HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2020
21. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Zur Entnahme von Geldscheinen aus dem Ausgabefach eines Geldautomaten nach Ablenkung des Kunden

Zugleich Anmerkung zu BGH 3 StR 333/18 = HRRS 2019 Nr. 917

Von Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Paul Waßmer, Universität zu Köln

In dem Anfragebeschluss des 3. Strafsenates des BGH vom 21.03.2019 geht es um eine "Masche" in Zusammenhang mit Abhebevorgängen an Geldautomaten, die der Senat – rechtlich abweichend von einem Beschluss des 2. Strafsenats des BGH vom 16.11.2017[1] – als Diebstahl bzw. Raub bewerten will.

I. Die "Masche"

In den einschlägigen Fällen warten die Täter in der Nähe eines Geldautomaten darauf, dass ein Kunde seine Bankkarte nebst PIN eingegeben hat. Anschließend lenkt ein Täter den Kunden ab, indem er ihn anspricht und ihm z.B. Prospekte anbietet. Währenddessen gibt der andere Täter von dem Kunden unbemerkt einen möglichst hohen

Auszahlungsbetrag ein und entnimmt dann die in das Ausgabefach transportierten Geldscheine. Ein gewaltsames Vorgehen ist zwar regelmäßig nicht geplant, gelegentlich aber dennoch zu beobachten. In der Praxis ist diese Masche nicht ganz neu,[2] aber weiterhin verbreitet.

II. Die rechtliche Einordnung

Umstritten ist, ob rechtlich (nur) eine Unterschlagung (§ 246 I StGB) bzw. – in Fällen der Gewaltanwendung – eine räuberische Erpressung (§ 255 StGB) oder aber ein Diebstahl (§ 242 StGB) bzw. ein Raub (§ 249 StGB) vorliegt. Letzteres setzt die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache voraus.

1. Die (zivilrechtliche) Eigentumsfrage

Sowohl der 2.[3] als auch der 3. Strafsenat (Rn. 7) gehen zunächst übereinstimmend davon aus, dass es sich bei den zur Entnahme im Ausgabefach bereit liegenden Geldscheinen um bewegliche Sachen handelt, die im Eigentum des Geldinstitutes stehen und daher für die Täter fremd sind. Die Geldscheine werden nicht etwa an den Täter übereignet, der die Scheine dem Ausgabefach entnimmt, sondern verbleiben im Eigentum des Geldinstitutes. Diese Sichtweise entspricht der gesicherten Rechtsprechung der Strafsenate.[4]

Maßgebend hierfür ist, dass mit dem Ausgabevorgang ein Einigungsangebot des Geldinstitutes verbunden ist, das sich ausschließlich an den berechtigten Benutzer des Geldautomaten richtet:[5] Das Geldinstitut nimmt den Automatenmissbrauch durch Unbefugte lediglich in Kauf, um die Geldausgabe an Berechtigte automatisieren zu können (Rn. 9). Für diese Auslegung der konkludent abgegebenen Erklärung des Geldinstituts spricht auch, dass ein rechtsgeschäftliches Angebot zur Eigentumsübertragung an einen Unbefugten die unberechtigte Erlangung des Besitzes am Geld vergrößern bzw. vertiefen würde – dies würde aber gegen die Schutzpflichten aus dem Vertrag mit dem Kontoinhaber verstoßen (Rn. 9). Das Geldinstitut hat damit keinen Anlass, das Geld einem unberechtigten Benutzer zu übereignen. Folge ist, dass der Berechtigte, d.h. der Kontoinhaber, das Übereignungsangebot nicht annehmen kann, weil er von der Entgegennahme des Geldes abgehalten wird (Rn. 10).

2. Die (strafrechtliche) Gewahrsamsfrage

Unterschiedlich wird hingegen von den beiden Senaten die Frage beurteilt, ob eine Wegnahme möglich ist.

Der 2. Strafsenat hatte in dem ihm vorliegenden Fall entschieden, die tatsächliche Ausgabe des Geldes erfolge, da der Geldautomat technisch ordnungsgemäß bedient wird, mit Willen des Geldinstituts; der Gewahrsam werde daher nicht gebrochen.[6] Damit knüpfte der Senat an die Rechtsprechung zur ordnungsgemäßen Bedienung eines Geldautomaten durch Nichtberechtigte[7] an, die im Schrifttum auf breite Zustimmung[8] gestoßen ist. Danach ist für die Gewahrsamsübertragung auf die ordnungsgemäße Bedienung des Geldautomaten abzustellen. Ob es sich hierbei um den materiell Berechtigten handelt, spielt keine Rolle, da die Preisgabe des Gewahrsams – anders als das rechtsgeschäftliche Angebot an den Kontoinhaber auf Übereignung – ein tatsächlicher Vorgang ist. Damit wurde in dem Fall eine räuberische Erpressung (§§ 253 I, II, 255 StGB) angenommen.

Diese Argumentation greift aber nach Auffassung des 3. Strafsenats zu kurz, wie er in seinem Anfragebeschluss – unter Bezugnahme auf die Kritik von El-Ghazi und Busching[9] an der Entscheidung des 2. Strafsenats des BGH vom 16.11.2017 – darlegt. Der Senat begründet dies mit zwei Überlegungen, die an den Gewahrsam und die Gewahrsamsübertragung anknüpfen:

Erstens richte sich die Frage, wer den Gewahrsam – verstanden als die von einem Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft – innehabe, gemäß der ständigen Rechtsprechung[10] nach den Umständen des Einzelfalls und den Anschauungen des täglichen Lebens: Solange der Gewahrsamsinhaber noch eine Einwirkungsmöglichkeit auf die Sache habe, bestehe ein einmal begründeter Gewahrsam fort, sei lediglich "gelockert" (Rn. 12). Und genauso verhalte es sich wegen der Besonderheiten des Ausgabevorganges in den fraglichen Fällen. Die Geldautomaten seien so programmiert, dass die Geldscheine wieder eingezogen werden und das Ausgabefach geschlossen wird, wenn das Geld nicht innerhalb einer vordefinierten Zeitspanne entnommen wird (Rn. 13). Der Gewahrsam an den Geldscheinen bestehe daher während der Zeitspanne, in der sich die Geldscheine im Ausgabefach befinden, fort. Diesen Gewahrsam könne der Täter brechen, indem er die Geldscheine entnimmt (Rn. 15 ).

Zweitens geht der 3. Strafsenat für die Gewahrsamsübertragung in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung[11] zwar davon aus, dass es bei der automatisierten Geldausgabe dem Willen des Geldinstituts entspricht, den Gewahrsam an den Geldscheinen demjenigen zu übertragen, der den Geldautomaten technisch ordnungsgemäß bedient (Rn. 16). Allerdings nimmt der Senat an, dass das Einverständnis in personeller Hinsicht auf diejenige Person beschränkt ist, die sich (mittels Eingabe von Bankkarte und zugehöriger PIN) legitimiert hat (Rn. 18). Mit dieser Einschränkung weicht der 3. Strafsenat von der Rechtsprechung des 2. Strafsenates ab. Der Senat begründet seine

Auffassung damit, es sei anerkannt, dass auch der tatsächliche, auf eine Gewahrsamsübertragung gerichtete Wille an äußerlich erkennbare Bedingungen geknüpft sein könne (Rn. 17 ). In diesem Sinne hatten zuvor El-Ghazi und Busching[12] argumentiert, das Einverständnis des bisherigen Gewahrsamsinhabers könne bestimmten Personen erkennbar erteilt und anderen verweigert werden. Nach Auffassung des 3. Strafsenates ändert sich die Bewertung auch nicht dadurch, dass eine andere Person den auszuzahlenden Geldbetrag eingeben hatte. Denn das Eingeben des Geldbetrages diene nicht der Legitimation, sondern nur der zweckmäßigen Abwicklung der funktionsgerecht in Gang gesetzten Geldausgabe (Rn. 20).

3. Bewertung

Dreh- und Angelpunkt der zu beantwortenden Rechtsfrage ist, welchen Inhalt der antizipierte Wille des Geldinstitutes zur Gewahrsamsübertragung hat. Denn das Einverständnis des bisherigen Gewahrsamsinhabers ist nicht bedingungsfeindlich, sondern kann an Bedingungen geknüpft sein. Diese Prämisse ist, wie Schmitz[13] anführt, im Grundsatz unstreitig und gerade bei der Benutzung von Automaten von großer Bedeutung. Wegen des faktischen Charakters des Einverständnisses kommen jedoch für die Bestimmung des Willens nur objektive, äußerlich klar erkennbare Umstände in Betracht.[14] Diese müssen einen Bezug zur technischen Ausgestaltung und Bedienung des Automaten haben, um vorhersehbar zu sein und damit dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot zu genügen.[15] Nicht erkennbare subjektive Absichten oder Motive können deshalb nicht von Bedeutung sein.

Stellt man – wie der 2. Strafsenat – darauf ab, dass im Falle der technisch ordnungsgemäßen Bedienung des Geldautomaten gewissermaßen an jede Person, die in das Ausgabefach mit den Geldscheinen hineingreift, der Gewahrsam übertragen werden soll, scheidet ein Gewahrsamsbruch aus. Denn der Geldautomat wurde technisch ordnungsgemäß bedient. Es wurde nicht nur die Bankkarte nebst der korrekten PIN, sondern auch ein Abhebebetrag ordnungsgemäß eingegeben und damit die Ausgabe der Geldscheine ausgelöst.

Gegen diese Sichtweise spricht aber, dass der Wille des Geldinstitutes – wie der 3. Strafsenat überzeugend annimmt – gerade dahin geht, dass nicht an jede Person, die in das Ausgabefach hineingreift, der Gewahrsam an den Geldscheinen übertragen werden soll. Vielmehr will das Geldinstitut nur an diejenige Person, die den Auszahlungsvorgang technisch ordnungsgemäß einleitet, indem sie sich durch Karte und PIN erfolgreich legitimiert hat, den Gewahrsam übertragen, sofern ein Auszahlungsbetrag eingegeben wird. Eine Übertragung an eine andere Person entspräche allenfalls dann dem antizipierten Willen des Geldinstitutes, wenn die Geldscheine mit dem erkennbaren Einverständnis des Kunden durch eine Begleitperson dem Ausgabefach entnommen würden.[16] Dass für den Willen zur Übertragung allein die technisch ordnungsgemäße Legitimation mit Karte und PIN maßgebend ist, wird auch daran sichtbar, dass an manchen Automaten nach der Eingabe der Bankkarte – umgekehrt – zunächst der Abhebebetrag ausgewählt werden muss. Erst im Anschluss ist die PIN einzugeben, woraufhin bei erfolgreicher Legitimation die Geldscheine in das Ausgabefach transportiert werden.

Diese Bedingung, an die das Geldinstitut die Gewahrsamsübertragung knüpft, ist äußerlich erkennbar. Außerdem entspricht sie der Verkehrsanschauung[17] bzw. den "Anschauungen des täglichen Lebens",[18] die bereits für den Begriff des Gewahrsams maßgebend sind, aber auch für Folgefragen Bedeutung haben. Mithin ist die Restriktion sowohl vorhersehbar als auch nachvollziehbar.[19] Dass eine andere Person den Ausgabebetrag eingibt und damit den Abhebevorgang abschließt, ist demgegenüber ohne Bedeutung. Hierdurch wird der antizipierte Wille des Geldinstitutes, an diejenige Person auszuzahlen, die sich technisch ordnungsgemäß legitimiert hat, nicht geändert.

Gegen die Argumentation des 3. Strafsenates kann nicht eingewandt werden, die Erstreckung des antizipierten Einverständnisses gehe zu weit, da die Entgegennahme des Geldes überwiegend in die Sphäre der Person falle, die den Automaten bedient.[20] Denn es geht nicht um die (rechtliche) Abschichtung von Risikosphären, sondern darum, welchen äußerlich erkennbaren Inhalt der (tatsächliche) Wille des Geldinstitutes hat. Diesbezüglich ist der 3. Strafsenat mit Recht von einer personellen Restriktion ausgegangen. Diese Restriktion ist folgerichtig, sie bewegt sich im Rahmen der bisherigen Rechtsprechung zur Benutzung von Automaten und entwickelt diese fort. Auf unzulässige rechtliche Bedingungen (etwa die AGB des Geldinstitutes)[21] stellt der Senat gerade nicht ab.

III. Fazit

Die Sichtweise des 3. Strafsenats, welche die Kritik des Schrifttums an einer Entscheidung des 2. Strafsenates aufgreift, verdient Zustimmung. Sie ist als Fortentwicklung der Rechtsprechung zu Abhebevorgängen an Geldautomaten zu begreifen, da sie die personelle Reichweite eines antizipierten Einverständnisses berücksichtigt: Ein Geldinstitut will den Gewahrsam an den ins Ausgabefach transportierten Geldscheinen erkennbar nur an diejenige Person übertragen, die sich zuvor technisch ordnungsgemäß durch die Legitimation mittels Karte und PIN legitimiert hat. Damit ist in diesen Fällen eine Wegnahme möglich.


[1] BGH 16.11.2017 – 2 StR 154/17NJW 2018, 245 = HRRS 2018 Nr. 39 .

[2] Siehe z.B. bereits Meldung der "Welt" vom 20.07.2012, https://www.welt.de/regionales/duesseldorf/article108344791/Die-miesen-Tricks-der-Geldautomaten-Abzocker.html.

[3] BGH 16.11.2017 – 2 StR 154/17NJW 2018, 245 = HRRS 2018 Nr. 39 Rn. 8 .

[4] Siehe nur BGH 16.12.1987 – 3 StR 209/87 BGHSt 35, 152, 161 f.

[5] BGH 16.11.2017 – 2 StR 154/17NJW 2018, 245 = HRRS 2018 Nr. 39 Rn. 9.

[6] BGH NJW 2018, 245 = HRRS 2018 Nr. 39, Rn. 12.

[7] BGH 16.12.1987 – 3 StR 209/87BGHSt 35, 152 , 158 ff. ; BGH 22 . 11 . 1991 – 2 StR 376/91 – B GHSt 38, 120 , 122.

[8] Siehe nur NK-StGB/Kindhäuser, 5. Aufl. 2017, § 242 Rn. 51; MüKo-StGB/Schmitz, 3. Aufl. 2017, § 242 Rn. 104; ebenso Brand NJW 2018, 245, 246.

[9] El-Ghazi, jurisPR-StrafR 6/2018 Anm. 1; Busching, jurisPR-ITR 24/2018 Anm. 5.

[10] Siehe nur BGH 6.10.1961 – 2 StR 289/61BGHSt 16, 271, 273 f.

[11] BGH 16.12.1987 – 3 StR 209/87BGHSt 35, 152, 159 f.; BGH 22.11.1991 – 2 StR 376/91BGHSt 38, 120, 122 f.

[12] El-Ghazi, jurisPR-StrafR 6/2018 Anm. 1; Busching jurisPR-ITR 24/2018 Anm. 5.

[13] Schmitz, in Münchener Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2017, § 242 Rn. 99; siehe auch Kindhäuser, in: NomosKommentar StGB, § 242 Rn. 49; Rönnau, Zur Lehre vom bedingten Einverständnis, FS Roxin, 2011, S. 487 ff.

[14] Bosch; in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 242 Rn. 36a; Schmitz, in Münchener Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2017, § 242 Rn. 99; Vogel, in: Leipziger Kommentar StGB, Band 8, 12. Aufl. 2008, § 242 Rn. 114; kritisch zu diesem Maßstab Krell NStZ 2019, 728, 729.

[15] Schmitz, in Münchener Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2017, § 242 Rn. 99.

[16] So auch Jäger JA 2020, 66, 68.

[17] Kindhäuser, in: NomosKommentar StGB, § 242 Rn. 49.

[18] BGHSt 16, 271, 273.

[19] In diesem Sinne auch Krell NStZ 2019, 728, 729, 730.

[20] So aber NJW-Spezial 2019, 569.

[21] Jäger JA 2020, 66, 68.