HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2017
18. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Neues zur Vermögensbetreuungspflicht des Vertragsarztes gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen

Urteilsanmerkung zu BGH Beschluss v. 16.08.2016 – 4 StR 163/16 (HRRS 2016 Nr. 974)

Von Wiss. Mit. Tamara Schneider , LMU München

I. Einleitung

Der Beschluss des 4. Senats vom 16.8.2016 stellt das erste Urteil zur Fallgruppe der Vertragsarztuntreue seit dem Beschluss des Großen Senats vom 29.3.2012 dar, und markiert insoweit ein Grundsatzurteil.

Die Fallgruppe der Vertragsarztuntreue wurde mit der Entscheidung des 3. Senates im Jahre 2003 höchstrichterlich etabliert und vom 1. Senat sowie in zahlreichen untergerichtlichen Entscheidungen fortgeführt.[1] Damals überraschte zum einen, dass die seit 2003 unter Vertragsarztuntreue behandelnden Fallkonstellationen vormals für den jeweiligen Angeklagten ("nur") eine Strafbarkeit wegen Beihilfe zum Betrug zur Folge hatten. Zum anderen verwunderte die damals noch recht dürftige Begründung der Vermögensbetreuungspflicht, weil die neue Rechtsprechung zugleich die Abkehr von einer jahrelang gefestigten Judikatur hin zu einer neuen Täter-

strafbarkeit zur Folge hatte. Nicht zuletzt deswegen fiel die Kritik in der Wissenschaft[2] zu dieser als unnötig empfundenen Kehrtwende äußerst kritisch oder gar vernichtend aus. Doch trotz einiger stets strittiger Aspekte[3] wurde die neue Fallgruppe im Ergebnis beinahe zehn Jahre ganz überwiegend anerkannt. Daran änderte die Aufgabe der sog "Vertretertheorie" durch das Bundessozialgericht[4] nichts, die zuvor als maßgebliche Stützte der Vermögensbetreuungspflicht fungierte und so zur Begründung des Missbrauchstatbestandes der Untreue führte. Erst der durch Anfragen des 3. und 5. Strafsenats[5] des BGH ins Rollen gebrachte Beschluss des Großen Senates (dem sog. "Vertragsarztbeschluss")[6] entfachte insbesondere durch die explizite Aufgabe der Vertreterthese erneut die Diskussion, obwohl die besagte Entscheidung gar nicht die Konstellation der Vertragsarztuntreue nach § 266 StGB zum Gegenstand hatte, sondern sich vielmehr mit den Fragen auseinanderzusetzen hatte, ob der Vertragsarzt als Amtsträger nach § 331 StGB oder Beauftragter im Sinne von § 299 StGB einzustufen sei. Beide Fragen verneinte der Große Senat, was in der Folgezeit zur Pönalisierung der Korruption im Gesundheitswesen durch zwei neue Straftatbestände (§ 299a und § 299b StGB) führte.[7] Im Hinblick auf die Untreuestrafbarkeit wurden mögliche Konsequenzen zwar in der Wissenschaft in den Blick genommen[8] und in zwei obiter dicta des OLG Stuttgart aufgegriffen[9]; die klärende höchstrichterliche Entscheidung ließ jedoch auf sich warten, die nunmehr der 4. Strafsenat vorlegt.

II. Die Gründe im Einzelnen

Der Angeklagte, ein zugelassener Vertragsarzt, stellte Heilmittelverordnungen für physiotherapeutische Leistungen für "Patienten" aus ohne vorherige Untersuchung oder anderweitige Konsultation: eine medizinische Indikation war nicht gegeben. Diese Verordnungen erstellte er auf Grundlage von Versichertenkarten, die er von den Eheleuten T erhielt. Die Eheleute waren Leiter diverser Gesundheitszentren, in denen unter anderem entsprechende Leistungen angeboten wurden. Im Anschluss leitete der Angeklagte die Verordnung wiederrum den Eheleuten T zu, die diese dann bei den entsprechenden Krankenkassen einreichten. Die so erlangte Vergütung behielten die Eheleute vollständig für sich; der Angeklagte hatte daran kein eigenes Interesse.

Der Senat bestätigt die Verurteilung wegen Untreue gem. § 266 I Var. 2 StGB durch das LG und befasst sich in der Begründung im größten Teil mit der Frage nach der Vermögensbetreuungspflicht des Vertragsarztes. Deren Vorliegen gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen wird bejaht und im Wesentlichen mit Hilfe der gängigen Kriterien herausgearbeitet: Dies geschieht zum einen mit der Charakterisierung der Vertragsarzttätigkeit als (eine) Hauptpflicht, zum anderen mit der Notwendigkeit einer gewissen Selbstständigkeit und Kontrollfreiheit, wobei sich die weitere Argumentation in der Begründung der Hauptpflicht und dem Ausräumen von Zweifeln an dieser Einschätzung erschöpft. Zum Eigenständigkeitskriterium wird lediglich festgestellt, dass dessen Vorliegen "für den Senat außer Frage"[10] stehe.

Im Einzelnen: Im Hinblick auf das Vorliegen einer die Vermögensbetreuungspflicht begründenden Hauptpflicht wird zunächst unter kurzer Skizzierung der Funktionsweise des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung die Stellung des Vertragsarztes in diesem Gefüge dargelegt. Tragend sei dabei die Verordnungstätigkeit als einzigartige Rechtsmacht des Vertragsarztes, derer er sich in eigener Verantwortung bediene. Im Anschluss widmet sich das Gericht der (abstrakten) Darstellung des Wirtschaftlichkeitsgebots, um aus dem Zusammenspiel beider Aspekte das Vorliegen einer Hauptpflicht zu begründen: Der Senat begreift die Verordnungstätigkeit als bipolar wirkende Rechtsmacht. Der Vertragsarzt konkretisiere nach der Behandlung auf der einen Seite durch Verordnung gegenüber dem Patienten als gesetzlich Versicherten dessen Anspruch auf Krankenversorgung; auf der anderen Seite stellt die Verordnung gegenüber der Krankenkasse verbindlich fest, dass ein Krankheitsfall vorliegt und die aufgeschriebene Maßnahme notwendig und wirtschaftlich sei (§§ 12 I, 70 I i.V.m. 2 II SGB V).[11] Letzterer Aspekt sei tragend für die Annahme des vermögensbetreuenden Charakters der Verordnungstätigkeit und unterstütze, dass das Wirtschaftlichkeitsgebot in Bezug auf die Verordnungstätigkeit "vorrangig" als Verpflichtung gegenüber der letztlich die Zahlung bewirkenden Krankenkasse zu verstehen sei. Allein daraus ergebe sich bereits eine Stellung des Vertragsarztes, "die durch eine besondere Verantwortung für deren Vermögen gekennzeichnet" sei.[12]

Im Weiteren weist der Senat die (typischerweise vorgebrachten) Bedenken zurück: Unschädlich sei sowohl, dass das Wirtschaftlichkeitsgebot den Vertragsarzt nicht unmittelbar im Verhältnis zu den gesetzlichen Krankenkassen treffen soll, als auch die Tatsache, dass der Vertragsarzt vor allem die Interessen seiner Patienten vertrete.[13] Auch die Prüfungsmöglichkeiten der Heilmittelerbringer und die der Krankenkassen würden zu keiner anderen Einschätzung führen, da sie insoweit der Ver-

ordnungstätigkeit, die sich am Wirtschaftlichkeitsgebot messen lassen müssen, erst nachgeschaltet seien.[14]

III. Bewertung

Vorweg sind zwei Leistungen der Entscheidung hervorzuheben: Zum einen gebührt dem Senat das Verdienst, die erste, grundsätzliche und sehr ausführliche Begründung der Vermögensbetreuungspflicht des Vertragsarztes vorgelegt zu haben. In diesem Zusammenhang überzeugt auch die teilweise explizite Auseinandersetzung mit dem Vertragsarztbeschluss. Zum anderen schafft er Rechtssicherheit dahingehend, dass die Aufgabe der Vertreterrechtsprechung auch die Vertragsarztuntreue tangiert und daher die Notwendigkeit erzeugt hat, eine etwaige Vermögensbetreuungspflicht auf ein neues Fundament zu stellen.

Obgleich daher die Bejahung einer Strafbarkeit wegen Untreue auch nach dem Vertragsarztbeschluss nach wie vor denkbar und die erwähnte Auseinandersetzung mit der Problematik und dem Vertragsarztbeschluss begrüßenswert ist, erscheint die Begründung des 4. Senates andererseits teilweise nicht ausreichend bzw. schwer nachvollziehbar.


Störend ist insgesamt, dass der BGH sich zwar zunächst an den klassischen Kriterien der Vermögensbetreuungspflicht abarbeitet, dieses selbst zu Beginn auferlegte Prüfungsprogramm inhaltlich jedoch nicht durchhält. So verschwimmen die zu trennenden Kriterien "Hauptpflicht" und "Eigenverantwortlichkeit"[15] in der Begründung. Daneben zeigt sich ein weiteres, noch schwerwiegenderes analytisches Problem: Um das Vorliegens einer Hauptpflicht zu begründen, wird unter anderem auf die gravierende Pflichtverletzung rekurriert (dazu sogleich).

Im Einzelnen ist Folgendes zu bemerken:

1. Hauptpflicht: Wirtschaftlichkeitsgebot?

Zwar geht der 3. Senat auf die Frage des Näheverhältnisses zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse – wenigstens zum Teil auch unter explizitem Verweis auf die Bedenken des Großen Senats – ein, wenn er das Vorliegen einer Hauptpflicht untersucht und dabei die Bedeutung des Wirtschaftlichkeitsgebots bei der Verordnungstätigkeit entfaltet. Andere Aspekte hingegen werden ausgeblendet, darunter insbesondere der ernstzunehmende Hinweis des Großen Senats, dass die medizinische Entscheidung des Vertragsarztes – und zwar unabhängig von seinem Verhältnis zum einzelnen Patienten – als dessen Hauptaufgabe einzustufen sei und daneben die durch die Verordnung ausgelöste Konsequenz der Kostenübernahme keine wesentliche Pflicht, sondern mit der Wirkung eines Reflexes (!) vergleichbar sei.[16] Die Frage, weshalb dieser Umstand im Ergebnis zu einer Verneinung der Beauftragtenstellung mangels Näheverhältnisses führt, eine Vermögensbetreuungspflicht aber gleichwohl vorliegen kann, wird nicht erörtert. Der bloße Hinweis des Senats, dass eine Person auch mehrere Hauptpflichten treffen können, entkräftet dies nicht. Vielmehr wäre an dieser Stelle eine dezidierte Klärung des Verhältnisses der Beauftragtenstellung und der Vermögensbetreuungspflicht wünschenswert gewesen. Die diesbezüglich vorgetragene Feststellung, der Beauftragtenbegriff sei weiter, das Merkmal der Vermögensbetreuungspflicht dagegen eher restriktiver auszulegen[17], erscheint doch unterkomplex. Diese Feststellung lässt nämlich außer Acht, dass sich der Grund dafür aus der Funktion der Tatbestandsmerkmale innerhalb von § 299 StGB und § 266 StGB ergibt. Daher sind die Verneinung einer Beauftragtenstellung einerseits und die Bejahung einer Vermögensbetreuungspflicht andererseits jedenfalls nicht aus diesem Grund inkonsequent. Zwar bestimmen beide Merkmale jeweils die Täterstellung, dies geschieht indes in gänzlich unterschiedlichem Umfeld: Die Beauftragtenstellung in § 299 ist eine Variante und Auffangtatbestand zum "Angestellten"; daraus ergibt sich bereits die Tendenz einer großzügigen Auslegung. Genau gegenläufig verhält es sich bei der Vermögensbetreuungspflicht gerade bei der Treubruchsvariante des § 266 StGB: Dort ist sie alleiniges und konstituierendes Merkmal der Untreuetäterschaft.[18] Gleichzeitig ist die Vermögensbetreuungspflicht begrifflich äußerst konturenlos, so dass eine restriktive Auslegung angebracht ist.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Täterqualitäten ergeben sich demnach nicht aus den jeweiligen Auslegungstendenzen. Der oben herausgearbeitete Hintergrund dient als Grundlage. Auf dieser muss weiter herausgearbeitet werden, in welchem Verhältnis die beiden Tatbestandsmerkmale zueinander stehen und ob eine Übertragung der Grundsätze des Beschlusses des Großen Senates auf die Vertragsarztuntreue möglich ist.[19] Wie gesehen geht der Senat freilich insgesamt kaum bzw. nur oberflächlich auf diese Frage ein.

2. Beschränkter Anwendungsbereich der Entscheidung

Weitere Aspekte werden durch vom Senat vorgenommene Einschränkungen des eigenen Beschlusses ausgeblendet, welche durch eine sehr enge, fallbezogene Formulierung bereits im Leitsatz zum Ausdruck kommt. Dort heißt es, dass "den Vertragsarzt einer Krankenkasse[…]dieser gegenüber eine Vermögensbetreuungspflicht im Sinn des § 266 Abs. 1 StGB [trifft], die ihm zumindest gebietet, Heilmittel nicht ohne jegliche medizinische Indikation in der Kenntnis zu verordnen, dass die verord-

neten Leistungen nicht erbracht, aber gegenüber den Krankenkassen abgerechnet werden sollen."[20]

Aus dieser Formulierung lässt sich schließen, dass jedenfalls ("zumindest") in denjenigen Fällen, in denen Vertragsarzt und ein (bösgläubiger) nichtärztlicher Leistungserbringer kollusiv zusammenwirken (wenn nämlich die verordneten Leistungen nicht erbracht, aber abgerechnet werden sollen), einer Vermögensbetreuungspflicht für das Handeln des Vertragsarztes begrenzende Wirkung zukommt.

Wegen der Einschränkung im Leitsatz auf Heilmittel bleibt weiterhin unklar, wie die Konstellation des kollusiven Zusammenwirkens mit einem Apotheker zu behandeln ist, bei dem der Apotheker Verordnungen über (Luftverkäufe von) Medikamenten einreicht. Ungeklärt sind darüber hinaus aufgrund der Einschränkung im Leitsatz, dass die Verordnung ohne medizinische Indikation erfolgen müsse, die Konstellationen medizinisch indizierter – aber unwirtschaftliche – Arznei- und Heilmittelverordnungen.

Aber auch an anderer Stelle bemüht sich der Senat hervorzuheben, dass sich das Vorliegen einer Vermögensbetreuungspflicht "jedenfalls in den hier zu entscheidenden Fällen"[21] begründen ließe, was zu weiteren denkbaren Einschränkungen führt. Das lässt sich einerseits so verstehen, dass sich die Entscheidung lediglich auf den (als evident dargestellten) Fall der Verordnung medizinisch nicht indizierter Heilmittel bezieht (also eine Wiederholung der im Leitsatz bereits genannten Beschränkung auf Heilmittel). Dies hätte mit dem Vertragsarztbeschluss im Hintergrund zur Folge, dass der Senat im Hinblick auf andere, vormals anerkannte Fallkonstellationen der Vertragsarztuntreue, die bisher vor allem die Verordnung von medizinisch nicht indizierte Arznei[22]- oder Hilfsmitteln betraf, eine Neubewertung der Strafbarkeit offenlässt.

Andererseits ist auch eine Deutung dahingehend möglich, dass eine Bewertung weniger evidenter, "minderer" Fälle explizit nicht vorgenommen worden sei.[23] Nicht erfasst wären somit Fälle, bei denen überhaupt nicht kollusiv zusammengewirkt wird oder dies mit einem nicht ärztlichen Leistungserbringer geschieht (beispielsweise mit einem Patienten oder Dritten). Letztere Konstellation ist auch nur bei Arznei- oder Hilfsmittel denkbar, da Heilmittel persönlich zu erbringende Leistungen nicht ärztlicher Leistungserbringer sind (§ 32 SGBV i.V.m. § 2 I 1 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Heilmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung[sog. Heilmittel-Richtlinie]). Die Einschränkung auf Heilmittelverordnungen ist somit ohnehin nur unter kollusiven Zusammenwirken mit dem Leistungserbringer denkbar und tangiert alle weiteren Konstellationen nicht. Ein letztes Indiz für diese Sichtweise ist die fehlende Auseinandersetzung mit Aspekten, die nach dem Großen Senat die Rechtsmacht des Vertragsarztes zur Konkretisierung des Sachleistungsanspruchs einschränken, wie beispielsweise die aut-idem-Befugnis des Apothekers bei der Verordnung von Arzneimitteln, die bei Heilmittelerbringern so nicht vorgesehen ist.

Sofern man beide Lesarten in Betracht zieht, ist die strafrechtliche Bewertung nur für die Verordnung medizinisch nicht indizierter Heilmittel unter kollusiven Zusammenwirkens von Vertragsarzt und nichtärztlichem Leistungserbringer erfasst. Nicht erfasst sind die Verordnung nur unwirtschaftlicher Arznei-, Hilfs- oder Heilmittel und die medizinisch nicht indizierter Verordnung von Arznei- und Hilfsmittel bei wahlweise gut- (dann in Zusammenwirken mit einem Dritten) oder bösgläubigen Leistungserbringern.

Aufgrund der dargelegten mehrfachen und expliziten Beschränkung im Leitsatz und der Begründung erscheinen die oben skizzierten Bedenken plausibel. Insofern beschränkt sich der Senat somit auf die Feststellung von Minimalvoraussetzungen bei einem "auf den ersten Blick klar strafwürdig[en]Sachverhalt"[24], und präsentiert die zu entscheidende Konstellation beinahe als den evidenten Fall der Vertragsarztuntreue, womit er Raum für eine (Neu-)Bewertung anderer Konstellationen gelassen hat.[25]

Unabhängig von der intendierten Leseart und der damit einhergehenden Unsicherheiten erscheinen die relativierenden Einschränkungen unnötig und sind im Hinblick auf die erhoffte Wirkung der ersten Entscheidung nach dem Vertragsarztbeschluss ernüchternd.

3. Verschleifung von Täterqualität und Tathandlung

Bedenklich ist die Begründung einer Hauptpflicht, weil "es sich bei – wie vorliegend – grober Missachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots um eine gravierende Pflichtverletzung des Arztes handelt,[…]". Denn die gravierende Pflichtverletzung ist ein qualitatives Kriterium der Tathandlung. Die Wirkung des Wirtschaftlichkeitsgebots bei der Verordnungstätigkeit damit zu begründen, dass dessen Verletzung seinerseits gravierend sei, erschließt sich nicht. Vielmehr muss diese Begründung daraufhin untersucht werden, ob es sich um eine verfassungswidrige Verschleifung der beiden Tatbestandsmerkmale der Täterqualität und Tathandlung handelt (dazu sogleich).[26] Der zweite

Senat des Bundesverfassungsgerichts hat ein allgemeines Verschleifungsverbot von Tatbestandsmerkmalen in der Grundsatzentscheidung zur Untreue vom 23. 6. 2010 etabliert.[27] Der Senat gibt dort vor, dass einzelne Tatbestandsmerkmale "auch innerhalb ihres möglichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt werden[dürfen], dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht werden."[28]

Für die Untreue ergibt sich aus diesem allgemeinen Verschleifungsverbot, dass alle Tatbestandsmerkmale ein klar voneinander abgrenzbares Prüfungsprogramm haben müssen.[29] Dabei ist nicht nur die Verschleifung von Tathandlung (Pflichtverletzung) und Taterfolg (Vermögensnachteil) unzulässig; auch die seltener vorkommende Variante der Verschleifung von Täterschaft und Tathandlung ist verfassungswidrig. Diese Art der Verschleifung ist bei der Treubruchvariante denkbar, weil der Vermögensbetreuungspflicht hier täterschaftskonstituierende Wirkung zukommt.[30]

Mit der oben skizzierten Begründung schließt der Senat von (der Schwere) der Pflichtverletzung bei einer Missachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots darauf, dass es sich um eine wichtige, nicht nur beiläufige (Neben-)Pflicht handelt und belegt so die Täterstellung des Vertragsarztes. Ein Begründungsstrang für das Vorliegen der Hauptpflicht greift also erst mit dem Umstand, den es zu vermeiden gilt:[31] Der Vertragsarzt darf keine Verordnung in der Kenntnis ausstellen, dass die verordneten Leistungen nicht erbracht, aber gegenüber den Krankenkassen abgerechnet werden sollen. Tut er dies gleichwohl, spricht die Schwere der durch dieses Verhalten begangenen Pflichtverletzung dafür, dass es sich bei der Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots bei der Verordnungstätigkeit um eine Hauptpflicht handelt, die wiederum zur Bejahung einer Vermögensbetreuungspflicht führt. Dieser skizzierte Eindruck setzt sich fort: Auf den Einwand, die Pflicht zur Wirtschaftlichkeit träfe den Vertragsarzt "nicht unmittelbar im Verhältnis zu den gesetzlichen Krankenkassen"[32], was in den Kategorien der Untreue als ein Indiz gegen die Annahme einer Hauptpflicht sprechen könnte, entgegnet der Senat, dass eine "Norm- oder Obliegenheitsverletzung" auch dann pflichtwidrig (!) sein könne, "wenn eine unmittelbare vertragliche Beziehung nicht besteht, die verletzende Rechtsnorm oder Obliegenheit aber wenigstens auch und sei es mittelbar, vermögensschützenden Charakter hat"[33]. Dieser Aspekt betrifft die Intensität des durch § 266 gewährten Vermögensschutzes und letztlich die Einordnung der Missachtung einer Pflicht als untreuerelevante Tathandlung in Form der Pflichtverletzung. Insofern erscheint die Positionierung des Senates nicht korrekt. Denn vielmehr ist es so, dass sich die Vermögensbetreuungspflicht unstrittig unmittelbar aus dem Verhältnis zwischen Treunehmer und -Geber ergibt; erst im zweiten Schritt, nämlich bei der Frage, ob es sich um eine untreuerelevante Verletzung handelt, kann es ausreichen, dass die Norm nur mittelbar vermögensschützenden und mithin noch andere (Schutz-) Facetten aufweist. Beide Kriterien sind demnach nicht geeignet, das Vorliegen einer Hauptpflicht und damit eine Vermögensbetreuungspflicht zu begründen; vielmehr scheinen die Merkmale der Vermögensbetreuungspflicht und der Pflichtverletzung durch den BGH miteinander kurzgeschlossen. Diese bereits oben angedeuteten analytischen Schwächen in der Begründung bedeuten demnach nicht nur eine störende strukturelle Ungenauigkeit sondern begründen sogar insoweit ein verfassungswidriger Verstoß gegen das Verschleifungsverbot. Im Übrigen hat der Große Senat im Hinblick auf die fehlende Unmittelbarkeit explizit angeführt, dass die Kontrollinstrumentarien nicht alleine den Krankenkassen, sondern auch "gleichermaßen" den kassenärztlichen Vereinigungen obliegen.[34] Daraus ergebe sich, dass dem Vertragsarzt nicht alleine gegenüber den Krankenkassen die Einhaltung zukomme, was wiederrum ein Indiz gegen eine Hauptpflicht darstelle. Interessanterweise dient dieser Umstand dem 4. Senat dazu, das gefundene Ergebnis (Vorliegen einer Hauptpflicht) noch zu untermauern: Denn gerade weil sich die Kassenärztliche Vereinigung und die Krankenkassen die Kontrollmöglichkeiten teilen und die Verordnungstätigkeit diesen zeitlich vorgeschaltet sei, könne der Vertragsarzt eigenverantwortlich agieren. Auch wenn sich dies durchaus hören lassen kann, befriedigt die Argumentation im Hinblick auf den ersten Aspekt keineswegs.

4. Zur Betrugsstrafbarkeit

Zunächst ist die fehlende Auseinandersetzung mit einer möglichen Betrugsstrafbarkeit in der hier zu entscheidenden Fallkonstellation zu monieren: Der Senat hätte eine täterschaftliche Betrugsstrafbarkeit erneut in Betracht ziehen können. Vorweg erscheint es erstaunlich, dass im Hinblick auf den Vertragsarzt nicht gem. § 263 I StGB wegen der Abrechnung von "Luftleistungen" angeklagt worden ist. Denn ein Vertragsarzt wird in Fällen kollusiven Zusammenwirkens, in welchen er Verordnungen für nicht behandelte Patienten ausstellt, diese Patienten in seiner eigenen Quartalsabrechnung angeben.[35] Dies erscheint durchaus naheliegend, soll die Glaubwürdigkeit des Konstrukts aufrechterhalten werden: Vor der Verordnung von Heilmitteln muss der Anspruch des Patienten auf Krankenbehandlung konkretisiert werden; dies kann nur durch eine (abzurechnende) Behandlung vor der Verordnungstätigkeit erfolgen. Mit Blick auf den festgestellten Sachverhalt aber noch viel konsequenter wäre aufgrund des Zusammenwirkens mit den (bösgläubigen) nicht ärztlichen Heilmittelerbringern eine Strafbarkeit wegen mittäterschaftlich begangenen Betrugs gem. §§ 263 I, 25 II gewesen, und zwar gegenüber und zu Lasten der Krankenkasse durch das Einreichen der Verordnung durch die Heilmittelerbringer. Bei entsprechendem Zusammenwirken von Vertragsarzt und Apotheker wird dies ohne weiteres angenommen oder jedenfalls in

Erwägung gezogen.[36] Insbesondere schadet es nicht, dass der Angeklagte selbst nichts von der ausgezahlten Vergütung haben wollte, da eine angestrebte Fremdnützigkeit, die im Merkmal der Drittbereicherungsabsicht Ausdruck gefunden hat, ausreicht.

Weiterhin lässt der Senat die Chance verstreichen, das Verhältnis zwischen Betrug und Untreue in den unter dem Label der Vertragsarztuntreue verhandelten Konstellationen gänzlich neu zu überdenken, wenn er die Verurteilung wegen Beihilfe zum Betrug (unter Beibehaltung des Strafrahmens!) ohne Weiteres wegen ihres Charakters als mitbestrafte Nachtat aufhebt. Wie gesehen liegt die Strafbarkeit wegen Betruges – anders als die wegen Untreue – gerade in dem vom BGH zu entscheidenden Fall viel näher. Der Vertragsarzt schafft durch seine Verordnungstätigkeit die Grundlage für den bösgläubigen Leistungserbringer, das Vermögen der Krankenkassen von außen anzugreifen. Weshalb also eine Strafbarkeit wegen Untreue als Angriff gegen das Vermögen von Innen heraus mit großem Begründungsaufwand überhaupt noch notwendig ist, bleibt offen. Allein das Bedürfnis, den Vertragsarzt als Täter bestrafen zu wollen, ist für die Bejahung einer Untreuestrafbarkeit nicht ausreichend.

IV. Fazit

Die mit großer Spannung erwartete erste höchstrichterliche Entscheidung nach dem Beschluss des Großen Senates führt die etablierte Fallgruppe der Vertragsarztuntreue zumindest grundsätzlich fort. Begrüßenswert ist die ausführliche Begründung der Vermögensbetreuungspflicht und die damit einhergehende Auseinandersetzung mit einigen der vom Großen Senat vorgebrachten Zweifeln, die auch für die Vertragsarztuntreue von Bedeutung sind. Gleichzeitig handelt es sich um die erste höchstrichterliche Entscheidung, die nicht die Verordnung von Arznei- oder Hilfsmitteln, sondern von Heilmitteln zum Gegenstand hat. Auf diese Konstellation möchte der 4. Senat seine Entscheidung und die Begründung – so scheint es – beschränkt sehen. Ob diese Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Möglichkeiten der Erfüllung des Sachleistungsanspruchs tatsächlich vom Senat so bezweckt war und falls ja, ob diese sinnvoll ist, erscheint zweifelhaft. Statt der erhofften vollumfänglichen Klärung der neu entfachten Zweifel an der Fallgruppe wird vielmehr Unsicherheit generiert, so dass die Behandlung aller anderen – auch der bisher umfassten Fälle – der Vertragsarztuntreue weiter offen ist.

Besonders bedenklich ist der Verstoß gegen das verfassungsrechtlich vorgegebene Verschleifungsverbot. Zwei größere Begründungsstränge sind von dieser Verschleifung betroffen, so dass diese für die Bejahung der Vermögensbetreuungspflicht unbrauchbar sind.

Im Übrigen wäre ein grundsätzliches Überdenken der Betrugsstrafbarkeit, insbesondere wenn eine gleichzeitige Täter- bzw. Teilnahmestrafbarkeit gem. § 263 I gegeben ist, wünschenswert gewesen, findet aber nicht statt.


[1] Vgl. neben zahlreichen nicht veröffentlichen Entscheidungen die des ersten Strafsenates, BGH NStZ 2004, 568 ff. = HRRS 2004 Nr. 821, außerdem OLG Hamm NStZ-RR 2006, 13.

[2] Allein und exemplarisch die Reaktionen auf BGHSt 49, 17 ff. und Folgeentscheidung BGH NStZ 2004, 568 ff. = HRRS 2004 Nr. 821: Weidhaas ZMGR 2005, 52-55; Ulsenheimer MedR 2005, 622 – 628: "besorgniserregender Trend"; Taschke StV 2005, 406 – 411; Herffs wistra 2006, 63 – 65, zudem sehr krit. Geis wistra 2007, 361.

[3] Recht anschauliche Gesamtdarstellung dieser Punkte bei Leimenstoll, Vermögensbetreuungspflicht des Vertragsarztes? (2012).

[4] BSGE 105, 157 ff.

[5] Vorlagebeschluss des 3. Senats v. 5.5.2011 (3 StR 458/10) = HRRS 2011 Nr. 800 und der des 5. Senats v. 20.07.2011 (5 StR 115/11) = HRRS 2011 Nr. 801.

[6] BGHSt 57, 202 ff. = HRRS 2012 Nr. 612.

[7] Vorschriften eingefügt durch das Gesetz zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen vom 30.05.2016 (BGBl. I S. 1254), in Kraft getreten am 04.06.2016.

[8] Z.B. von Brand/Hotz PharmR 2012, 317, 321 f., ausführlich von Ransiek medstra 2015, 92 ff.

[9] Das erste erfolgte bereits 2012; dort äußerte das Gericht im Hinblick auf die Zukunft der Vertragsarztuntreue "erhebliche Zweifel" (NStZ-RR 2013, 174 [175]). Das zweite – bestätigende – erfolgte nur eine Woche vor der hier zu besprechenden Entscheidung, StraFo 2016, 393.

[10] BGH NJW 2016, 3253, 3256[29]= HRRS 2016 Nr. 974.

[11] BGH NJW 2016, 3253, 3254[16]= HRRS 2016 Nr. 974.

[12] BGH NJW 2016, 3253, 3254[16]= HRRS 2016 Nr. 974.

[13] BGH NJW 2016, 3253, 3255[24]= HRRS 2016 Nr. 974.

[14] BGH NJW 2016, 3253, 3255 f.[26, 27]= HRRS 2016 Nr. 974.

[15] Bejahung einer Hauptpflicht, weil dem Vertragsarzt eine Stellung mit selbstverantwortlichem Entscheidungsbereich zukomme (BGH NJW 2016, 3253, 3254 [16]= HRRS 2016 Nr. 974), oder auch die Feststellung, dass es für die Annahme einer Hauptpflicht unschädlich sei, dass den Heilmittelerbringern, den gesetzlichen Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen Kontrollpflichten zukommen BGH NJW 2016, 3253, 3255[25]= HRRS 2016 Nr. 974).

[16] BGHSt 57, 202[37]= HRRS 2012 Nr. 612; krit. dazu Bülte NZWiSt 2013, 346 (350).

[17] So Hinderer StraFo 2016, 481 (482 f.).

[18] Vgl. Saliger Parteiengesetz und Strafrecht (2005), S. 30 Fn. 57.

[19] Auswirkungen für wahrscheinlich hielten z.B. Hotz/Brand PharmR 2012, 317 (321 f.) und Ransiek medstra 2015, 92 (97)

[20] BGH NJW 2016, 3253 Leitsatz und 3256[31]= HRRS 2016 Nr. 974, Hervorhebungen der Verfasserin.

[21] BGH NJW 2016, 3253, 3254[14]HRRS 2016 Nr. 974.

[22] Die erste Entscheidung (BGHSt 49,17): Arzneimittelverordnung – kalorienreiche Nahrung. Die Folgeentscheidung: BGH NStZ 2004, 568 = HRRS 2004 Nr. 821: Arzneimittelverordnung – "Medikamente".

[23] Ebenfalls in diese Richtung Hinderer StraFo 2016, 481 f.

[24] Hinderer StraFo 2016, 481.

[25] Einzig der Hinweis auf Taschke StV 2005, 406 (408) in BGH NJW 2016, 3254, 3256[31]= HRRS 2016 Nr. 974 und auf die von ihm besprochenen "eindeutigen Fälle missbräuchlicher Verschreibung von Medikamenten" deuten darauf hin, dass die eigene Einschränkung jedenfalls nicht alle Fälle der bisherigen Vertragsarztuntreue durch Verordnung von Arzneimitteln ausgeschlossen werden sollen. Freilich bezieht sich der Hinweis nicht auf die Vermögensbetreuungspflicht, sondern bereits auf die Tathandlung (Pflichtverletzung).

[26] Dazu Saliger in: SSW-StGB, 3. Aufl. (2016), § 266 Rn. 8; ders. in: ERST: Wirtschaftsstrafrecht, § 266 Rn. 16 Fn. 18; vgl. auch OLG Celle BeckRS 2013, 15199.

[27] So auch Saliger NJW 2010, 3195.

[28] BVerfG NJW 2010, 3209 (3211 Rn. 79).

[29] Saliger (Fn. 26) § 266 Rn. 8.

[30] Saliger (Fn. 18), S. 30 Fn. 57.

[31] Vgl. dazu OLG Celle BeckRS 2013, 15199.

[32] BGHSt 57, 202[44]= HRRS 2012 Nr. 612.

[33] BGH NJW 2016, 3255[24]= HRRS 2016 Nr. 974.

[34] BGHSt 57, 202[44]= HRRS 2012 Nr. 612.

[35] Zu dieser Fallgruppe des Abrechnungsbetrugs exemplarisch Ellbogen/Wichmann MedR 2007, 10 (11).

[36] Vgl. nur Ulsenheimer in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl. (2010), § 151 Rn. 16 und Schuhr in: Spickhoff, Medizinrecht, 2. Aufl. (2014), § 263 Rn. 11.