HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2016
17. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Rücknahme von Notwehrbefugnissen unter dem Deckmantel eines sozialethisch zu missbilligenden Vorverhaltens? – Zur Dialektik einer Entwicklung

Anmerkung zu BGH, Urteil vom 14. Oktober 2015, Az.: 2 StR 10/15 = HRRS 2016 Nr. 56

Von Priv.-Doz. Dr. Lutz Eidam, LL.M., Tübingen/Frankfurt am Main

I. In einer Zeit, die von ständiger Strafausdehnung und immer wieder neu formulierten Bestrafungsbedürfnissen gekennzeichnet ist, kommt bereits der Bejahung eines tatbestandsmäßigen Verhaltens so etwas wie ein strafnahes Gewicht zu. Dieses strafnahe Gewicht macht es den Rechtfertigungsgründen in der Tendenz immer schwerer, dagegen anzukommen[1] , was möglicherweise zeigt, dass auch die Rechtfertigungsgründe ein Indikator für politische Grundanschauungen sind.[2] In neuerer Zeit manifestiert sich ein eben solches "Druckpotential" vermehrt (und wohl auch beständig) im Feld der sozialethischen Einschränkungen der Notwehr, die nach der ganz überwiegenden Auffassung anhand des "schillernden"[3] tatbestandlichen Merkmals der Gebotenheit der Notwehrhandlung zu erörtern sind[4] und offensichtlich dazu dienen, die Rigorosität des Gesetzes (und damit des Notwehrrechts[5] ) zu durchbrechen.[6] Hier – so heißt es jedenfalls in der neueren Rechtsprechung – könne bereits ein "sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten" zu Einschränkungen des Notwehrrechts führen. Was das genau ist, bleibt dunkel.[7] Im Übrigen scheiden sich die Geister nicht nur bei der Entwicklung einer theoretisch fundierten Begründung.[8] Auch die Entwicklungslinien hin zu dieser Rechtsprechung sind alles andere als konsistent. Die hier zu besprechende Entscheidung des Bundesgerichtshofs gibt Anlass, einen (erneuten) Blick auf all dies zu werfen.

II. Der Fall, den der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs zu entscheiden hatte, beginnt mit einem Streit um ein abhanden gekommenes Handy. N vermisst sein Handy und wirft A vor, dieses entwendet zu haben. Beide hatten zuvor – was nicht unerwähnt bleiben sollte – in der Wohnung einer Freundin reichlich Alkohol und teils auch Cannabis konsumiert. A bestreitet den Vorwurf des N vehement und gerät über die immer wieder neu artikulierten Vorhalte des N in Rage. Es tritt dann eine kurze Entspannung der Lage ein, die A und N dazu nutzen, weiterhin Alkohol zu konsumieren. Bald entflammt der Streit aber erneut. A fragt N, ob er bei ihm Kokain kaufen könne, was dieser mit der abfälligen Bemerkung quittiert, er (N) habe das Geld des A nicht nötig. A entgegnet hierauf dem N, dieser solle seinen "Schmodder" eben behalten. Er (A) werde sich nun etwas Besseres besorgen. N ärgert sich so sehr über diese Äußerungen, dass er sich hastig in Richtung des A bewegt und diesem dabei wütend androht, ihn fertig zu machen. In dieser Situation macht A, der gerade schon die Wohnung verlassen hatte, kehrt, betritt die Wohnung erneut und hält dabei drohend ein Messer in Richtung des N. A fordert den N zeitgleich auf, endlich Ruhe zu geben und sich zu "verpissen". N geht jedoch ungeachtet des Messers auf A los und schlägt ihn mit der Faust zweimal gegen den Kopf.

Daraufhin sticht A den N mit dem Messer in den Brustkorb, um ihn erheblich zu verletzen. A nimmt dabei den Tod seines Widersachers billigend in Kauf. N überlebt Dank des herbeigerufenen Rettungsdienstes.

Das erstinstanzlich zuständige Landgericht spricht A aufgrund dieses Geschehens vom Vorwurf eines versuchten Tötungsdelikts in Tateinheit mit vollendeter Körperverletzung frei. Dem lag die Annahme zugrunde, A habe in Notwehr gehandelt. Der BGH widerspricht indes an just dieser Stelle. Es erscheine nicht von vornherein ausgeschlossen, dass A einen weiteren Angriff des N aufgrund seiner Rückkehr mit dem Messer vorhergesehen und den Einsatz des Messers deshalb geplant oder zumindest einkalkuliert habe. In diesem Fall unterläge das Notwehrrecht des A Einschränkungen im Hinblick auf – so der Senat wörtlich – "ein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten", was das Landgericht unberücksichtigt gelassen habe.

III. Das geschilderte Geschehen liefert ein mustergültiges Beispiel zum Beleg der allgemeinen Annahme, dass rechtswidrige Angriffe, die hin zu Fragen rund um den Rechtfertigungsgrund der Notwehr führen, selten aus heiterem Himmel kommen, sondern zumeist eine mehr oder minder lange Vorgeschichte haben.[9] Man würde die Tathandlung des Messerstichs deshalb nicht nur unvollständig, sondern auch unsachgerecht erfassen, ließe man das zum eigentlichen Tatgeschehen hinführende Vorverhalten beider Konfliktparteien unberücksichtigt. Die Notwehrdogmatik macht dies aber in gewissem Sinne, weil sie die "Vorgeschichte" eines tatbestandlichen Tuns im Ergebnis nur sehr einseitig und verkürzt berücksichtigt. Sie nimmt innerhalb eines komplexen Vorgeschehens eine "willkürliche Interpunktion" vor, indem sie wie mit einem Brennglas alleine die Provokation des Angreifers durch den Verteidiger betrachtet, und dabei weitestgehend unbeachtet lässt, dass der Verteidiger in den meisten Fällen auch vom Angreifer provoziert wurde.[10] Das Recht lässt hier also außer Acht, dass der provozierte Angriff in aller Regel aus Interaktionen mit beiderseitigem Verschulden hervorgegangen ist.[11] Hieraus resultiert ein struktureller Vorwurf, der sicherlich im vorliegenden Fall angesichts des vielschichtigen und sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Vorgeschehens, an dem auch der N einen wesentlichen Anteil hatte, angebracht wäre. Folgt man jedoch den angedeuteten gängigen Schemata des Notwehrrechts, so bleibt alleine von Interesse, ob und inwiefern das Notwehrrecht des A einer Einschränkung aufgrund seines unmittelbar der Verteidigung vorgelagerten Verhaltens unterliegt. So macht es sich das Notwehrrecht denkbar einfach, obwohl Provokationsfälle doch regelmäßig von "komplexer Natur"[12] sind. Das ließe sich zumindest als inkonsequent, wenn nicht sogar als ungerecht kritisieren.[13]

IV. Aber zurück zum geltenden Notwehrrecht. Die rechtliche Kategorie, um die die Probleme des hiesigen Falles kreisen, ist mit dem Stichwort der Notwehrprovokation gekennzeichnet. Konkret läuft die Problematik des Falles deshalb auf die folgende Frage hinaus: Ist im Verhalten des A (Rückkehr in die Wohnung mit einem Messer) eine derart gravierende Provokation zu erblicken, dass sein Notwehrrecht mit Einschränkung zu belegen ist?

1. Verhältnismäßig einfach wäre diese Frage zu beantworten, wenn das Vorverhalten des A als eine sog. Absichtsprovokation zu werten wäre.[14] In dieser Konstellation versagt die Rechtsprechung (in Übereinstimmung mit Teilen des Schrifttums) aufgrund von Rechtsmissbrauch bzw. eines fehlenden Verteidigungswillens dem Verteidiger jedwede Berufung auf das Notwehrrecht.[15] Andere fordern demgegenüber, den Provokateur in dieser Situation nicht in Gänze für "vogelfrei" zu erklären[16] und wollen hier immerhin noch ein abgestuftes Notwehrrecht zubilligen.[17] Aber egal wie man es dreht und wendet: Die Absichtsprovokation bedingt jedenfalls eine so gravierende Manipulation der vermeintlichen Notwehrsituation und damit auch des der Notwehr zugrundeliegenden Regel-Ausnahme-Verhältnisses[18] , dass sich der Verteidiger keinesfalls auf ein "ungekürztes" Notwehrrecht berufen kann. Allerdings kommt die Konstellation der Absichtsprovokation in der Praxis kaum vor (bzw. ist nicht beweisbar)[19] , was letztlich auch der vorliegende Fall demonstriert.

2. Es stellt sich deshalb die Frage, inwieweit ein auf andere Weise (unabsichtlich) verschuldeter Angriff zu einer Einschränkung des Notwehrrechts führen kann.[20] Anders als bei der Absichtsprovokation kommt es bei der sog. verschuldeten Notwehrlage zu einer Beeinträchtigung, die vom Verteidiger zwar dem Grunde nach ausgelöst worden ist, dabei aber (subjektiv) weder gewollt noch vorhergesehen wurde.[21] Klarheit dürfte zunächst darüber bestehen, dass eine umfassende Sanktionierung von jedwedem provozierenden Verhalten das soziale Leben unerträglich behindern würde.[22] Mit Recht schreibt Bertel deshalb: "Wohin käme man, wenn man ständig darauf achten müßte, der Aggressionslust anderer aus dem Weg zu gehen!"[23] Wer dem folgt, muss sich in einem weiteren Schritt deshalb die Frage stellen, welche (objektive[24] ) Qualität ein (provozierendes) Vorverhaltens haben muss, um eine Einschränkung des Not-

wehrrechts hierauf stützen zu können.[25] Zwei sicherer Pole bestehen in diesem traditionell umstrittenen, ja unsicheren Bereich. Zunächst dürfte Klarheit darüber bestehen, dass rechtswidriges Verhalten prinzipiell für eine Notwehreinschränkung als ausreichend anzusehen ist[26] , andererseits aber ein sozialethisch nicht zu missbilligendes Verhalten nicht zu einer Notwehreinschränkung führen kann.[27] Quasi zwischen diesen Polen[28] rangiert der Stein des Anstoßes: Ein nicht rechtswidriges, immerhin aber sozialethisch zu beanstandendes Vorverhalten. Der BGH meint in seiner aktuellen Entscheidung mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, ein (nur) sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten könne zu Einschränkungen des Notwehrrechts führen. So selbstverständlich ist das indes nicht, wenn man einen Blick auf die durchaus wechselhafte Entwicklung der Rechtsprechung beim Umgang mit dieser Frage wirft.

a) Die historische Rechtspraxis kannte – von der Absichtsprovokation einmal abgesehen – den Begriff der verschuldeten Notwehr eigentlich nicht[29] , und auch das Reichsgericht ging zunächst davon aus, dass ein vom Verteidiger verschuldeter Angriff trotz allem rechtswidrig bleibe, so dass Einschränkungen des Notwehrrechts hier nicht in Betracht kamen.[30] Erst sehr viel später sind das Reichsgericht[31] und dem folgend dann auch der Bundesgerichtshof dazu übergegangen, das Notwehrrecht bei einem (sonstigen) Verschulden des Verteidigers einzuschränken.[32] Dem folgend wurde sogar zunehmend die Tendenz sichtbar, dem Täter das volle Notwehrrecht mit der Begründung zu versagen, ein Ausweichen sei ihm umso eher zuzumuten, als er selbst Anlass zu dem Angriff gegeben habe.[33] Allerdings blieben die genauen Kriterien (maW also die Qualität des Verhaltens) für die beschriebenen Einschränkungen über eine lange Zeit hinweg unklar und nebulös.[34] Eine wichtige und zugleich zentrale Entscheidung für die problematische Frage, inwieweit ein allein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten (häufig genannte Beispiele sind hier geringfügige Belästigungen, Hänseleien oder Taktlosigkeiten[35] ) zu Einschränkungen bzw. Abstufungen des eigenen Notwehrrechts führen kann, war dann der sog. Zugfenster-Fall des BGH.[36] Hier wurde erstmals und unverblümt ausgesprochen, dass ein sozialethisch zu beanstandendes Vorverhalten für den Umfang des eigenen Notwehrrechts von Bedeutung sein könne.[37] Allerdings bemühte der BGH im weiteren Verlauf dann zusätzlich zur erkannten sozialethischen Beanstandung auch noch die Messlatte des Rechts, wenn darauf hingewiesen wurde, dass das gegenständliche und bereits als sozialethisch vorwerfbar bewertete Vorverhalten seinem Gewicht nach auch (und kumulativ) einer schweren Beleidigung gleichkomme (der Angeklagte hatte mehrfach das Zugfenster geöffnet, um einen Mitreisenden herauszuekeln).[38] Folglich sei das Vorverhalten ebenso "von Rechts wegen vorwerfbar".[39] Die Deutungen dieses Richterspruchs fielen aufgrund dieser Dichotomie in der Begründung durchaus unterschiedlich aus. Krack monierte, das Bekenntnis des BGH (im Zugfenster-Fall) zur notwehreinschränkenden Wirkung von einem bloß sozialethisch zu missbilligendem Vorverhalten falle nicht sonderlich deutlich aus, und das, obwohl es sich um das Kernproblem der Entscheidung handele.[40] Die zustimmenden Worte gegenüber der Erwägung, das Verhalten sei zudem auch von Rechts wegen vorwerfbar, ließen vielmehr den Schluss zu, dass der BGH eine sozialethische Missbilligung gar nicht ausreichen lassen, sondern auch auf die Rechtswidrigkeit des Verhaltens abstellen möchte.[41] Kühl meinte demgegenüber, die Entscheidung des BGH habe die bisher in der Rechtsprechung bestehenden Unsicherheiten "beseitigt".[42] Ein (nur) sozialethisch zu beanstandendes Vorverhalten sei nunmehr vom BGH als ausreichend für die Beschränkung des Notwehrrechts angesehen worden.[43] Die sich an diesem Punkt der Entwicklung abzeichnenden Unsicherheiten wurden in der Folgezeit auch nicht von der Rechtsprechung durch ein klärendes Wort entschärft, obgleich der BGH oftmals so tat, als seien Notwehreinschränkungen wegen eines sozialethisch vorwerfbaren Vorverhaltens unbestrittene Normalität in der Notwehrdogmatik.[44] Dass die erwähnten Unsicherheiten dem Grunde nach aber bestehen blieben, belegt ein Blick in die Literatur, wo in eine neuere Entscheidung des BGH (aus dem Jahr 2012[45] ) die Tendenz hineingelesen wurde, die Rechtsprechung distanziere sich möglicherweise wieder von der Position, bereits ein sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten könne zu Einschränkungen der Notwehr führen, weil der BGH plötzlich wieder (wie im Zugfenster-Fall) auf ein rechtswidriges Vorverhalten des Verteidigers Bezug genommen hatte.[46] Man

sieht an alledem: Die vom 2. Strafsenat mit einer gewissen Selbstverständlichkeit bemühten Einschränkungen der Notwehr aufgrund eines sozialethisch zu missbilligenden Vorverhaltens sind gerade kein unbestrittener Teil der Karlsruher Rechtsprechung, über den das letzte Wort schon gesprochen wurde.

b) Auf welch unsicherem Terrain man sich bewegt, zeigt überdies der inhaltliche Vergleich mit vergangenen Sachverhaltskonstellationen, über die die Rechtsprechung zu entscheiden hatte. Fasst man das entscheidungsrelevante Geschehen des aktuellen Urteils unter die Überschrift der "bewaffneten Rückkehr an den Ort einer vorherigen Auseinandersetzung", so wird man in alten Judikaten schnell fündig und lernt, dass die Rechtsprechung solche Konstellationen bereits zu entscheiden hatte. Beispielhaft: Im Jahr 1975 entschied der BGH anlässlich eines Angeklagten, der mit einem (Küchen-)Messer bewaffnet an den Ort einer Schlägerei zurückkehrte, dieser müsse Einschränkungen seines Notwehrrechts hinnehmen.[47] Wenige Jahre später entschied der BGH unterdessen großzügiger für eine ganz ähnlich gelagerte Konstellation (Rückkehr an den Ort einer Auseinandersetzung mit einem Revolver) und ging (anders als zuvor) davon aus, dass eine Notwehr nicht ohne weiteres versagt werden könne.[48] Diese großzügige Linie solle sogar gelten, wenn man eine Waffe unberechtigt (soll heißen: entgegen den Bestimmungen des Waffenrechts) mit zum Tatort bringt.[49] Auch vor diesen Hintergründen mutet es alles andere als selbstverständlich an, wenn der BGH nunmehr behauptet, es komme im hiesigen Fall nun doch wieder eine Einschränkung des Notwehrrechts in Betracht.

c) Was folgt nun aus den beschriebenen Inkonsistenzen? Nun, der hier zu besprechende Fall konfrontiert den Rechtssuchenden erneut und in aller Brisanz mit der schon seit Jahrzehnten diskutierten Frage, ob ein (allein) sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten zu Einschränkungen des Notwehrrechts führen kann. Diese Frage ist richtigerweise zu verneinen. Ein nur sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten taugt schon deshalb nicht zur konsistenten Begründung von Notwehreinschränkungen, weil es in dieser Situation allein der Angreifer ist, der den Rechtsfrieden bricht, während der (in Notwehr handelnde) Täter selbst den Boden des Rechts niemals verlassen hat.[50] Obgleich der Täter den Angriff durch sein Vorverhalten veranlasst hat, bleibt es im Wesentlichen bei einer vom Angreifer zu vertretenden Konfliktlage.[51] Deshalb hat der Angreifer die vermeintliche Provokation von Rechts wegen hinzunehmen.[52] Hinzu kommt, dass es für die Kategorie der sozialethischen Vorwerfbarkeit insgesamt an durchgängig rational einsehbaren Kriterien fehlt, an denen sich eine entsprechende Entscheidung orientieren könnte.[53] Sie ist zu ungenau[54] , weil es in Gänze an geeigneten Maßstäben zur Bestimmung einer sozialen Inadäquanz fehlt.[55] Fragen der sozialethischen Vorwerfbarkeit würden deshalb regelmäßig in Fragen nach den individuellen Anschauungen von Höflichkeit und Anstand einmünden[56] , was im Strafrecht für sich genommen bereits zu Problemen führen muss. Würde man einen solchen Maßstab zulassen, bestünde die Gefahr der Aushöhlung und Entwertung des Notwehrrechts.[57] Es bestünde überdies die Gefahr, dass Rechtsdogmatik an dieser Stelle zum überflüssigen Beiwerk wird, und es allenfalls noch vermag, ihre eigene Wandlungsfähigkeit zu demonstrieren.[58] Mit Recht fordert die (weit) überwiegende Ansicht in der Literatur deshalb, dass das fragliche Verhalten rechtswidrig gewesen sein muss, um hierauf eine Einschränkung des Notwehrrechts wegen Provokation stützen zu können.[59] Allein hierin liegt ein verlässlicher, voraussehbarer und übrigens auch mit der ratio der Notwehr[60] übereinstimmender Maßstab zur Notwehreinschränkung.

V. Um es zu guter Letzt und abschließend noch einmal deutlich zu formulieren: Der BGH deutet in der hier zu besprechenden Entscheidung eine Beschränkung, ja sogar eine Rücknahme von Notwehrbefugnissen des Bürgers an. Diese Rücknahme wird mit dem Topos des sozialethisch zu missbilligenden Vorverhaltens auf ein Voraussetzungsfundament gestellt, das weder konsistent begründet noch praktisch handhabbar erscheint. Die Rechtsprechung sollte hiervon – aus den genannten Gründen – deshalb tunlichst die Finger lassen. Weil der Blick auf die Entwicklungslinien des sozialethisch zu missbilligenden Vorverhaltens das von Unsicherheiten geprägte Hin und Her und die politisch-normativistischen Aufladungen des Notwehrrechts mit dem Geist der jeweiligen Zeit vor Augen führt, erweist man dem Notwehrrecht des Bürgers sicherlich einen weitaus besseren Dienst, wenn man es an gefestigtere Grenzwälle bindet. Es ist deshalb zu hoffen, dass es dem 2. Strafsenat so ernst nicht ist mit seinem Fingerzeig. Die richtige Richtung zur Bewertung der entsprechenden Fälle wäre nämlich die genau entgegengesetzte, mithin also die Abkehr von Notwehreinschränkungen aufgrund von sozialethisch zu missbilligendem Vorverhalten.


[1] Naucke, Negatives Strafrecht (2015), S. 85.

[2] Vgl. für die Notwehr F.-C. Schroeder, FS Maurach (1972), S. 127 und passim. Zustimmend: Lenckner JR 1984, 206, 207.

[3] Hassemer, FS Bockelmann (1979), S. 225, 226.

[4] BT-Dr. V/4095, S. 14; Kühl, AT, 7. Aufl. (2012), § 7 Rn. 163; LK/Rönnau/Hohn, 12. Aufl. (2006), § 32 Rn. 228; Roxin ZStW 93 (1981), 68, 77 f. Vgl. auch SK/Günther, 8. Aufl. (2014), § 32 Rn. 103 ("Einfallstor").

[5] Die historische Entwicklung hin zum derzeitigen "rigorosen" Notwehrrecht beleuchtet Grünewald ZStW 122 (2010), 51, 53 ff.

[6] Burchard HRRS 2012, 421, 447. Vgl. auch schon Lenckner GA 1961, 299, 308 oder Schröder JuS 1973, 157 (spricht von einer "Entschärfung" des Notwehrrechts).

[7] Nicht zu Unrecht wird die Berufung auf eine Sozialethik zur Einschränkung des Notwehrrechts schon seit geraumer Zeit als "verschwommenes Schlagwort" kritisiert. Hierzu Kühl, AT, 7. Aufl. (2012), § 7 Rn. 158.

[8] Vgl. SK/Günther, 8. Aufl. (2014), § 32 Rn. 122.

[9] Kühl StV 1997, 298.

[10] So Hassemer, FS Bockelmann (1979), S. 225, 236.

[11] Roxin ZStW 93 (1981), 68, 88.

[12] Lenckner GA 1961, 299, 300.

[13] Hassemer, FS Bockelmann (1979), S. 225, 236.

[14] Vgl. Lenckner JR 1984, 206, 208 (unproblematisch sei alleine die Absichtsprovokation).

[15] Ausführlich und mwN. etwa Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 15 Rn. 65 ff.; ders. ZStW 93 (1981), 68, 85 f.; LK/Rönnau/Hohn, 12. Aufl. (2006), § 32 Rn. 249 ff.; SSW/Rosenau, 2. Aufl. (2014), § 32 Rn. 42. Vgl. auch Rönnau JuS 2009, 404, 407.

[16] Lenckner JR 1984, 206.

[17] Etwa MünchKomm/Erb, 2. Aufl. (2012), § 32 Rn. 227.

[18] LK/Rönnau/Hohn, 12. Aufl. (2006), § 32 Rn. 252.

[19] Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 15 Rn. 65. Vgl. auch Kühl StV 1997, 298 ("so gut wie nie").

[20] Hierzu etwa Schönke/Schröder/Perron, 29. Aufl. (2014), § 32 Rn. 58. Ausführlich auch bereits Lenckner GA 1961, 299, 307 ff.

[21] NK/Kindhäuser, 4. Aufl. (2013), § 32 Rn. 125.

[22] Bertel ZStW 84 (1972), 1, 26.

[23] Bertel ZStW 84 (1972), 1, 26.

[24] Rönnau JuS 2009, 404, 406.

[25] Schönke/Schröder/Perron, 29. Aufl. (2014), § 32 Rn. 59; NK/Kindhäuser, 4. Aufl. (2013), § 32 Rn. 126; Roxin ZStW 93 (1981), 68, 89; Schumann JuS 1979, 559, 564.

[26] Schröder JuS 1973, 157, 160; Kühl StV 1997, 298, 299; Rönnau JuS 2012, 404, 407.

[27] BGH, Urt. vom 12.01.1978 – 4 StR 620/77, BGHSt 27, 336 (LS); Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 15 Rn. 71; Lenckner JR 1984, 206, Kühl StV 1997, 298, 299. Vgl. auch Roxin ZStW 93 (1981), 68, 89.

[28] Vgl. für diese Einordnung Kühl StV 1997, 298, 299.

[29] Lenckner JR 1984, 206, 207.

[30] Nachweise bei Lenckner GA 1961, 299, 307. Vgl. auch Schönke/Schröder/Perron, 29. Aufl. (2014), § 32 Rn. 58.

[31] Etwa RGSt 71, 133, 134 f. (stellt auf die "Veranlassung" des tatgegenständlichen Streits ab). Schröder JuS 1973, 157, 158 kommentiert, auf diese Weise würden "sozialethische Komponenten" in das Notwehrrecht eingeschmuggelt.

[32] Vgl. insg. auch Lenckner GA 1961, 299, 307 f.

[33] Schönke/Schröder/Perron, 29. Aufl. (2014), § 32 Rn. 58 mit entsprechenden Nachweisen.

[34] Vgl. Schönke/Schröder/Perron, 29. Aufl. (2014), § 32 Rn. 59 ("nicht eindeutig"); BeckOK/Momsen, § 32 Rn. 38 ("vage").

[35] Grünewald ZStW 122 (2010), 51, 79; Rönnau JuS 2009, 404, 407.

[36] BGH, Urt. vom 21.03.1996 – 5 StR 432/95, BGHSt 42, 97 (100 ff.) = NJW 1996, 2315.

[37] BGH, Urt. vom 21.03.1996 – 5 StR 432/95, BGHSt 42, 97 (101).

[38] BGH, Urt. vom 21.03.1996 – 5 StR 432/95, BGHSt 42, 97 (101).

[39] BGH, Urt. vom 21.03.1996 – 5 StR 432/95, BGHSt 42, 97 (101).

[40] Krack JR 1996, 468.

[41] Krack JR 1996, 468.

[42] Kühl StV 1997, 298, 299.

[43] Kühl StV 1997, 298, 299.

[44] Beispielhaft: BGH, Beschl. vom 04.08.2010 – 2 StR 118/10, NStZ 2011, 82, 83 = HRRS 2010 Nr. 954.

[45] BGH, Urt. vom 27.09.2012 – 4 StR 197/12, NStZ-RR 2013, 139 = HRRS 2012 Nr. 1099. Vgl. hierzu auch von Heintschel-Heinegg JA 2013, 69.

[46] Erb HRRS 2013, 113, 116.

[47] BGH, Urt. vom 15.05.1975 – 4 StR 71/75, BGHSt 26, 143 (145 f.).

[48] BGH, Urt. vom 07.06.1983 – 4 StR 703/82, NJW 1983, 2267 m. Anm. Lenckner JR 1984, 206 und Bespr. Berz JuS 1984, 340. Vgl. hierzu auch Schönke/Schröder/Perron, 29. Aufl. (2014), § 32 Rn. 59.

[49] BGH, Beschl. vom 04.08.2010 – 2 StR 118/10, NStZ 2011, 82, 83 = HRRS 2010 Nr. 954.

[50] Schönke/Schröder/Perron, 29. Aufl. (2014), § 32 Rn. 59; MünchKomm/Erb, 2. Aufl. (2012), § 32 Rn. 234; Roxin ZStW 93 (1981), 68, 91.

[51] NK/Kindhäuser, 4. Aufl. (2013), § 32 Rn. 125. Vgl. auch Lenckner GA 1961, 299, 310.

[52] Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. (1996), S. 347. Vgl. auch Kühl, AT, 7. Aufl. (2012), § 7 Rn. 215.

[53] Grünewald ZStW 122 (2010), 51, 81.

[54] Kühl, AT, 7. Aufl. (2012), § 7 Rn. 219.

[55] MünchKomm/Erb, 2. Aufl. (2012), § 32 Rn. 234.

[56] MünchKomm/Erb, 2. Aufl. (2012), § 32 Rn. 234.

[57] Lenckner JR 1984, 206.

[58] Hassemer, FS Bockelmann (1979), S. 225, 230.

[59] Schönke/Schröder/Perron, 29. Aufl. (2014), § 32 Rn. 59; LK/Rönnau/Hohn, 12. Aufl. (2006), § 32 Rn. 255; SK/Günther, 8. Aufl. (2014), § 32 Rn. 125; Grünewald ZStW 122 (2010), 51, 82; Lenckner JR 1984, 206, 209; Schumann JuS 1979, 559, 564.

[60] Anschaulich zur dualistischen Rechtfertigung des Notwehrrechts etwa Roxin ZStW 93 (1981), 68, 70 ff.