HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2016
17. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

859. BVerfG 2 BvR 890/16 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 6. September 2016 (KG)

Auslieferung an das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland aufgrund eines Europäischen Haftbefehls (Anwendungsvorrang des Unionsrechts; Verfassungsidentität als Grenze des Anwendungsvorrangs; grundsätzliches Vertrauen gegenüber Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtsschutz; Erschütterung des Vertrauens im Einzelfall; Prüfungspflicht der Gerichte; Schweigerecht des Beschuldigten im Strafverfahren; nemo tenetur se ipsum accusare; Rechtsstaatsprinzip; Recht auf ein faires Verfahren; Schweigen des Beschuldigten als belastendes Indiz; Schutz der Menschenwürdegarantie nur für den Kernbereich der Selbstbelastungsfreiheit; Auslieferungsverbot nur bei drohender Kernbereichsverletzung).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG; Art. 79 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 35 Criminal Justice and Public Order Act [GB]; § 38 Abs. 3 Criminal Justice and Public Order Act [GB]

1. Der Auslieferungsverkehr der Bundesrepublik Deutschland mit anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist durch den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl unionsrechtlich determiniert. Entsprechende Akte der deutschen öffentlichen Gewalt sind mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich nicht am Maßstab der im Grundgesetz verankerten Grundrechte zu messen.

2. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts findet seine Grenzen jedoch in den durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für änderungs- und integrationsfest erklärten Grundsätzen der Verfassung, zu denen namentlich die Garantien des Art. 1 GG zählen. Deren Verletzung kann mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden (Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 - 2 BvR 2735/14 - [= HRRS 2016 Nr. 100]).

3. Einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ist im Hinblick auf die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich besonderes Vertrauen entgegenzubringen. Das Vertrauen kann jedoch erschüttert werden, wenn im Einzelfall tatsächliche Anhaltspunkte dafür sprechen, dass bei einer Auslieferung die unverzichtbaren Anforderungen an den Schutz der Menschenwürde nicht eingehalten würden. Das über die Auslieferung entscheidende Gericht trifft insoweit die Pflicht, Ermittlungen hinsichtlich der Rechtslage und der Praxis im ersuchenden Mitgliedstaat vorzunehmen, wenn der Betroffene hinreichende Anhaltspunkte hierfür dargelegt hat.

4. Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten im Strafverfahren (nemo tenetur se ipsum accusare) ist notwendiger Ausdruck einer auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhenden rechtsstaatlichen Grundhaltung. Dementsprechend gehört das Schweigerecht des Beschuldigten im Strafverfahren seit Langem zu den anerkannten Grundsätzen des deutschen Strafprozesses. Ein Schweigen darf jedenfalls dann nicht als belastendes Indiz gegen den Beschuldigten verwendet werden, wenn er die Einlassung zur Sache vollständig verweigert.

5. Allerdings unterfällt nicht jede verfassungsrechtlich gewährleistete Ausprägung der Selbstbelastungsfreiheit auch unmittelbar dem Schutz von Art. 1 GG. Aus der Menschenwürdegarantie folgt nicht, dass ein Schweigen des Beschuldigten unter keinen Umständen einer Beweiswürdigung unterzogen und gegebenenfalls zu seinem Nachteil verwendet werden darf. So können etwa in bestimmten Konstellationen des Teilschweigens aus dem Aussageverhalten des Beschuldigten Schlüsse zu dessen Ungunsten gezogen werden.

6. Eine Auslieferung auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls ist nicht schon dann unzulässig, wenn die Selbstbelastungsfreiheit im Prozessrecht des ersuchenden Staates nicht in demselben Umfang gewährleistet ist, wie dies von Verfassungs wegen im deutschen Strafverfahren der Fall ist, sondern erst dann, wenn der dem Schutz von Art. 1 GG unterfallende Kernbereich des nemo-tenetur-Grundsatzes nicht mehr gewährleistet ist.

7. Droht einem Auszuliefernden im ersuchenden Staat (hier: Großbritannien) ein Strafverfahren, in dem sein Schweigen und die Nichtbeantwortung einzelner Fragen im Rahmen der Beweiswürdigung zu seinem Nachteil gewertet werden, jedoch nicht alleinige Grundlage einer Verurteilung sein können, so schränkt dies zwar die Selbstbelastungsfreiheit ein, wie sie durch das Grundgesetz gewährleistet wäre. Die Einschränkung berührt jedoch nicht den Kernbereich der Selbstbelastungsfreiheit und lässt daher keine Verletzung der Menschenwürde besorgen (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Mai 2016 [= HRRS 2016 Nr. 517]). Dieses Ergebnis findet eine Stütze auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.


Entscheidung

860. BVerfG 2 BvR 1454/13 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 6. Juli 2016 (LG Ellwangen)

Überwachung der Internetnutzung im Ermittlungsverfahren (Begriff der Telekommunikation in Grundgesetz und Strafprozessordnung; Verfassungsmäßigkeit einer weiten Auslegung; Berücksichtigung des Gewährleistungsgehalts des Telekommunikationsgeheimnisses; Nachrangigkeit des Grundrechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme; längerfristige Überwachung des gesamten Internetverkehrs eines Beschuldigten; Eingriffstiefe und Rechtfertigung; Verhältnismäßigkeit im Einzelfall).

Art. 10 GG; Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG, Art. 80 Abs. 2 GG; Art. 87f GG; § 100a StPO; § 101 Abs. 7 StPO; § 3 Nr. 22 TKG; § 3 Nr. 23 TKG

1. Die in der Rechtsprechung verbreitete weite Auslegung des Begriffs der Telekommunikation in § 100a StPO im Sinne eines Aussendens, Übermittelns und Empfangens von Nachrichten jeglicher Art, das auch die Nutzung des Internets durch Abrufen von Web-Seiten, „Surfen“ und die Eingabe von Suchbegriffen umfasst, ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

2. Bei der Auslegung des Begriffs der Telekommunikation ist auch der von Art. 10 Abs. 1 GG gewährleistete Persönlichkeitsschutz zu berücksichtigen. Der Schutz der Vertraulichkeit knüpft dabei nicht an die Beteiligten der Kommunikation, sondern an den Übermittlungsvorgang und das dabei genutzte Medium an. Erfasst ist jeder Vorgang einer unkörperlichen Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger und damit auch der empfängergesteuerte Abruf von Informationen aus dem Internet.

3. Das aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme findet nur Anwendung, soweit die anderen Freiheitsgewährleistungen, wie insbesondere der Schutz des Telekommunikationsgeheimnisses, der Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung sowie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung keinen oder keinen hinreichenden Schutz gewähren.

4. § 100a StPO ist verfassungskonform. Insbesondere sind das Bestimmtheitsgebot und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht verletzt. Auch genügen die gesetzlichen Vorkehrungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung sowohl auf der Erhebungsebene als auch in der Auswertungsphase den verfassungsrechtlichen Anforderungen (Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 12. Oktober 2011 - 2 BvR 236/08 u. a. - [= HRRS 2012 Nr. 29]).

5. Auch eine längerfristige Überwachung des gesamten Internetverkehrs eines Beschuldigten ist im Grundsatz verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das damit verbundene quantitative Mehr an überwachter Kommunikation im Vergleich zur Telefonüberwachung wird regelmäßig dadurch aufgewogen, dass lediglich Einzelakte einer oft nur kurzen und oberflächlichen Telekommunikation zur Kenntnis genommen werden.

6. Bei der Überwachung des Internetverkehrs muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch im Einzelfall gewahrt sein. Insoweit ist zu prüfen, ob sich die Ermittlungen nicht auf die Überwachung etwa des Telefon- und E-Mail-Verkehrs beschränken können und ob die Maßnahme im Hinblick auf die Schwere der Tat und die Stärke des Tatverdachts gerechtfertigt ist.


Entscheidung

858. BVerfG 2 BvR 661/16 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 14. Juli 2016 (BGH / LG Erfurt)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Verurteilung eines Richters am Amtsgericht wegen Rechtsbeugung (richterliche Unabhängigkeit als grundrechtsähnliches Individualrecht; Verfassungsmäßigkeit des Amtsverlustes bei rechtskräftiger strafrechtlicher Verurteilung; Bindung des Richters an Gerichtsentscheidungen nur aufgrund gesetzlicher Anordnung; konstitutionelle Uneinheitlichkeit der Rechtspflege; Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht; einschränkende Auslegung des Rechtsbeugungstatbestandes; unvertretbare Rechtsanwendung bei sachfremden Motiven); angemessene zeitliche Rahmenbedingungen als Voraussetzung verantwortungsvoller richterlicher Tätigkeit (richterliches Beurteilungswesen als Anreiz für möglichst rasche Verfahrenserledigung auch unter Inkaufnahme inhaltlicher Defizite; unzureichende personelle Ausstattung der Strafjustiz der Länder).

Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 33 Abs. 5 GG; Art. 97 GG; § 90 BVerfGG; § 339 StGB

1. Zu den hergebrachten Grundsätzen des richterlichen Amtsrechts, die ein Richter als grundrechtsähnliche Individualrechte geltend machen kann, zählt insbesondere auch der Grundsatz der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit.

2. Mit der Garantie der persönlichen Unabhängigkeit ist die gesetzliche Anordnung des Amtsverlustes bei rechtskräftiger strafrechtlicher Verurteilung ebenso vereinbar wie die Entfernung aus dem Amt im Rahmen eines förmlichen, gerichtlichen Disziplinar- bzw. Dienststrafverfahrens.

3. Die sachliche Unabhängigkeit ist durch ein Gesetz nicht verletzt, das den Richter an die Entscheidungen eines anderen Gerichts bindet. Fehlt es hingegen an einer solchen Bindungsanordnung, ist ein Richter grundsätzlich nicht gehindert, entgegen der Ansicht auch eines im Rechtszug übergeordneten Gerichts eine eigene Rechtsauffassung zu vertreten.

4. Jedoch ist die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Diese Bindung konkretisiert die den Richtern anvertraute Aufgabe der rechtsprechenden Gewalt. Die Garantie der sachlichen Unabhängigkeit soll insoweit sicherstellen, dass die Gerichte ihre Entscheidung allein an Gesetz und Recht ausrichten.

5. Die einschränkende Auslegung des Rechtsbeugungstatbestandes, die voraussetzt, dass der Richter sich „bewusst in schwer wiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt“, wahrt die richterliche Unabhängigkeit, indem sie sicherstellt, dass eine Verurteilung nur dann erfolgt, wenn der Richter sich bei seiner Entscheidung nicht allein an Gesetz und Recht orientiert.

6. Eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Richter unter grobem Verstoß gegen die Amtsaufklärungspflicht und in der Absicht, die Bußgeldbehörde zu disziplinieren, mehrfach die Betroffenen von Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen eines „Verfahrenshindernisses“ freispricht, weil das Messprotokoll und der Eichschein für das bei den jeweiligen Verkehrskontrollen verwendete Messgerät den Akten nicht beigefügt waren (Folgeentscheidung zu BGH, Beschluss vom 24. Februar 2016 – 2 StR 533/15).

7. Der Richter kann seiner persönlichen Verantwortung allerdings nur dann gerecht werden, wenn ihm ausreichend Zeit zu einer allein an Recht und Gesetz orientierten Bearbeitung des Falles zur Verfügung steht. Bei der Beurteilung, ob ein Richter das Recht in unvertretbarer Weise angewendet hat, kann daher im Einzelfall zu berücksichtigen sein, dass das System der Bewertung richterlicher Arbeit auch anhand quantitativer Gesichtspunkte Anreize für eine möglichst rasche Verfahrenserledigung auch unter Inkaufnahme inhaltlicher Defizite schafft und dass die Länder steigenden Belastungen der Strafjustiz nicht durch eine entsprechende personelle und sachliche Ausstattung Rechnung getragen haben.


Entscheidung

863. BVerfG 2 BvR 2748/14 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 14. Juli 2016 (LG Tübingen / AG Reutlingen)

Wohnungsdurchsuchung zur Aufklärung einer Verkehrsordnungswidrigkeit (Wohnungsgrundrecht; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; besondere Bedeutung im Ordnungswidrigkeitenverfahren; Fahrtenbuchauflage kein milderes Mittel gegenüber der Durchsuchung; grundsätzliche Zulässigkeit der Durchsuchung auch bei Ordnungswidrigkeiten; keine schematische Untergrenze mit Blick auf die Bußgeldhöhe; Abwägung im Einzelfall; Vorrang eines anthropologischen Sachverständigengutachtens bei qualitativ gutem Beweisfoto; kein abstrakter Vorrang der Durchsuchung wegen „regelmäßig kurzer Verjährungsfristen“ im Ordnungswidrigkeitenrecht).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 102 StPO; § 105 StPO; § 33 OWiG; § 46 Abs. 1 OWiG; § 24 StVG; § 49 Abs. 1 Nr. 3 StVO; § 31a StVZO

1. Dem mit einer Durchsuchung verbundenen erheblichen Grundrechtseingriff entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Durchsuchung muss zur Ermittlung und Verfolgung der vorgeworfenen Tat erforderlich und mit Blick auf den verfolgten gesetzlichen Zweck erfolgversprechend sein und in angemessenem Verhältnis

zu der Schwere der vorgeworfenen Straftat oder Ordnungswidrigkeit und der Stärke des Tatverdachts stehen.

2. Im Ordnungswidrigkeitenverfahren kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zu. Bei der Abwägung zwischen Grundrechtseingriff und staatlichem Verfolgungsinteresse ist das im Vergleich zum Vorwurf einer Straftat stets geringere Gewicht einer Ordnungswidrigkeit zu berücksichtigen. Auch beansprucht im Bußgeldverfahren Legalitätsprinzip keine Geltung, so dass von Eingriffsbefugnissen regelmäßig zurückhaltender Gebrauch zu machen ist.

3. Die Beurteilung der Erforderlichkeit einer Maßnahme muss sich an der Ermittlung und Verfolgung der bereits begangenen Tat messen lassen. Im Bußgeldverfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung im Straßenverkehr ist daher die Verhängung einer Fahrtenbuchauflage wegen deren abweichender Zielrichtung nicht als milderes Mittel der Durchsuchung zur Identifikation des Fahrers vorzuziehen.

4. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt nicht, bei Ordnungswidrigkeiten generell von einer Durchsuchung und Beschlagnahme abzusehen; ebensowenig existiert eine schematische Untergrenze etwa im Hinblick auf die Bußgeldhöhe. Vielmehr ist eine Einzelfallabwägung vorzunehmen, bei der neben der Schwere der Tat und der Stärke des Tatverdachts insbesondere die Auffindewahrscheinlichkeit, etwa bereits vorhandenes oder anderweitig zu gewinnendes Beweismaterial, Voreintragungen des Betroffenen im Verkehrszentralregister, die Art der betroffenen Räumlichkeiten sowie Schutzvorkehrungen zur Beschränkung der Maßnahme zu berücksichtigen sind.

5. Eine Wohnungsdurchsuchung mit dem Ziel, Kleidungsstücke zur Ermittlung des Fahrers eines Motorrades aufzufinden, dem eine mit einer Geldbuße von 80,– Euro – und nicht mit einem Fahrverbot – bedrohte Geschwindigkeitsüberschreitung zur Last gelegt wird, ist im Einzelfall unverhältnismäßig, wenn die außergewöhnlich gute Qualität des Überwachungsfotos die Identifikation mittels eines anthropologischen Sachverständigengutachtens erfolgversprechend erscheint. Da die Beauftragung eines Sachverständigen die Verjährung unterbricht, darf die Durchsuchung auch nicht unter pauschalem Verweis auf die „regelmäßig kurzen Verjährungsfristen“ im Ordnungswidrigkeitenrecht für vorrangig erachtet werden.


Entscheidung

864. BVerfG 2 BvR 2040/15 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 27. Juli 2016 (OLG Celle)

Zulässigkeit eines Klageerzwingungsantrags (Ermittlungsverfahren wegen tödlicher Schüsse eines Polizeibeamten; Recht auf effektiven Rechtsschutz; Darlegungsanforderungen an einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung; Mitteilung des wesentlichen Inhalts der maßgeblichen Beweismittel; Wiedergabe auch entlastender Umstände).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 170 Abs. 2 StPO; § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO; § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 212 StGB

1. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO so auszulegen, dass der Klageerzwingungsantrag in groben Zügen den Gang des Ermittlungsverfahrens, den Inhalt der angegriffenen Bescheide und die Gründe für ihre Unrichtigkeit wiedergeben und eine aus sich selbst heraus verständliche Schilderung des Sachverhalts enthalten muss, der bei Unterstellung des hinreichenden Tatverdachts die Erhebung der öffentlichen Klage rechtfertigt.

2. Die Darlegungsanforderungen an einen Klageerzwingungsantrag dürfen nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht überspannt werden. Allerdings ist die einfachgesetzlich implizit vorgesehene Vorgabe verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass dem Gericht eine Schlüssigkeitsprüfung ohne Rückgriff auf die Ermittlungsakten allein auf der Grundlage des gestellten Antrags möglich sein muss.

3. In einem Klageerzwingungsantrag, der maßgeblich auch mit Inhalten aus den Ermittlungsakten begründet wird, ist der wesentliche Inhalt der Beweismittel mitzuteilen, aus denen auszugsweise vorgetragen oder zitiert wird. Insoweit ist es auch hinzunehmen, dass der Antragsteller verpflichtet ist, gegebenenfalls Umstände vorzutragen, die den Beschuldigten entlasten können.

4. Der Inhalt eines Beweismittels, der in den staatsanwaltschaftlichen Bescheiden keine Rolle spielt, muss hingegen nicht dargestellt werden, soweit es der Antragsschrift gelingt, ohne Rückgriff auf die Ermittlungsakten die Unrichtigkeit der staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen darzustellen und auf der Grundlage der dort verarbeiteten Ermittlungsergebnisse schlüssig das Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts darzulegen.

5. Ein Klageerzwingungsantrag darf zurückgewiesen werden, wenn die Antragsschrift aus den Angaben eines maßgeblichen Zeugen nur selektiv zitiert. Widersprüchlich und verfassungsrechtlich bedenklich wäre es hingegen, einerseits die Möglichkeit einer Schlüssigkeitsprüfung allein auf Grundlage der Antragsschrift zu fordern, andererseits aber unter Hinweis auf die Ermittlungsakten anzunehmen, die Antragsschrift gebe nicht das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen wieder.


Entscheidung

861. BVerfG 2 BvR 1468/16 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 28. Juli 2016 (OLG Karlsruhe)

Auslieferung an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung (georgischer Staatsangehöriger; unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Verbot grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Strafen; grundsätzliches Vertrauen in Zusicherungen des ersuchenden Staates; enge Auslegung des § 10 Abs. 2 IRG; Willkürmaßstab).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 3 EMRK; § 10 Abs. 2 IRG; § 73 Satz 1 IRG; § 250 Abs. 1 StGB

1. Im Auslieferungsverfahren haben die deutschen Gerichte von Amts wegen aufzuklären, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte des ersuchenden Staates mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen vereinbar sind. Hierzu zählt insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; auch darf die

dem Auszuliefernden drohende Strafe oder Behandlung nicht grausam, unmenschlich oder erniedrigend sein.

2. Die einem Auszuliefernden konkret drohende Strafe von bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe erscheint nicht unerträglich hart oder grob unverhältnismäßig, wenn das deutsche Strafrecht für einen vergleichbaren Fall nach § 250 Abs. 1 StGB ebenfalls eine Strafe von nicht unter drei bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe androht.

3. Im Auslieferungsverkehr, insbesondere wenn er auf einer völkervertraglichen Grundlage durchgeführt wird, ist dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen. Dieser Grundsatz kann nur durch begründete Anhaltspunkte für die Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung erschüttert werden.

4. Völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen in Bezug auf eine konventionskonforme Behandlung sind geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Garantie nicht eingehalten wird.

5. Zweifel an der Einhaltung der Zusicherung können dadurch zerstreut werden, dass der ersuchende Staat die Garantie abgibt, Mitarbeitern der Deutschen Botschaft oder – im Falle einer Erkrankung des Verfolgten – von der Botschaft bestimmten Ärzten werde die Möglichkeit gegeben, den Verfolgten nach seiner Auslieferung in der Vollzugsanstalt zu besuchen, um die Einhaltung der Zusicherung zu kontrollieren.

6. Es ist nicht willkürlich und daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das die Auslieferung gestattende Gericht die Vorschrift des § 10 Abs. 2 IRG eng auslegt und in eine nähere Prüfung des hinreichenden Tatverdachts nur eintritt, wenn angesichts auf der Hand liegender Umstände – etwa aufgrund eines sicheren Alibis – eine Täterschaft des Auszuliefernden zweifelsfrei ausgeschlossen erscheint, während es Beweismittel nicht genügen lässt, deren Glaubwürdigkeit und Relevanz erst noch zu überprüfen ist.


Entscheidung

862. BVerfG 2 BvR 2474/14 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 14. Juli 2016 (LG Trier / AG Trier)

Durchsuchung einer Wohnung aufgrund eines anonymen Hinweises (Wohnungsgrundrecht; Anfangsverdacht; besonders sorgfältige Prüfung der Durchsuchungsvoraussetzungen bei Angaben anonymer Hinweisgeber; Pflicht der Ermittlungsbehörden zur Aktenvollständigkeit; fehlende Mitteilung an den Ermittlungsrichter über einen polizeilichen Fahndungsaufruf in der Presse).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 102 StPO; § 105 StPO; § 168b Abs. 1 StPO; § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB

1. Der mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundene schwerwiegende Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützte räumliche Lebenssphäre des Einzelnen setzt zu ihrer Rechtfertigung einen Anfangsverdacht voraus, der über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen und auf konkreten Tatsachen beruhen muss.

2. Angaben anonymer Hinweisgeber sind als Verdachtsquelle zur Aufnahme weiterer Ermittlungen zwar nicht generell ausgeschlossen; jedoch müssen im Hinblick auf die schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten wegen der erhöhten Gefahr und des nur schwer bewertbaren Risikos einer falschen Verdächtigung die Voraussetzungen für eine Durchsuchung besonders sorgfältig geprüft werden.

3. Als Grundlage für eine Durchsuchung kann eine anonyme Aussage nur genügen, wenn sie von beträchtlicher sachlicher Qualität ist oder wenn mit ihr zusammen schlüssiges Tatsachenmaterial vorgelegt worden ist. Neben dem Gehalt der anonymen Aussage sind auch etwaige Gründe für die Nichtoffenlegung der Identität der Auskunftsperson in den Blick zu nehmen.

4. Um die nach Art. 13 Abs. 2 GG gebotene Prüfung durch den Richter sicherzustellen, ist es von Verfassungs wegen erforderlich, dass die Ermittlungsbehörden die Einhaltung des Grundsatzes der Aktenwahrheit und der Aktenvollständigkeit gewährleisten. Der Ermittlungsrichter muss das bisherige Ergebnis des Verfahrens und seine Entwicklung ohne Abstriche nachvollziehen können.

5. Die Verpflichtung zur Aktenvollständigkeit ist verletzt, wenn die Ermittlungsbehörden bei Vorlage der Akten an den Ermittlungsrichter die Information nicht weitergeben, dass sie vor Eingang eines anonymen telefonischen Hinweises, auf den der Tatverdacht gegen einen Beschuldigten maßgeblich gestützt werden soll, einen Fahndungsaufruf in der Presse veröffentlicht haben, in dem die später von dem Anrufer genannten Informationen über den verfahrensgegenständlichen Wohnungseinbruchsdiebstahl – Tatörtlichkeit, entwendete Gegenstände – bereits enthalten waren.

6. Auch in Verbindung mit dem unsubstantiierten Hinweis der Ermittlungsbehörden, der von dem anonymen Hinweisgeber bezichtigte Beschuldigte habe bereits früher Eigentumsdelikte begangen, genügt die anonyme Anzeige nicht zur Begründung eines Anfangsverdachts.