HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2018
19. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

204. BVerfG 1 BvR 2465/13 (3. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 24. Januar 2018 (Kammergericht / LG Berlin)

Schutz der Meinungsfreiheit und Strafbarkeit wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (Werturteile; Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und betroffenem Rechtsgut; erhöhtes Gewicht von Beiträgen zur öffentlichen Meinungsbildung; Beachtung des Kontextes bei der Auslegung von Äußerungen; Kritik an der strafrechtlichen Rehabilitierung eines in der ehemaligen DDR Verurteilten als zulässige Kritik am Umgang der Bundesrepublik mit der DDR-Vergangenheit; Persönlichkeitsschutz nur hinsichtlich des fortwirkenden personalisierten Geltungsanspruchs des Verstorbenen, nicht seiner historischen Handlungen).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; § 189 StGB; § 193 StGB

1. Äußert der Betreiber einer Internetseite Kritik an der strafrechtlichen Rehabilitierung eines im Jahre 1952 nach dem Strafrecht der ehemaligen DDR wegen der Planung von Anschlägen zum Tode Verurteilten, den er unter anderem als „Banditen“ und „Anführer einer terroristischen Vereinigung“ bezeichnet, so verletzt eine darauf gestützte Verurteilung wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener die Meinungsfreiheit, wenn das Strafgericht nicht berücksichtigt, dass die Äußerungen nicht vorrangig darauf zielten, den Verstorbenen verächtlich zu machen, sondern ersichtlich darauf gerichtet waren, den aus Sicht des Betroffenen voreingenommenen Umgang der Bundesrepublik mit der DDR-Vergangenheit und dem gegen die DDR gerichteten Widerstand anzuprangern.

2. Der Schutz des § 189 StGB zielt auf den fortwirkenden personalisierten Geltungsanspruch eines Verstorbenen, nicht hingegen auf eine ausgewogene politische Bewertung seiner historischen Handlungen als solcher. Das Strafgericht verkennt daher das Gewicht des Persönlichkeitsrechts eines Verstorbenen, wenn es nicht berücksichtigt, dass dieser durch eine ihn herabwürdigende Äußerung im Wesentlichen nur noch als historische Figur betroffen ist.

3. Werturteile, die durch Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens gekennzeichnet sind, unterfallen der Meinungsfreiheit. Der Schutzbereich des Grundrechts ist unabhängig davon eröffnet, ob die Äußerungen sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind.

4. Steht ein Äußerungsdelikt in Frage, so verlangt Art. 5 Abs. 1 GG eine Gewichtung der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und des durch die Äußerung betroffenen Rechtsguts andererseits. Dessen Schutz tritt umso mehr zurück, je weniger es sich um eine unmittelbar gegen das Rechtsgut gerichtete private Äußerung in Verfolgung eigennütziger Ziele handelt und je mehr der Äußernde einen Beitrag zu einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage leisten will.

5. Bei Äußerungsdelikten kann eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts auch dadurch begründet sein, dass der Sinn der Äußerung nicht zutreffend erfasst worden ist. Die Äußerung muss unter Einbeziehung ihres Kontextes ausgelegt und es darf ihr kein Sinn zugemessen werden, den sie objektiv nicht haben kann. Bei mehrdeutigen Äußerungen müssen andere mögliche Deutungen mit schlüssigen Gründen ausgeschlossen werden, bevor man die zur Verurteilung führende Bedeutung zugrunde legt.

6. Die Strafvorschrift des § 189 StGB schützt den allgemeinen Achtungsanspruch des Verstorbenen, der insbesondere davor bewahrt werden soll, herabgewürdigt oder erniedrigt zu werden, sowie den sittlichen, personalen und sozialen Geltungswert, den der Verstorbene durch seine Lebensleistung erworben hat. Dabei schwindet das Schutzbedürfnis in dem Maße, in dem die Erinnerung an den Verstorbenen verblasst. Zudem reicht der Achtungsanspruch jedenfalls nicht weiter als der Ehrschutz lebender Personen.


Entscheidung

205. BVerfG 2 BvR 37/18 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 12. Januar 2018 (Schleswig-Holsteinisches OLG)

Einstweilige Anordnung gegen eine Auslieferung an Rumänien zum Zwecke der Strafvollstreckung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls (Mindestanforderungen an die Haftbedingungen im ersuchenden Staat; Recht auf den gesetzlichen Richter und Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof; Folgenabwägung zugunsten des Verfolgten bei drohender Unterschreitung des unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutzes); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (erhöhte Darlegungsanforderungen zur Aktivierung der Identitätskontrolle im Auslieferungsverkehr innerhalb der Europäischen Union).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 92 BVerfGG; Art. 267 Abs. 3 AEUV; Art. 4 GRCh; Art. 3 EMRK

1. Ein Oberlandesgericht verletzt möglicherweise das Recht auf den gesetzlichen Richter, wenn es eine Auslieferung nach Rumänien für zulässig erklärt, wo dem Verfolgten in einem Gemeinschaftshaftraum lediglich 2 m2 an persönlicher Bodenfläche zur Verfügung stehen würden. Insoweit ist eine Vorlage an den EuGH zu erwägen, weil in dessen bisheriger Rechtsprechung nicht abschließend geklärt ist, nach welchen Maßstäben die Haftbedingungen im ersuchenden Staat konventionsrechtlich und unionsgrundrechtlich zu bewerten sind (Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 2017 – 2 BvR 424/17 – [= HRRS 2018 Nr. 92].

2. Eine Auslieferung zum Zwecke der Strafverfolgung ist einstweilen auszusetzen, wenn dem Verfolgten im ersuchenden Staat eine Unterbringung unter Haftbedingungen droht, die möglicherweise seinen aus der Menschenwürdegarantie folgenden Achtungsanspruch verletzen.

3. Die strengen Voraussetzungen für eine Aktivierung der Identitätskontrolle im Auslieferungsverkehr der Bundesrepublik mit anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (vgl. BVerfGE 140, 317 ff. [= HRRS 2016 Nr. 100]) schlagen sich in erhöhten Zulässigkeitsanforderungen an entsprechende Verfassungsbeschwerden nieder. Mit Blick auf die Haftraumgröße muss im Einzelnen substantiiert und unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH und des EGMR dargelegt werden, weshalb die Menschenwürde des Verfolgten im Falle seiner Auslieferung gefährdet wäre.


Entscheidung

206. BVerfG 2 BvR 1362/16 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 25. Januar 2018 (LG München I)

Anspruch auf rechtliches Gehör in einem Ermittlungsverfahren wegen wettbewerbsbeschränkender Rabatte bei der Vermarktung von Werbezeiten (Einsicht in die Ermittlungsakten durch einen konkurrierenden Fernsehveranstalter; Abänderung einer Entscheidung zum Nachteil des durch diese Begünstigten nur nach Gewährung rechtlichen Gehörs; Umfang des Äußerungsrechts wie bei Beteiligten in erster Instanz; Gehörsanspruch bereits bei unmittelbarer rechtlicher Betroffenheit von einer Gerichtsentscheidung; Verletzteneigenschaft als Voraussetzung nur des Akteneinsichtsrechts, nicht des Gehörsanspruchs); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Beginn der Monatsfrist erst mit Abschluss eines Anhörungsrügeverfahrens; Statthaftigkeit der Beschwerde gegen eine Entscheidung über die Anhörungsrüge).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 93 Abs. 1 BVerfGG; § 308 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 406e Abs. 1 StPO; § 475 Abs. 2 StPO; § 299 StGB

1. Will ein Gericht eine Entscheidung abändern und greift es dadurch in die Rechtsstellung des durch die Entscheidung Begünstigten ein, so muss dieser Gelegenheit erhalten, sich in Kenntnis der dem Gericht vorliegenden Stellungnahme der Gegenseite umfassend zur

Sach- und Rechtslage zu äußern. Der Umfang des Äußerungsanspruchs entspricht in diesem Fall dem eines vom Gericht noch nicht angehörten Beteiligten in erster Instanz und hängt nicht davon ab, ob neue Tatsachen oder Beweisergebnisse vorhanden sind. Diese Vorgaben finden ihren Niederschlag in § 308 Abs. 1 Satz 1 StPO.

2. Weist das Beschwerdegericht in einem Ermittlungsverfahren wegen wettbewerbsbeschränkender Rabatte bei der Vermarktung von Werbezeiten auf die Beschwerde des Beschuldigten den von der Vorinstanz teilweise bewilligten Akteneinsichtsantrag eines konkurrierenden Fernsehveranstalters vollständig zurück, so verletzt es dessen Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es ihm nicht zuvor das Beschwerdevorbringen des Beschuldigten zur Kenntnis gegeben hat.

3. Dabei ist ohne Bedeutung, ob der Fernsehveranstalter Verletzter im Sinne des § 406e Abs. 1 StPO ist. Die Verletzteneigenschaft ist zwar Voraussetzung für ein Akteneinsichtsrecht; sie bestimmt jedoch nicht das hierbei zu beachtende Verfahren. Anspruch auf rechtliches Gehör hat vielmehr jeder, der an einem gerichtlichen Verfahren beteiligt ist oder unmittelbar rechtlich von dem Verfahren betroffen wird und dem gegenüber die Entscheidung materiell-rechtliche Wirkung entfaltet.

4. Für den Lauf der Monatsfrist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde kommt es auf die den Rechtsweg abschließende Entscheidung an. Zum Rechtsweg gehört grundsätzlich auch die Erhebung eine Anhörungsrüge, soweit diese nicht aussichtslos ist. Ist gegen die auf die Anhörungsrüge ergangene Entscheidung die Beschwerde statthaft, so ist auch das Beschwerdeverfahren durchzuführen.

5. Entscheidungen nach den §§ 33a, 311a StPO sind mit der Beschwerde anfechtbar, wenn die nachträgliche Gewährung des rechtlichen Gehörs versagt wird. Hiervon ist auszugehen, wenn das über die Gehörsrüge befindende Gericht zwar erneut eine Sachentscheidung trifft, ohne jedoch dem Beschwerdeführer zuvor die Schriftsätze der Gegenseite ihrem vollen Inhalt nach bekannt gemacht und Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben.