HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2016
17. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

994. BVerfG 1 BvR 2022/16 (3. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 9. September 2016 (OLG München)

Einstweilige Anordnung gegen eine sitzungspolizeiliche Verfügung (Beschränkung der Bildberichterstattung; Presse- und Rundfunkfreiheit; allgemeines Persönlichkeitsrecht; Ermessensausübung; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Ablehnung des Betroffenen kein ausreichender Grund für ein Aufnahmeverbot; Anonymisierungsanordnung als milderes Mittel gegenüber einem Aufnahmeverbot; Informationsinteresse der Öffentlichkeit auch bezüglich der Mitglieder des Spruchkörpers; unverhältnismäßige Beschränkung von Aufnahmen der Mitglieder des Spruchkörpers auf die Zeit vor Aufruf der Sache; Vorrang der „Pool-Lösung“; Folgenabwägung bei Anonymisierungsanordnung; Überwiegen der Interessen des Angeklagten).

Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 176 GVG

1. Beim Erlass einer sitzungspolizeilichen Anordnung, welche Bildaufnahmen am Rande der Hauptverhandlung untersagt oder Beschränkungen unterwirft, hat der Vorsitzende den Schutz der Pressefreiheit und die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten in den Blick zu nehmen. Daneben muss er im Rahmen seiner Ermessensausübung auch den Anspruch der Beteiligten auf ein faires Verfahren und die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten.

2. Die Anordnung, dass Bildaufnahmen abzubrechen sind, wenn eine Person – mit Ausnahme von Richtern, Verteidigern und Vertretern der Staatsanwaltschaft – die Aufnahme erkennbar abwehrt, legt die Entscheidung über eine Bildberichterstattung allein in die Hand der Beteiligten und verletzt damit das Grundrecht auf Pressefreiheit.

3. Ein vollständiges Verbot von Rundfunkaufnahmen ist unverhältnismäßig, wenn dem Schutz kollidierender Belange bereits durch die Anordnung Rechnung getragen werden kann, Bildaufnahmen von Personen mit besonderem Schutzanspruch zu anonymisieren. Bei einem gewichtigen Informationsinteresse der Öffentlichkeit kann das Risiko einer verbleibenden Erkennbarkeit für den engeren Bekanntenkreis des Betroffenen hingenommen werden, soweit ihm nicht gerade aus dieser Richtung erhebliche Gefahren drohen.

4. Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit ist regelmäßig auch auf die Mitglieder des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers gerichtet, die in geringerem Maße als Privatpersonen Anspruch auf Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte haben, so etwa dann, wenn die Veröffentlichung von Abbildungen eine erhebliche Belästigung oder eine Gefährdung ihrer Sicherheit bewirken kann.

5. Eine Anordnung, die Bildaufnahmen der Mitglieder des Spruchkörpers nur vor Aufruf der Sache zulässt, schränkt die Presse- und Rundfunkfreiheit unverhältnismäßig ein, wenn sie lediglich mit Verzögerungen zwischen Aufruf und Sitzungsbeginn gerechtfertigt wird. Bei einer erheblichen Anzahl von Medienvertretern sind Störungen des äußeren Ablaufs der Sitzung durch eine sogenannte Pool-Lösung zu vermeiden.

6. Bei der Folgenabwägung im Rahmen eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen eine den Angeklagten betreffende Anonymisierungsanordnung wiegt die Beeinträchtigung der Presse- und Rundfunkfreiheit gegenüber den dem Angeklagten durch eine nicht anonymisierte Bildberichterstattung drohenden, nicht rückgängig zu machenden Nachteilen weniger schwer.


Entscheidung

995. BVerfG 2 BvR 770/16 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 1. September 2016 (OLG Düsseldorf)

Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen nach Frankreich aufgrund eines Europäischen Haftbefehls (Recht auf effektiven Rechtsschutz; Überprüfbarkeit der Auslieferungsunterlagen; notwendige Angaben zu den Tatumständen; Angaben zu Tat und Tatort; Zweifel an ausreichendem Auslandsbezug bei möglichem Handlungsort im Inland); Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde mangels Vorlage des Europäischen Haftbefehls.

Art. 16 Abs. 2 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 80 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 IRG; § 83a Abs. 1 Nr. 5 IRG; Art. 8 Abs. 1 Buchstabe e RbEuHb; § 9 StGB

1. Zur Effektivität des Rechtsschutzes gehört es, dass Auslieferungsunterlagen oder ein ihnen gleichstehender Europäischer Haftbefehl eine den betroffenen Grundrechten angemessene gerichtliche Überprüfung erlauben. Den Unterlagen müssen sich die Umstände entnehmen lassen, unter denen die dem Auslieferungsersuchen zugrundeliegende Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit, des Tatortes und der Tatbeteiligung der auszuliefernden Person.

2. Eine dem Art. 16 Abs. 2 GG angemessene gerichtliche Überprüfung, ob die einem deutschen Staatsangehörigen vorgeworfenen Taten, wegen derer die französischen Behörden um seine Auslieferung ersuchen, zumindest teilweise auf französischem Hoheitsgebiet begangen worden sind, ist nicht möglich, wenn in den Auslieferungsunterlagen als Tatort lediglich „in Paris und in Frankreich generell [...]“ angegeben ist, ohne dass nachvollziehbar ist, durch welche konkreten Handlungen und an welchen Orten die dem Beschuldigten zur Last gelegten „Geldbeschaffungen“ zu Gunsten krimineller Organisationen ausgeführt worden sein sollen.

3. Dem über die Auslieferung entscheidenden Gericht ist es nicht gestattet, derartige Mängel der Auslieferungsunterlagen dadurch zu übergehen, dass es davon ausgeht, ein maßgeblicher Auslandsbezug bestehe – ungeachtet eines möglichen Handlungsorts im Inland – jedenfalls dann, wenn Geldwäschevorwürfe im Zusammenhang mit dem organisierten, illegalen internationalen Verkauf von Betäubungsmitteln im Raum ständen, die typischerweise eine grenzüberschreitende Dimension und eine entsprechende Schwere aufwiesen.

4. Die Verfassungsbeschwerde gegen eine Auslieferungsentscheidung ist nicht in der nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG erforderlichen Weise begründet, wenn der der Auslieferung zugrundeliegende Europäische Haftbefehl weder vorgelegt noch dessen wesentlicher Inhalt mitgeteilt wird. Die Vorlage eines in derselben Sache ergangenen internationalen Haftbefehls ersetzt die Wiedergabe des nicht notwendigerweise inhaltsgleichen Europäischen Haftbefehls nicht.


Entscheidung

996. BVerfG 2 BvR 1103/16 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 10. Oktober 2016 (OLG Frankfurt am Main / LG Marburg)

Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Nichteinhaltung der gesetzlichen Überprüfungsfrist; Sicherstellung einer rechtzeitigen Entscheidung; verfahrensrechtliche Absicherung des Freiheitsgrundrechts; Darlegung der Gründe einer Fristüberschreitung in der Fortdauerentscheidung; Fristsetzung gegenüber dem Sachverständigen).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 66 StGB; § 67e Abs. 2 StGB

1. Die gesetzlichen Vorschriften über die regelmäßige Überprüfung der weiteren Vollstreckung der Sicherungsverwahrung dienen der Wahrung des Übermaßverbots bei der Beschränkung des Freiheitsgrundrechts. Das Vollstreckungsgericht muss eine rechtzeitige Entscheidung vor Ablauf der Überprüfungsfrist sicherstellen und dabei berücksichtigen, dass der Betroffene in aller Regel persönlich anzuhören und gegebenenfalls sachverständig zu begutachten ist.

2. Im Falle einer Überschreitung der Überprüfungsfrist hat das Vollstreckungsgericht die Gründe der Fristüberschreitung in der Fortdauerentscheidung darzulegen. Dies dient der verfahrensrechtlichen Absicherung des Freiheitsgrundrechts und soll eine Überprüfung ermöglichen, ob die Fristüberschreitung trotz sorgfältiger Führung des Verfahrens zustande kam oder ob sie auf einer Fehlhaltung gegenüber dem das Grundrecht sichernden Verfahrensrecht beruhte.

3. Die Gestaltung des Überprüfungsverfahrens beruht auf einer unrichtigen Anschauung der grundrechtssichernden Bedeutung der gesetzlichen Überprüfungsfristen, wenn sich die Strafvollstreckungskammer auf Sachstandsanfragen an den beauftragten Sachverständigen beschränkt, ohne diesem eine Frist zur Vorlage des Gutachtens zu setzten, und wenn in der Fortdauerentscheidung zur Begründung der Fristüberschreitung lediglich pauschal auf den Verfahrensverlauf verwiesen wird.