HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2016
17. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

180. BVerfG 2 BvR 1860/15 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 15. Januar 2016 (OLG Düsseldorf)

Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen nach Belgien aufgrund eines Europäischen Haftbefehls (Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl; Vertrauensschutz bei maßgeblichem Inlandsbezug; Abwägung im Einzelfall bei Handlung im Inland und Erfolgseintritt im Ausland; Abwägungsausfall); Anordnung und Fortdauer der Auslieferungshaft (Freiheitsgrundrecht; Verhältnismäßigkeit; Zulässigkeit auch vor abschließender Klärung der Auslieferungsvoraussetzungen).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 16 Abs. 2 GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 4 Nr. 7 Buchstabe a RbEuHb; § 80 Abs. 1 IRG; § 15 IRG; § 9 Abs. 2 StGB

1. Mit dem grundsätzlichen Auslieferungsverbot des Art. 16 Abs. 2 GG sollen die Rechtssicherheit und das Vertrauen des von einer Auslieferung betroffenen Deutschen in die eigene Rechtsordnung gewahrt werden. Dieses Vertrauen ist vor allem dann in besonderer Weise geschützt, wenn die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegende Handlung einen maßgeblichen Inlandsbezug aufweist.

2. Ein maßgeblicher Inlandsbezug, der regelmäßig ein Auslieferungshindernis entstehen lässt, ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn Handlungs- und Erfolgsort im Wesentlichen auf deutschem Staatsgebiet liegen. Wer hingegen in einer anderen Rechtsordnung handelt, indem er die Tathandlung vollständig oder in wesentlichen Teilen auf dem Territorium eines anderen Mitgliedstaates

der Europäischen Union begeht oder dort einen Taterfolg herbeiführt, muss damit rechnen, auch dort zur Verantwortung gezogen zu werden.

3. Einer konkreten Abwägung im Einzelfall bedarf es immer dann, wenn der Beschuldigte ganz oder teilweise in Deutschland gehandelt hat, der Erfolg aber im Ausland eingetreten ist. In diesen Fällen sind insbesondere das Gewicht des Tatvorwurfs und die praktischen Erfordernisse einer effektiven Strafverfolgung mit den grundrechtlich geschützten Interessen des Verfolgten unter Berücksichtigung der mit der Schaffung eines Europäischen Rechtsraums verbundenen Ziele zu gewichten und zueinander ins Verhältnis zu setzen.

4. Bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl hat der Gesetzgeber, soweit er nicht bereits seine Spielräume für eine tatbestandliche Konkretisierung nutzt, dafür Sorge zu tragen, dass die das Gesetz ausführenden Stellen in einem Auslieferungsfall in eine konkrete Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen eintreten.

5. Ein Gericht verkennt die Bedeutung des Grundrechts aus Art. 16 Abs. 2 GG, wenn es ohne Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen und insbesondere ohne Gewichtung des Vertrauens des Betroffenen in die deutsche Rechtsordnung im Einzelfall die Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen nach Belgien zulässt, dem eine in Deutschland geleistete Beihilfe zu einem in Belgien begangenen Mord zur Last gelegt wird.

6. Ein Art. 16 Abs. 2 GG verletzender Abwägungsausfall bei der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung führt nicht automatisch zur Verfassungswidrigkeit auch der Auslieferungshaft. Diese kann vielmehr ohne Verstoß gegen das Freiheitsgrundrecht bereits dann verhältnismäßig sein, wenn noch abschließend zu klären ist, ob die Voraussetzungen für eine Auslieferung erfüllt sind.


Entscheidung

181. BVerfG 2 BvR 2961/12, 2 BvR 2484/13 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 11. Januar 2016 (OLG Oldenburg)

Aussetzung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung (Freiheitsgrundrecht; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; prognostische Gesamtwürdigung; richterliche Pflicht zur Sachaufklärung; vertretbares Restrisiko; Leugnen der Tat begründet keine Negativprognose; fehlende Tataufarbeitung als Prognosemerkmal; fehlende Basis für die Gefährlichkeitsbeurteilung; persönliche Anhörung des Verurteilten im Beschwerdeverfahren); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (fortbestehendes Rechtsschutzinteresse nach Entlassung aus der Strafhaft).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 GG; § 57 Abs. 1 StGB

1. Die Freiheit der Person, die unter den Grundrechten einen hohen Rang einnimmt, darf nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden. Kollidiert der Freiheitsanspruch mit dem staatlichen Strafanspruch oder dem Erfordernis, die Allgemeinheit vor zu erwartenden Rechtsgutverletzungen zu schützen, sind beide Belange gegeneinander abzuwägen. Die Freiheit der Person darf nur beschränkt werden, soweit dies im öffentlichen Interesse unerlässlich ist.

2. Bei der Entscheidung über die Aussetzung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ist den Vollstreckungsgerichten nach § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB eine prognostische Gesamtwürdigung abverlangt, die auf einer zureichenden Sachaufklärung beruhen muss. Die richterliche Prognoseentscheidung wird vom Bundesverfassungsgericht nur daraufhin nachgeprüft, ob die Entscheidung objektiv unvertretbar ist oder ob das Gericht die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite von Grundrechten – insbesondere des Freiheitsgrundrechts – verkannt hat.

3. Die Prüfung, ob die Vollstreckungsaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, schließt es mit ein, dass ein vertretbares Restrisiko eingegangen wird. Ob das Restrisiko vertretbar ist, hängt von den bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgütern und vom Grad der Wahrscheinlichkeit einer erneuten Straffälligkeit ab. Eine die Aussetzung der Reststrafe ablehnende Entscheidung muss sich auf konkrete Tatsachen stützen, die das Risiko unvertretbar erscheinen lassen.

4. Dass der Verurteilte die Tat leugnet, kann für sich genommen eine negative Sozialprognose nicht begründen. Ein Erfahrungssatz, wonach aus dem Leugnen der Tat auf den Fortbestand der Gefährlichkeit des Verurteilten geschlossen werden kann, besteht nicht.

5. Die Ablehnung einer Reststrafenaussetzung zur Bewährung ist verfassungsrechtlich allerdings nicht zu beanstanden, wenn sich das sachverständig beratene Vollstreckungsgericht darauf stützt, dass über die Motivation des die Tat leugnenden Verurteilten – eines Sexualstraftäters – nichts bekannt geworden ist, so dass eine Aussage über seine in der Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit nicht getroffen werden kann. Berücksichtigt werden darf auch, dass der Verurteilte mangels Tataufarbeitung keine Strategien zur Vermeidung neuer Taten entwickelt hat. Eine Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit ist damit nicht verbunden.

6. Lehnt das Beschwerdegericht entgegen der Strafvollstreckungskammer die Aussetzung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ab, so kann es von einer eigenen Anhörung des Verurteilten jedenfalls dann absehen, wenn der persönliche Eindruck nichts an der Einschätzung ändern könnte, dass es an einer ausreichenden Tatsachenbasis für die Annahme künftiger Straffreiheit des Verurteilten fehlt.

7. Das Rechtsschutzinteresse an der (verfassungsgerichtlichen) Überprüfung einer Entscheidung, mit der die Aussetzung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung abgelehnt worden ist, besteht angesichts des mit der fortgesetzten Freiheitsentziehung verbundenen tiefgreifenden Grundrechtseingriffs auch nach der Entlassung des Verurteilten aus der Strafhaft fort.


Entscheidung

179. BVerfG 2 BvR 1361/13 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 11. Januar 2016 (LG München I / AG München)

Durchsuchung zur Auffindung des

Banners einer Fangruppierung eines Fußballvereins (Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Raubes gegen Mitglieder einer gegnerischen „Ultra-Gruppierung“; Durchsuchung beim Kopf der Gruppierung als unverdächtigem Dritten; besondere Anforderungen an den Auffindeverdacht; konkrete Tatsachen und bloße Vermutungen).

Art. 13 Abs. 1 GG; § 103 StPO; § 105 Abs. 1 StPO

1. Die verfassungsrechtliche Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung stellt die räumliche Lebenssphäre des Einzelnen unter einen besonderen grundrechtlichen Schutz, in den mit einer Durchsuchung schwerwiegend eingegriffen wird. Notwendiger und grundsätzlich auch hinreichender Anlass für einen solchen Eingriff ist der (Anfangs-) Verdacht einer Straftat. Dieser muss auf konkreten Tatsachen beruhen und über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen.

2. Dem mit einer Durchsuchung verbundenen erheblichen Grundrechtseingriff entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Durchsuchung muss zur Ermittlung und Verfolgung der vorgeworfenen Tat erforderlich und mit Blick auf den verfolgten gesetzlichen Zweck erfolgversprechend sein und in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der vorgeworfenen Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen.

3. An die Durchsuchung bei einer nicht verdächtigen Person, die durch ihr Verhalten auch aus Sicht der Ermittlungsbehörden in keiner Weise Anlass zu den Ermittlungsmaßnahmen gegeben hat, sind besondere Anforderungen zu stellen. So müssen konkrete Gründe dafür sprechen, dass der gesuchte Beweisgegenstand in den zu durchsuchenden Räumlichkeiten des Unverdächtigen gefunden werden kann.

4. An ausreichenden Anhaltspunkten für einen Auffindeverdacht fehlt es, wenn eine Durchsuchung zur Auffindung des geraubten Banners einer Fangruppierung eines Fußballvereins beim Kopf einer gegnerischen „Ultra-Gruppierung“ angeordnet wird, obwohl nach den szenebezogenen Erkenntnissen von Polizei und Staatsanwaltschaft allenfalls davon ausgegangen werden kann, dass sich das Banner – gut versteckt, aber leicht erreichbar – irgendwo bei der etwa 60 gewaltaffine Personen umfassenden Gruppierung befindet, wobei es als unwahrscheinlich angesehen wird, dass eine Führungskraft das Banner aufbewahrt.


Entscheidung

178. BVerfG 2 BvR 1017/14 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 16. Dezember 2015 (OLG Koblenz / LG Koblenz)

Vergütung von Strafgefangenen (Arbeit im Strafvollzug als gewichtiges Resozialisierungsmittel; angemessene Anerkennung durch Vergütung; Neuregelung des Resozialisierungskonzepts im Landesjustizvollzugsgesetz Rheinland-Pfalz; ersatzloser Wegfall der nicht monetären Vergütungskomponente verfassungsrechtlich zweifelhaft; Überprüfungspflicht des Gesetzgebers).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1; Art. 125a Abs. 1 Satz 2 GG; § 37 StVollzG; § 43 StVollzG; § 200 StVollzG, § 18 Abs. 1 SGB IV; § 65 Abs. 1 Nr. 3 LJVollzG RP

1. Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot verpflichtet den Gesetzgeber, ein wirksames Resozialisierungskonzept zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen. Allerdings ist der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht auf ein bestimmtes Regelungskonzept festgelegt. Es steht ihm daher grundsätzlich frei, dem Resozialisierungsgebot durch andere Maßnahmen als durch Arbeit Rechnung zu tragen.

2. Wenngleich nach der landesrechtlichen Neuregelung des Strafvollzugs in Rheinland-Pfalz therapeutischen, psychiatrischen sowie Trainings- und Qualifizierungsmaßnahmen bei der Resozialisierung der Vorrang vor der Arbeit zukommen soll, liegt die Annahme nahe, dass die Arbeit nach wie vor ein gewichtiges Resozialisierungsmittel darstellt.

3. Arbeit im Strafvollzug ist als Resozialisierungsmittel nur dann wirksam, wenn sie eine angemessene Anerkennung findet. Dies gilt gleichermaßen für eine dem Gefangenen zugewiesene Pflichtarbeit wie für eine freiwillig übernommene Tätigkeit.

4. Eine ausschließlich monetäre Vergütung dürfte mit dem Resozialisierungsgebot kaum vereinbar sein. Vielmehr wird gerade die Gewährung von Freistellung in Abhängigkeit zur geleisteten Arbeit dem Resozialisierungsgebot gerecht.

5. Der Gesetzgeber ist aufgefordert, den Umfang der monetären wie auch der nicht monetären Leistungen einer ständigen Überprüfung auf seine Angemessenheit zu unterziehen.


Entscheidung

177. BVerfG 1 BvR 2449/14 (3. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 9. Dezember 2015 (OLG Stuttgart / LG Stuttgart)

Akteneinsichtsrecht für den Verletzten einer Straftat (Versagung von Einsicht in die Akten eines Ermittlungsverfahrens gegen den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden einer Aktiengesellschaft wegen des Verdachts der Marktmanipulation; zivilrechtliche Schadensersatzklage eines Hedgefonds; Recht auf ein faires Verfahren als prozessuales „Auffanggrundrecht“; Einsicht in die Strafakten allenfalls bei strukturell begründeter Beweisnot im Zivilprozess; Verletzteneigenschaft im Strafrecht; Willkürverbot; Schutzzweck der Strafnorm; keine drittschützende Wirkung des Verbots der Marktmanipulation).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 406e StPO; § 20a WpHG

1. Das Recht auf ein faires Verfahren erfordert die Gewährung von Einsicht in die Akten eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens für den Kläger eines parallelen Zivilverfahrens allenfalls dann, wenn dieser eine strukturell begründete Beweisnot von solchem Gewicht darlegt, dass sie nur durch die begehrte Akteneinsicht behoben werden kann und die deshalb einen verfassungsunmittelbaren Informationsbeschaffungsanspruch gegenüber dem Strafgericht begründen kann.

2. Es liegt im fachgerichtlichen Wertungsrahmen und ist daher nicht willkürlich, zur Bestimmung der Ver-

letzteneigenschaft i. S. d. § 406e StPO auf den Schutzzweck der jeweiligen Strafnorm zurückzugreifen und im Falle des Verbots der Marktmanipulation (§ 20a WpHG) eine drittschützende Wirkung zugunsten eines Hedgefonds zu verneinen, der wegen mutmaßlicher Marktmanipulationen zivilrechtlich Schadensersatz fordert.