HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2019
20. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

747. BVerfG 2 BvR 167/18 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. Juli 2019 (BGH / LG Meiningen)

Verfassungsmäßigkeit der ungleichartigen Wahlfeststellung (gesetzesalternative Verurteilung wegen gewerbsmäßig begangenen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei); Bestimmtheitsgebot (Verbot der Tatbestandsausweitung durch die Rechtsprechung; Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit; Institut der Wahlfeststellung als strafprozessuale Entscheidungsregel; keine Anwendung einer richterrechtlichen „dritten Norm“ mit gemeinsamem Unrechtskern; keine Verletzung des Grundsatzes „nulla poena sine lege“); Unschuldsvermutung (Rechtsstaatsprinzip; keine Strafe ohne Schuld; Grundsatz „in dubio pro reo“; kein Verdachtsurteil wegen Überzeugung des Gerichts von der Verwirklichung eines von mehreren in Betracht kommenden Straftatbeständen; Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs; Erfordernis der Vergleichbarkeit der Straftatbestände; einheitlicher Unrechts- und Schuldvorwurf); verfassungsrechtliche Schranken richterlicher Rechtsfortbildung (kein Eingriff in die Kompetenzen des Gesetzgebers; konkludente Billigung der Rechtsprechung zur Wahlfeststellung durch den Gesetzgeber); Zulässigkeit der Wahlfeststellung nur in Ausnahmefällen (Ausschöpfung aller verfügbaren Erkenntnisquellen; Darstellungsanforderungen im Urteil).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; § 242 Abs. 1 StGB; § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StGB; § 259 Abs. 1 StGB; § 260 Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 2b RStGB; § 267b RStPO

1. Die gesetzesalternative Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage wegen gewerbsmäßig begangenen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei verletzt weder das Bestimmtheitsgebot, noch die Unschuldsvermutung und wahrt die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (Bestätigung von BGH, Urteil vom 25. Oktober 2017 – 2 StR 495/12 – [= HRRS 2018 Nr. 56]).

2. Das Bestimmtheitsgebot stellt sicher, dass der Gesetzgeber selbst abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheidet, und verwehrt den Gerichten jede Rechtsanwendung, die tatbestandsausweitend über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Zugleich dient es der Rechtssicherheit und schützt das Vertrauen der Normadressaten, dass der Staat nur dasjenige Verhalten als strafbare Handlung verfolgt und bestraft, das zum Zeitpunkt der Tat gesetzlich bestimmt war.

3. Das richterrechtliche Institut der ungleichartigen Wahrfeststellung schließt keine materiell-rechtlichen Strafbarkeitslücken, sondern ermöglicht als dem Strafverfahrensrecht zuzuordnende Entscheidungsregel die Bewältigung verfahrensrechtlicher Erkenntnislücken, wenn nach abgeschlossener Beweiswürdigung die Feststellung einer bestimmten Tat wegen verbleibender Zweifel nicht möglich ist, aber sicher feststeht, dass sich der Angeklagte nach einem gesetzlichen Tatbestand strafbar gemacht hat.

4. Der Umstand, dass sich das Gericht nicht von der Richtigkeit einer Sachverhaltsvariante überzeugen kann, führt nicht zur Heranziehung einer außergesetzlichen, richterrechtlichen „dritten Norm“, welche die übereinstimmenden Unrechtselemente der Straftatbestände in einem gemeinsamen Unrechtskern in sich vereinigen würde (Ablehnung von BGH, Vorlagebeschluss vom 2. November 2016 – 2 StR 495/12 – [= HRRS 2017 Nr. 258]); denn die Überzeugung von der Verwirklichung eines gemeinsamen Unrechtskerns genügt für eine wahldeutige Verurteilung gerade nicht.

5. Weil das Tatgericht Art und Maß der Bestrafung dem gesetzlich normierten Straftatbestand entnimmt, der für den konkreten Fall die mildeste Bestrafung zulässt, verletzt die ungleichartige Wahlfeststellung auch nicht den das Bestimmtheitsgebot auf die Strafandrohung erstreckenden Grundsatz „nulla poena sine lege“.

6. Aus der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung, nach der keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf, folgt die Aufgabe des Strafprozesses, den Strafanspruch des Staates in einem justizförmig geordneten Verfahren durchzusetzen, in welchem dem Täter Tat und Schuld nachgewiesen werden und verbleibende Zweifel sich zugunsten des Angeklagten auswirken müssen („in dubio pro reo“).

7. Wenngleich dem Angeklagten in den Fällen der ungleichartigen Wahlfeststellung eine konkrete Straftat nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, ist die Unschuldsvermutung nicht verletzt; denn es steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Angeklagte sicher einen von mehreren alternativ in Betracht kommenden Straftatbeständen schuldhaft verwirklicht hat. Ein unzulässiges Verdachtsurteil geht damit nicht einher.

8. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, und der Anspruch aller in Strafverfahren Beschuldigter auf Gleichbehandlung rechtfertigen es, den staatlichen Strafanspruch auch dann durchzusetzen, wenn Zweifel hinsichtlich des Tatgeschehens verbleiben, gleichzeitig aber ein strafloses Verhalten des Angeklagten sicher ausscheidet.

9. Das von der Rechtsprechung geforderte Kriterium der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit der alternativ erfüllten Straftatbestände stellt dabei sicher, dass die Taten an einen hinreichend einheitlichen Unrechts- und Schuldvorwurf anknüpfen.

10. Die Rechtsprechung zur ungleichartigen Wahlfeststellung wahrt die verfassungsrechtlichen Schranken richterlicher Rechtsfortbildung und greift nicht in die Kompetenzen des Gesetzgebers ein. Auch wenn dieser bewusst darauf verzichtet hat, die durch Kontrollratsgesetz außer Kraft gesetzten vorkonstitutionellen Vorschriften zur Wahlfeststellung zu erneuern, so kann gleichwohl davon ausgegangen werden, dass er der entwickelten Rechtsprechung auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung jedenfalls konkludent seine grundsätzliche Billigung erteilt hat.

11. Eine Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage ist gleichwohl nur in Ausnahmefällen zulässig. Die Wahlfeststellung darf nicht dazu führen, dass – etwa in dem Bemühen um schnelle Verfahrenserledigung – die weitere Aufklärung des Tatsachenstoffs unterbleibt. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass andere Möglichkeiten als die nach der Überzeugung des Gerichts allein in Betracht kommenden Verhaltensweisen sicher ausgeschlossen sind und dass nach erschöpfender Würdigung der Tatsachen und Beweise eine eindeutige Tatfeststellung nicht möglich war.


Entscheidung

757. BVerfG 2 BvR 2630/18 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. Mai 2019 (OLG Bamberg)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Einstellung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen einen Polizeibeamten wegen Körperverletzung im Amt (Pflicht zu umfassender Aufklärung des Sachverhalts; grundrechtlicher Anspruch auf effektive Strafverfolgung; keine Verletzung bei lediglich fraglicher Rechtslage; Willkürverbot; polizeilich angeordnete Blutentnahme als tatbestandliche Körperverletzung; Rechtfertigung nach Wegfall des Richtervorbehalts; Anwendung des mildesten Gesetzes).

Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; § 2 Abs. 3 StGB; § 340 Abs. 1 StGB; § 81a Abs. 1 StPO; § 170 Abs. 2 StPO; § 46 Abs. 4 Satz 2 OWiG; § 24a Abs. 2 Satz 1 StVG

1. Die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens wegen Körperverletzung im Amt gegen einen Polizeibeamten, der bei dem Verdacht einer Verkehrsordnungswidrigkeit eine Blutentnahme angeordnet hatte, ohne zuvor versucht zu haben, einen Richter oder Staatsanwalt zu erreichen, obwohl dies nach dem zur Tatzeit geltenden Recht erforderlich gewesen wäre, ist nicht willkürlich, wenn das

Gericht den Beamten als gerechtfertigt ansieht, weil nach der für ihn günstigeren neuen Rechtslage ein Richtervorbehalt für die Anordnung einer Blutentnahme nicht mehr vorgesehen ist.

2. Willkürlich dürfte allerdings die Erwägung sein, eine polizeilich angeordnete Blutentnahme erfülle bereits nicht den Tatbestand einer Körperverletzung im Amt.

3. Wenngleich die Rechtsordnung in der Regel keinen grundrechtlich begründeten Anspruch auf eine Strafverfolgung Dritter kennt, sind alle Strafverfolgungsorgane verpflichtet, eine wirksame Anwendung der zum Schutz des Lebens, der körperlichen Integrität, der sexuellen Selbstbestimmung und der Freiheit der Person erlassenen Strafvorschriften sicherzustellen.

4. Der Anspruch eines Anzeigeerstatters auf effektive Strafverfolgung ist nicht verletzt, wenn nach umfassender Aufklärung des Sachverhalts weitere Ermittlungen nicht in Betracht kamen und sich in der Einstellungsentscheidung daher ausschließlich Rechtsfragen bezüglich einer möglichen Rechtfertigung stellten.


Entscheidung

755. BVerfG 2 BvR 1092/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 18. Juni 2019 (Schleswig-Holsteinisches OLG)

Auslieferung an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung (russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit; eingeschränkte gerichtliche Überprüfbarkeit der auslieferungsrechtlichen Bewilligungsentscheidung; Recht auf effektiven Rechtsschutz; Anspruch auf Bekanntgabe der Entscheidung und von Akteninhalten im Bewilligungsverfahren); auslieferungsrechtliches Zulässigkeitsverfahren (Wahrung der unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze und des völkerrechtlichen Mindeststandards bei Strafverfahren im nordkaukasischen Föderalbezirk; Amtsaufklärungspflicht; eigene Gefahrprognose des Gerichts auch bei Zusicherungen; erneute Zulässigkeitsentscheidung auch nach Verletzung der gerichtlichen Pflicht zur vollständigen Ermittlung des Sachverhalts; Willkürmaßstab für die verfassungsgerichtliche Prüfung; Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde; Offenhalten nur bei erneutem Eintreten in inhaltliche Prüfung).

Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 25 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 93 Abs. 1 BVerfGG; § 12 IRG; § 33 IRG

1. Die dem auslieferungsrechtlichen Zulässigkeitsverfahren nachfolgende (politische) Bewilligungsentscheidung ist der (verfassungs)gerichtlichen Überprüfung nur dann zugänglich, wenn sie zum Nachteil des Verfolgten von der Zulässigkeitsentscheidung abweicht, so dass das Oberlandesgericht in dieser nicht alle subjektiven öffentlichen Rechte des Verfolgten berücksichtigen konnte.

2. Eine Bewilligungsentscheidung ist daher nicht isoliert anfechtbar, wenn in ihr die Erwartung zum Ausdruck gebracht ist, das Strafverfahren gegen den Verfolgten werde außerhalb des nordkaukasischen Föderalbezirks durchgeführt, während das Oberlandesgericht die Zulässigkeit der Auslieferung gerade nicht an eine solche Bedingung gekoppelt hatte. Auf die Frage, ob eine solche einseitige Formulierung hinreichend sicherstellt, dass die Auslieferung den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.

3. Zumindest auf seinen Antrag hin müssen dem Verfolgten im auslieferungsrechtlichen Bewilligungsverfahren grundsätzlich der Inhalt der Bewilligungsentscheidung und die dort in Bezug genommenen Dokumente zur Kenntnis gegeben werden. Insoweit kann sich der Verfolgte zwar nicht auf das lediglich „vor Gericht“ gewährleistete Recht auf rechtliches Gehör, jedoch auf das Recht auf effektiven Rechtsschutz berufen.

4. Eine auslieferungsrechtliche Zulässigkeitsentscheidung begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn das Oberlandesgericht im Rahmen seiner Amtsaufklärungspflicht weder geprüft hat, ob im Hinblick auf das zu erwartende Strafverfahren im nordkaukasischen Föderalbezirk die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze und der verbindliche völkerrechtliche Mindeststandard gewahrt sein werden, noch dafür Sorge getragen hat, dass das Verfahren andernorts durchgeführt wird. Auch eine Zusicherung entbindet das Gericht nicht von der Pflicht, insoweit eine eigene Gefahrprognose vorzunehmen, um die Belastbarkeit der Zusicherung zu beurteilen zu können.

5. Wenngleich eine erneute Zulässigkeitsentscheidung gemäß § 33 IRG auch dann veranlasst sein dürfte, wenn das über die Zulässigkeit befindende Gericht seiner von Amts wegen bestehenden Pflicht zur vollständigen Ermittlung des Sachverhalts nicht nachgekommen ist und bei der ersten Zulässigkeitsentscheidung bereits ersichtliche Auslieferungshindernisse nicht hinreichend erwogen hat, prüft das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung nur daraufhin nach, ob das Gericht das Gesetz willkürlich angewendet hat.

6. Die Frist zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen eine auslieferungsrechtliche Zulässigkeitsentscheidung wird durch einen Antrag auf erneute Entscheidung gemäß § 33 IRG nur offengehalten, wenn das Oberlandesgericht erneut in eine inhaltliche Prüfung der Auslieferungsvoraussetzungen eintritt.


Entscheidung

756. BVerfG 2 BvR 2256/17 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 3. Juli 2019 (LG Potsdam / AG Brandenburg an der Havel)

Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Erfordernis widerspruchsfreier Feststellungen zum Fortbestehen des Zustands der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit; Freiheitsgrundrecht; Sicherungsbelange der Allgemeinheit; Abwägung im Einzelfall; verfassungsgerichtliche Kontrolldichte; steigende Begründungsanforderungen mit zunehmender Unterbringungsdauer); Gefährlichkeitsprognose (Konkretisierung der zu erwartenden Taten; Grad der Wahrscheinlichkeit strafbaren Verhaltens); Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht als mildere Maßnahmen); Nichteinhaltung der gesetzlichen Überprüfungsfrist (Sicherstellung einer rechtzeitigen Entscheidung; Darlegung der Gründe einer Fristüberschreitung in der

Fortdauerentscheidung; eigenständige Verletzung des Freiheitsgrundrechts bei erheblicher Fristüberschreitung); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Feststellungsinteresse nach prozessualer Überholung einer Fortdauerentscheidung; tiefgreifender Grundrechtseingriff).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG; § 20 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB; § 67d Abs. 2 StGB; § 67d Abs. 6 StGB; § 67e Abs. 2 StGB; § 67e Abs. 3 Satz 1 StGB

1. Eine Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus ist nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise begründet, wenn das Vollstreckungsgericht hinsichtlich der Frage, ob die Maßregel für erledigt zu erklären ist, weil der Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit bei dem Untergebrachten nicht mehr fortbesteht, lediglich auf die von einer leichten Intelligenzminderung ausgehende Stellungnahme der Maßregelvollzugseinrichtung verweist und dabei übergeht, dass nach dem eingeholten Prognosegutachten kein psychiatrischer Sachverhalt mehr gegeben ist, der Grundlage für eine Maßregel gemäß § 63 StGB bilden könnte.

2. Art und Grad der Wahrscheinlichkeit der künftig von einem Untergebrachten drohenden Taten sind nicht hinreichend konkret und zweifelsfrei bestimmt, wenn das Vollstreckungsgericht lediglich feststellt, die herangezogene Sachverständige gehe von einem „mittleren Rückfallrisiko im oberen Durchschnittsbereich“ für den Anlasstaten entsprechende Gewalttaten aus.

3. Gründe für eine etwaige Überschreitung der gesetzlichen Überprüfungsfrist sind in der Fortdauerentscheidung darzulegen. Fehlende Ausführungen begründen jedenfalls bei einer erheblichen Fristüberschreitung eine eigenständige Verletzung des Freiheitsgrundrechts.

4. Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen wichtigen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts - einschließlich der Unterbringung eines nicht oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters, von dem infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, in einem psychiatrischen Krankenhaus.

5. Bei der Entscheidung über die Fortdauer einer freiheitsentziehenden Maßregel ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dadurch Rechnung zu tragen, dass das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten einander als wechselseitiges Korrektiv gegenübergestellt und im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden. Dabei ist die mögliche Gefährdung der Allgemeinheit zur Dauer des erlittenen Freiheitsentzugs in Beziehung zu setzen.

6. Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche Art rechtswidriger Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit und Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr ist hinreichend zu konkretisieren; Art und der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten sind zu bestimmen. Abzustellen ist dabei auf das frühere Verhalten des Untergebrachten, die von ihm bislang begangenen Taten und die seit der Anordnung der Maßregel veränderten Umstände.

7. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.

8. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch zu erörtern, inwieweit etwaigen Gefahren durch geeignete Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht begegnet werden kann.

9. Die gesetzlichen Vorschriften über die regelmäßige Überprüfung der weiteren Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus dienen der Wahrung des Übermaßverbots bei der Beschränkung des Freiheitsgrundrechts. Das Vollstreckungsgericht muss eine rechtzeitige Entscheidung vor Ablauf der Überprüfungsfrist sicherstellen und dabei berücksichtigen, dass der Betroffene in aller Regel persönlich anzuhören und gegebenenfalls sachverständig zu begutachten ist.

10. Das Feststellungsinteresse für die verfassungsgerichtliche Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch dann fort, wenn zwischenzeitlich eine weitere Fortdauerentscheidung ergangen ist.


Entscheidung

753. BVerfG 2 BvR 894/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 24. Juni 2019 (Schleswig-Holsteinisches OLG)

Einstweilige Anordnung gegen eine Auslieferung an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung (russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Herkunft; Recht auf effektiven Rechtsschutz; Auslieferungshindernis der politischen Verfolgung; Auswirkungen der Anerkennung als Flüchtling in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union auf das Auslieferungsverfahren; Recht auf den gesetzlichen Richter und Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof; Folgenabwägung zugunsten des Verfolgten).

Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; Art. 267 Abs. 3 AEUV

Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der die Auslieferung eines in Polen als Flüchtling anerkannten Verfolgten an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise das Recht auf effektiven Rechtsschutz und auf den gesetzlichen Richter und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht sich weder vertieft mit den Auswirkungen der Flüchtlingsanerkennung auf das deutsche Auslieferungsverfahren noch mit dem von dem Verfolgten substantiiert geltend gemachten Auslieferungshindernis der politischen Verfolgung befasst hat und wenn es die von ihm aufgeworfene Frage nach einer

aus dem Unionsrecht abzuleitenden Bindungswirkung der Flüchtlingsanerkennung in einem EU-Mitgliedstaat für das Auslieferungsverfahren in einem anderen Mitgliedstaat ohne Begründung nicht dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt hat.


Entscheidung

745. BVerfG 1 BvR 2433/17 (2. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 14. Juni 2019 (Hanseatisches OLG in Bremen / LG Bremen / AG Bremen)

Schutz der Meinungsfreiheit und Strafbarkeit wegen Beleidigung (zulässige Kritik an der Verhandlungsführung in einem Zivilprozess; keine Schmähkritik bei Vergleich mit „nationalsozialistischen Sondergerichten“ oder „mittelalterlichem Hexenprozess“; Zulässigkeit polemisch zugespitzter Kritik an Maßnahmen der öffentlichen Gewalt; keine Beschränkung auf das zur Kritik am Rechtsstaat Erforderliche; grundsätzliches Erfordernis einer Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht; Werturteile; Wahrnehmung berechtigter Interessen; Entbehrlichkeit einer Abwägung bei Schmähungen und Formalbeleidigungen; enge Auslegung der Schmähkritik; fehlender sachlicher Bezug).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; § 185 StGB; § 193 StGB

1. Die Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik ist verfassungsrechtlich nicht haltbar, wenn der Kläger in einem Zivilprozess erklärt, die Verhandlungsleitung erinnere an „einschlägige Gerichtsverfahren vor ehemaligen nationalsozialistischen Sondergerichten“ oder an „einen mittelalterlichen Hexenprozess“, um im Rahmen eines Ablehnungsgesuchs seine Auffassung zum Ausdruck zu bringen, die Richterin habe einen Zeugen einseitig zu seinen Lasten vernommen.

2. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit findet seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch die Strafvorschrift des § 185 StGB gehört. Bei dessen Anwendung ist grundsätzlich eine Abwägung zwischen der Beeinträchtigung erforderlich, die der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung Betroffenen andererseits droht.

3. Zum Kernbereich der insofern besonders hoch zu gewichtenden Meinungsfreiheit gehört das Recht, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf zu kritisieren. Es ist nicht zulässig, den Betroffenen auf das zur Kritik am Rechtsstaat Erforderliche zu beschränken und ihm damit ein Recht auf polemische Zuspitzung abzusprechen.

4. Eine Abwägung ist zwar regelmäßig entbehrlich, soweit es um herabsetzende Äußerungen geht, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen. Wegen der für die Meinungsfreiheit einschneidenden Folge ist die Qualifikation einer ehrenrührigen Aussage als Schmähkritik jedoch auf Ausnahmefälle begrenzt und erfordert regelmäßig die Berücksichtigung von Anlass und Kontext der Äußerung.

5. Insbesondere handelt es sich nicht um Schmähkritik, wenn die Äußerung nicht allein auf den Angesprochenen als Person gerichtet ist, sondern einen sachlichen Bezug hat und sich aus diesem Kontext nicht sinnerhaltend lösen lässt.


Entscheidung

750. BVerfG 2 BvR 453/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 8. Juli 2019 (OLG Karlsruhe)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Verwerfung eines Klageerzwingungsantrags (mangelnde Unterzeichnung durch einen Rechtsanwalt; Gehörsverstoß durch vollständiges Übergehen eines Prozesskostenhilfeantrags; geringere Darlegungsanforderungen an einen PKH-Antrag als an einen Klageerzwingungsantrag; Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; Erfordernis der Erhebung einer Anhörungsrüge).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 33a Satz 1 StPO; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 152 Abs. 2 StPO; § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 114 ZPO

1. Die Verwerfung eines nicht durch einen Rechtsanwalt unterzeichneten und den Darlegungsanforderungen nicht genügenden Klageerzwingungsantrags als unzulässig verletzt den Anzeigenden in seinem Recht auf rechtliches Gehör, wenn das Oberlandesgericht einen zugleich gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe vollständig übergeht.

2. Die Anforderungen an die Begründung von Prozesskostenhilfeanträgen sind auch im Klageerzwingungsrecht geringer als jene, die an den Klageerzwingungsantrag selbst zu stellen sind. Für einen PKH-Antrag genügt eine verständliche Fallschilderung mit einem konkretisierbaren Beschuldigten und der Bezeichnung von Beweismitteln; Ausführungen zu den formellen Antragsvoraussetzungen sind ebenso entbehrlich wie die Unterzeichnung des Antrags durch einen Rechtsanwalt.

3. Eine Verfassungsbeschwerde, mit der eine Gehörsverletzung geltend gemacht wird, wird dem Grundsatz der Subsidiarität nicht gerecht, wenn der Beschwerdeführer es unterlassen hat, den Verstoß im Wege einer Anhörungsrüge zur fachgerichtlichen Überprüfung zu stellen, obwohl eine solche offensichtlich erfolgreich gewesen wäre.


Entscheidung

746. BVerfG 2 BvQ 55/19 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 8. Juli 2019 (LG Berlin / AG Tiergarten)

Erfolgloser Eilantrag gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (keine Vorwegnahme der Hauptsache durch eine einstweilige Anordnung); Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (kein Offenhalten der Verfassungsbeschwerdefrist durch Einlegen einer offensichtlich aussichtslosen Anhörungsrüge).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 93 Abs. 1 BVerfGG; § 111a Abs. 1 StPO

1. Der Antrag auf Aufhebung einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis im Wege des verfassungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes ist unzulässig, weil durch eine einstweilige Anordnung die Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden darf. Möglich ist allenfalls eine Suspendierung der vorläufigen Entziehung.

2. Eine offensichtlich aussichtslose Anhörungsrüge, mit der keine Gehörsverletzung gerügt, sondern lediglich die von den Fachgerichten vorgenommenen Würdigung der Sach- und Rechtslage kritisiert wird, gehört nicht zu dem vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zu erschöpfenden Rechtsweg und ist daher nicht geeignet, die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG offen zu halten.


Entscheidung

748. BVerfG 2 BvR 217/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. Mai 2019 (OLG Rostock)

Prozesskostenhilfe für die Durchführung eines Klageerzwingungsverfahrens (Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch Übergehen fristgerechten Sachvortrags; Entscheidung vor Ablauf einer Stellungnahmefrist); Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Notwendigkeit der Einlegung einer nicht offensichtlich aussichtslosen Anhörungsrüge).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 33a StPO; § 170 Abs. 2 StPO; § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO

1. Die Zurückweisung eines Antrags auf Prozesskostenhilfe für die Durchführung eines Klageerzwingungsverfahrens verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn das Gericht Ausführungen des Anzeigeerstatters unberücksichtigt lässt, obwohl es ihm eine Frist zur Stellungnahme eingeräumt hatte, die bei der Beschlussfassung noch nicht abgelaufen war. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Beschluss Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft weitgehend übernimmt, bezüglich derer dem Antragsteller die Stellungnahmefrist gewährt worden war.

2. Eine Verfassungsbeschwerde genügt nicht dem Grundsatz der Subsidiarität, wenn der Beschwerdeführer es unterlassen hat, die von ihm geltend gemachte Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör mit einer – nicht offensichtlich aussichtslosen – Anhörungsrüge zur fachgerichtlichen Überprüfung zu stellen.


Entscheidung

749. BVerfG 2 BvR 382/17 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. Juli 2019 (OLG Köln / LG Bonn)

Widerruf einer Aussetzung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zur Bewährung (Freiheitsgrundrecht; verfassungsrechtliches Gebot bestmöglicher Sachaufklärung; Pflicht zur Heranziehung eines Sachverständigen; ergänzende Begutachtung bei offenen Beweisfragen und neuen Umständen; fehlerhafte Gefahrprognose mangels aktueller Begutachtung; Zusammenhang zwischen Drogenkonsum und Anlassdelinquenz; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Überweisung in eine Entziehungsanstalt als milderes Mittel; Erfolgsaussichten für eine Therapie; Nachreifung der Persönlichkeit); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Rechtsschutzbedürfnis; Feststellungsinteresse nach prozessualer Überholung einer Fortdauerentscheidung; tiefgreifender Grundrechtseingriff).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 64 StGB; § 66 StGB; § 67a Abs. 2 StGB; § 67g Abs. 1 Satz 1 StGB

1. Der Widerruf einer Aussetzung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zur Bewährung wird dem verfassungsrechtlichen Gebot bestmöglicher Sachaufklärung nicht gerecht, wenn das Gericht seine Gefahrprognose ohne aktuelle Begutachtung des Betroffenen maßgeblich auf ein bereits anlässlich der Aussetzung der Maßregel eingeholtes Sachverständigengutachten stützt, welches die Anlassdelinquenz auf den Drogenkonsum des Betroffenen zurückgeführt hatte, obwohl seit der Entlassung trotz erneuten Suchtmittelkonsums des Betroffenen über mehrere Jahre keine neuen Straftaten bekannt geworden sind.

2. Die Sachaufklärungspflicht kann die Heranziehung eines Sachverständigen außerdem dann gebieten, wenn im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Frage einer Überweisung des Betroffenen in den Vollzug einer Entziehungsanstalt als milderes Mittel zu beantworten ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn zwar vor vielen Jahren eine Unterbringung des Betroffenen in einer Entziehungsanstalt erfolglos verlaufen war, wenn ihm jedoch bereits bei der jüngsten Bewährungsentlassung sachverständig eine Nachreifung seiner Persönlichkeit bescheinigt worden war.

3. Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen wichtigen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts - einschließlich der Unterbringung eines Straftäters in der Sicherungsverwahrung.

4. Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG hat auch verfahrensrechtliche Bedeutung. So müssen alle Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung beruhen. Das verfassungsrechtliche Gebot bestmöglicher Sachaufklärung gilt auch für den Straf- und Maßregelvollzug.

5. Bei Prognoseentscheidungen, bei denen geistige und seelische Anomalien in Frage stehen, ist das Gericht in der Regel verpflichtet, einen erfahrenen Sachverständigen hinzuzuziehen. Soweit eine Beweisfrage offen oder möglicherweise unzulänglich beantwortet ist, hat es eine ergänzende Begutachtung zu veranlassen. Insbesondere kann das Eintreten nachträglicher Umstände die Notwendigkeit erneuter sachverständiger Begutachtung begründen.

6. Das Rechtsschutzbedürfnis für die verfassungsgerichtliche Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch dann fort, wenn die angegriffene Entscheidung nicht mehr die aktuelle Grundlage der Unterbringung bildet, weil zwischenzeitlich eine erneute Fortdauerentscheidung ergangen ist.


Entscheidung

751. BVerfG 2 BvR 818/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. Juli 2019 (AG Dillingen a.d. Donau)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die formal fehlerhafte „Abweisung“ eines Adhäsionsantrages anstelle des gebotenen Absehens von einer Entscheidung

(keine Beeinträchtigung in einer verfassungsrechtlich geschützten Rechtsposition).

§ 406 Absatz 1 Satz 3 StPO

Die Entscheidung eines Tatgerichts, einen Adhäsionsantrag bei Freispruch des Angeklagten teilweise „abzuweisen“, anstatt – wie gesetzlich vorgesehen – insoweit von einer Entscheidung abzusehen, ist zwar formal rechtsfehlerhaft, beeinträchtigt die Adhäsionsklägerin jedoch nicht in einer verfassungsrechtlich geschützten Rechtsposition, wenn eine Umdeutung der Entscheidung in einen dem Gesetz entsprechenden Ausspruch möglich ist und der Klägerin daher die anderweitige Verfolgung ihres weitergehenden Anspruchs offensteht.


Entscheidung

752. BVerfG 2 BvR 841/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 3. Juni 2019 (OLG Frankfurt am Main)

Einstweilige Anordnung gegen eine Auslieferung nach Weißrussland zum Zwecke der Strafverfolgung (Recht auf effektiven Rechtsschutz; hinreichende Sachverhaltsaufklärung; Zweifel an einer allgemeinen Zusicherung konventionskonformer Haftbedingungen bei lediglich 2,5 m2 persönlichem Raum; Folgenabwägung zugunsten des Verfolgten).

Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 25 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 73 IRG; Art. 3 EMRK

Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung nach Weißrussland zum Zwecke der Strafverfolgung für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise das Recht auf effektiven Rechtsschutz und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht den Sachverhalt nicht weiter aufgeklärt hat, obwohl an der Belastbarkeit einer allgemein abgegebenen Zusicherung konventionskonformer Haftbedingungen Zweifel bestehen, weil die Behörden im Zielstaat weiter erklärt haben, jedem Inhaftierten stehe – lediglich – ein persönlicher Raum von jedenfalls 2,5 m2 zur Verfügung.


Entscheidung

753. BVerfG 2 BvR 894/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 24. Juni 2019 (Schleswig-Holsteinisches OLG)

Einstweilige Anordnung gegen eine Auslieferung an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung (russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Herkunft; Recht auf effektiven Rechtsschutz; Auslieferungshindernis der politischen Verfolgung; Auswirkungen der Anerkennung als Flüchtling in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union auf das Auslieferungsverfahren; Recht auf den gesetzlichen Richter und Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof; Folgenabwägung zugunsten des Verfolgten).

Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; Art. 267 Abs. 3 AEUV

Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der die Auslieferung eines in Polen als Flüchtling anerkannten Verfolgten an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise das Recht auf effektiven Rechtsschutz und auf den gesetzlichen Richter und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht sich weder vertieft mit den Auswirkungen der Flüchtlingsanerkennung auf das deutsche Auslieferungsverfahren noch mit dem von dem Verfolgten substantiiert geltend gemachten Auslieferungshindernis der politischen Verfolgung befasst hat und wenn es die von ihm aufgeworfene Frage nach einer aus dem Unionsrecht abzuleitenden Bindungswirkung der Flüchtlingsanerkennung in einem EU-Mitgliedstaat für das Auslieferungsverfahren in einem anderen Mitgliedstaat ohne Begründung nicht dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt hat.


Entscheidung

754. BVerfG 2 BvR 916/19 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 11. Juni 2019 (LG Rostock)

Strafvollzugsrecht (unzulässige Beschränkung des Rechtsschutzes bei Forderung einer Fahrtkostenpauschale zur Einlegung der Rechtsbeschwerde).

Art. 20 Abs. 3 GG; § 118 Abs. 3 StVollzG; § 41 Abs. 1 Satz 3 StVollzG MV

Der aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Rechtsschutzgarantie dürfte es nicht genügen, wenn die einzige Möglichkeit für Strafgefangene, in Vollzugssachen eine den formellen Anforderungen genügende Rechtsbeschwerde einzulegen, ohne einen Rechtsanwalt einzuschalten, von der Zahlung einer Fahrtkostenpauschale abhängig gemacht wird, die geeignet ist, von der Inanspruchnahme des Rechtsschutzes abzuschrecken.