsbild aufzufrischen und gegebenenfalls zu berichtigen. Kommt der Zeuge dem nicht nach, setzt er sich sogar der Gefahr aus, wegen fahrlässigen Falscheides zur Verantwortung gezogen zu werden (vgl. BGHSt 1, 5, 8).

Auch das OLG Köln spricht dem Polizeibeamten eine Vorbereitungspflicht zu. Der Zeuge habe "die sich ihm bei der Eidesleistung darbietenden Anhaltspunkte und Hilfsmittel zur etwaigen Berichtigung seiner Vorstellungen benutzen und – soweit solche äußeren Hilfsmittel zur Änderung des Vorstellungsbildes zur Verfügung stehen – er sich ihrer bedienen muss und Gedächtnishilfen nicht außer Acht lassen darf." OLG Köln, in NJW 1966, 1420. Aber das Problem einer auch uneidlichen Falschaussage und der Strafbarkeit haben doch schließlich alle Zeugen – nicht nur die behördlichen. Das kann also nicht wirklich der Grund für die einseitige Verpflichtung der Behördenzeugen sein, sich vor der Vernehmung durch Aktenlektüre vorzubereiten.

[3] BGHSt 3, 386, 388.

[4] Krehl NStZ 1991, 416.

[5] Hof Polizeizeugen – Zeugen im Sinne der StPO?, HRRS 2015, 277.

[6] Jahn : Grundlagen der Beweiswürdigung und Glaubhaftigkeitsbeurteilung im Strafverfahren. Universität Frankfurt , S. 7, https://www.jura.uni-frankfurt.de/55029767/Glaubhaftigkeitsbeurteilung.pdf .

[7] Jahn: Grundlagen der Beweiswürdigung und Glaubhaftigkeitsbeurteilung im Strafverfahren. Universität Frankfurt , S. 10, https://www.jura.uni-frankfurt.de/55029767/Glaubhaftigkeitsbeurteilung.pdf .

[8] Jahn : Grundlagen der Beweiswürdigung und Glaubhaftigkeitsbeurteilung im Strafverfahren. Universität Frankfurt , S. 11, https://www.jura.uni-frankfurt.de/55029767/Glaubhaftigkeitsbeurteilung.pdf .

[9] Kammann , Polizeibeamte als Zeugen im Strafprozess. Spannungsfeld zwischen Verteidiger und polizeilichen Ermittlungen? 2012, S 22.

[10] Vgl. Artkämper , Polizeibeamte als Zeugen vor Gericht, S. 42.

[11] Interview mit Prof. Dr. Güntürkün , https://www.welt.de/regionales/nrw/article148824054/Wenn-die-Erinnerung-uns-einen-Streich-spielt.html

[12] Prof. Dr. Güntürkün im Gespräch mit Neuropsychologe Prof Dr. Axmacher , http://www.magazin.uni-mainz.de/4561_DEU_HTML.php

[13] Bisle PStR 2013, 70 (März/2013)= https://www.iww.de/pstr/schwerpunktthema/steuerstrafprozess-der-steuerfahnder-als-zeuge-in-der-hauptverhandlung-f64302 ; Jäger in Klein AO, 2012, § 407 Rz. 6.

[14] Bisle PStR 2013, 70 (März/2013)= https://www.iww.de/pstr/schwerpunktthema/steuerstrafprozess-der-steuerfahnder-als-zeuge-in-der-hauptverhandlung-f64302 ; ähnlich RAG Krumm : https://community.beck.de/2014/09/22/auch-der-bgh-geht-davon-aus-dass-polizeibeamte-vor-der-zeugenaussage-nat-rlich-ihre-unterlagen-lesen: Ein sicher kontrovers zu diskutierendes Thema ist die Frage, was eine Zeugenaussage eigentlich Wert ist, die nicht mehr tatsächlich auf eigener Erinnerung beruht, sondern vielmehr darauf, dass man vor langer Zeit erstellte Unterlagen liest. Hier ist es dann natürlich schwer abzugrenzen, was noch Erinnerung bzw. wiedergekehrte Erinnerung ist und was nur Wiedergabe von Akteninhalt. Gerade Polizeibeamte greifen auf alte Unterlagen zurück – dies ist angesichts der Anzahl ihrer Vernehmungen meist auch gar nicht verwunderlich. Der BGH hält das auch nicht für anrüchig, sondern für normal: Denn es liegt nahe anzunehmen, dass Polizeibeamte, die sich erfahrungsgemäß im Wege der vorherigen Durchsicht ihrer Ermittlungsunterlagen auf ihre Vernehmung intensiv vorbereiten, sich an Einzelheiten erinnern können und ihnen die entscheidenden Passagen wörtlich präsent sind (BGH, Beschluss vom 9. Mai 2001 – 2 StR 111/01, BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 39), BGH, Urteil vom 17.7.2014 – 4 StR 78/14

[15] Ein Dienstvergehen liegt vor, wenn eine Beamtin oder ein Beamter schuldhaft seine Pflichten verletzt (§ 47 Abs. 1 Satz BeamtStG, § 77 Abs. 1 Satz 1 BBG), sich also an behördliche Anordnungen nicht hält.

[16] Hof HRRS 2015, 277 ff.