HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2014
15. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Unionsrechtskonforme Auslegung des Betrugstatbestandes?

Anmerkungen zu den Urteilen des BGH vom 5.3.2014 – 2 StR 616/12, HRRS 2014 Nr. 700, und vom 28.5.2014 – 2 StR 437/13, HRRS 2014 Nr. 733

Von Prof. Dr. Martin Heger, HU Berlin

Die Frage, ob das Tatbestandsmerkmal einer Täuschung im Rahmen von § 263 StGB unter Einbeziehung der Vorgaben des Europarechts unionsrechtskonform auszulegen ist, beschäftigt schon länger die deutsche Strafrechtswissenschaft. Das veranschaulicht etwa das Eingangsreferat von Dannecker auf der Strafrechtslehrertagung 2005. Ging es dabei zunächst vor allem um einen Vorrang der Grundfreiheiten des (heute) AEUV, der einer Anwendung des Betrugs-Tatbestandes auf grenzüberschreitende Marketingmaßnahmen (besser wohl: "Marktschreierei") entgegenstehen könnte, hat sich das Blatt heutzutage insoweit gewendet, als nach der Totalharmonisierung der nationalen Rechte in Bezug auf unlautere Geschäftspraktiken zwischen Unternehmen und Verbrauchern durch die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken aus dem Jahr 2005 auch innerstaatlich das europäische (Sekundär-)Recht auf diesem Feld Einfluss gewonnen hat, so dass sich in den beiden zu besprechenden Fällen dem BGH jeweils die Frage gestellt hat, ob und ggf. wie die Täuschung in § 263 StGB richtlinienkonform ausgelegt werden sollte sowie ob hierüber letztlich der EuGH entscheiden müsste. Der BGH hat beide Fragen verneint und jeweils eine Betrugsstrafbarkeit im Lichte der tradierten deutschen Betrugsdogmatik bejaht; Martin Heger hält zwar dieses Ergebnis in concreto für nahe liegend, kritisiert aber die Begründung für die Nichtvorlage zum EuGH.

I. Zur Thematik

Binnen kaum eines Vierteljahres hatte der 2. Strafsenat des BGH gleich zweimal Gelegenheit, sich zur Frage einer richtlinienkonformen Auslegung des deutschen Betrugstatbestandes zu positionieren.[1] Immerhin mag man ihm attestieren können, dass er konsequent vorgegangen ist, schon weil er sich in der zweiten Entscheidung (437/13, Rz. 24) schlicht auf einen Verweis auf das zuvor ergangene Urteil beschränkt; auch dürften letztlich die Ergebnisse als solche – die Bestätigung vorinstanzlicher Schuldsprüche wegen Betrugs – nicht zu beanstanden sein. In der sich auch dem 2. Strafsenat nicht verschließenden "Gretchen-Frage" "Wie hältst Du es mit dem EuGH?" sind die Erkenntnisse aber eher mager. Positiv zu vermerken ist allerdings, dass sich der BGH über weiten Strecken des ersten Urteils (616/12, Rz. 21 – 32) mit Fragen einer richtlinienkonformen Auslegung des Betrugstatbestandes immerhin auseinandersetzt; zumindest in der Kürze der Begründung nicht wirklich zu überzeugen vermag dann allerdings die allenfalls kursorisch-knappe Verneinung einer Vorlagepflicht zum EuGH aus Art. 267 AEUV (Rz. 33). In den beiden vorliegenden Entscheidungen hat der BGH nicht nur aus meiner Sicht[2] eine Chance versäumt, ein erst langsam an Gewicht gewinnendes Rechtsinstitut wie die unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht voran zu bringen, obwohl eigentlich die Voraussetzungen dafür jedenfalls im ersten der beiden Fälle durchaus gegeben sein dürften.

II. Die beiden Fälle

In beiden Fällen ging es um massenhafte "Abzocke", sei es mittels Internet oder klassischer Medien. Im ersten Fall (616/12) hatte der Angeklagte als faktischer Geschäftsführer zweier Gesellschaften (zunächst der N-Ltd und dann der O-Ltd) einen Online-Routenplaner betrieben; wer mittels diesem eine Route planen wollte, verpflichtete sich zugleich zu einem kostenpflichtigen Abonnement des Routenplaners für drei Monate. Die dafür veranschlagten Kosten waren auch im Fußnotentext und in den AGB ausgewiesen, doch waren beiden Informationsquellen auf der normalen Schaltfläche des PC beim Anklicken der Seite verdeckt, so dass sie für den Leser nur erkennbar gewesen wären, wenn er die Seite heruntergerollt wäre. Vergleichbare Routenplaner werden ohne irgendein Abonnement und regelmäßig kostenfrei im Internet angeboten, so dass zumindest der flüchtige Leser der Homepage des Angekl., der eben vor dem Anklicken des vermeintlich "normalen" Routenplaners nicht auch den bei der Bildschirmansicht verdeckten Fußnotentext studiert und erst recht nicht die AGB anklickt und aufmerksam liest, irrig davon ausgehen dürfte, eine einmalige und kostenlose Leistung zu beziehen.

Der zweite Fall (437/13) betrifft vermeintliche Rechnungen, d.h. Angebotsschreiben, welche zumindest beim flüchtigen Lesen den Eindruck erwecken, die dem Wortlaut nach nur angebotene (und regelmäßig für den Adressaten weitgehend nutzlose) Leistung sei bereits erbracht und nunmehr zu bezahlen. Vorliegend wurden Personen und Unternehmen angeschrieben, die kurz zuvor eine Anmeldung zum Handelsregister vorgenommen hatten; in einem bei der Lektüre des Schriftstückes zunächst unauffälligen Textteil wurde diesen angeboten, den Firmendatensatz zusätzlich auch in ein elektronisches Register aufzunehmen. Angesichts der Gestaltung dieses formal als Angebot formulierten Schreibens wurde bei vielen Adressaten der Eindruck erweckt, sie seien bereits verpflichtet, einen bestimmten, in Rechnung gestellten Betrag zu überweisen. Dieses Geschäftsmodell wurde danach auf Opfer übertragen, die zuvor eine Markenanmeldung bei Deutschen Patent- und Markenamt vorgenommen haben.

III. Die Entscheidungen

In beiden Fällen bestätigte der BGH die erstinstanzliche Verurteilung der Angeklagten wegen – im ersten Fall nur versuchten[3] – Betrugs. Zu klären war jeweils die Frage, ob die Vermögensverfügung der Geschädigten, die ihr Abonnement des Routenplaners oder die vermeintliche Rechnung für den Registereintrag bezahlt haben, aufgrund einer Täuschung durch die Angeklagten erfolgt ist. Auch wenn dem Wortlaut des jeweils zugrunde liegenden Angebots bei genauer Lektüre der wahre Sachverhalt entnommen werden konnte, hat doch in vergleichbaren Fällen die deutsche Strafrechtsprechung regelmäßig eine Täuschung bejaht, wenn und weil es dem Täter gerade darauf angekommen ist, durch eine undurchsichtige Gestaltung im Opfer zumindest einen falschen Eindruck von diesem Angebot hervorzurufen.[4] Dahinter stand die kriminalpolitisch durchaus nachvollziehbare Erwägung, der Betrugstatbestand solle auch relativ leichtgläubige Opfer schützen. Von Hecker[5] und anderen[6] ist bereits vor mehr als einem Jahrzehnt darauf verwiesen worden, dass hinter Entscheidungen wie der des BGH in dem berühmten "Haarverdicker"-Fall[7] letztlich ein Leitbild steht, das sich (durchgängig) nicht an einem mündigen, sondern an einem leichtgläubigen Verbraucher orientiert, und das deshalb möglicherweise vor den Schranken des Europarechts in Frage gestellt werden müsste, weil der EuGH und mit ihm auch Rechtsakte wie die in beiden Fällen diskutierte "Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern und Verbrauchern (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken)"[8] (UGP-RL) auf dem Leitbild eines mündigen Verbrauchers aufbauen.[9]

Weil diese EG-Richtlinie nicht bloß – wie etwa die Richtlinien und Rahmenbeschlüsse auf dem Gebiet des Strafrechts (vgl. Art. 83 AEUV) – Mindestvorgaben für die Mitgliedstaaten formuliert, die diese (z.B. in Form schärferer Strafnormen) grundsätzlich noch "toppen" können, sondern ausweislich ihres 6. Erwägungsgrundes eine Totalharmonisierung in Form einer Angleichung aller mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften in Bezug auf unlautere Geschäftspraktiken "zwischen Unternehmen und Verbrauchern vor, während und nach Abschluss eines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts" (Art. 3 Abs. 1 UGP-RL) bezweckt,[10] muss der nationale Gesetzgeber die Richtlinienvorgaben wirklich "1:1" in sein (Zivil-)Recht übernehmen. Bereits diese Zielsetzung der UGP-RL zeigt aber auch schon ihre Grenzen auf, welche auch für die Frage einer richtlinienkonformen Auslegung – und sei es daran anknüpfender Strafnormen – beachtlich sind. So zielt diese Richtlinie ihrem Wortlaut nach in persönlicher Hinsicht nur auf Geschäftspraktiken zwischen Unternehmern und Verbrauchern.

Während im ersten Fall die ungewollten Abonnenten "Verbraucher" im Sinne der Richtlinie sind, weil das Abonnement des Routenplaners zumindest im Regelfall "nicht ihrer gewerblichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden" kann (Art. 2 lit. a UGP-RL), stellt sich dies im zweiten Fall anders dar. Hier hatten die Opfer in der ersten Konstellation eine Anmeldung zum Handelsregister vorgenommen, so dass auf sie die genannte Legaldefinition des Verbraucher-Begriffs dieser Richtlinie nicht passt; allenfalls in der zweiten Konstellation – den vorausgegangenen Markenanmeldungen – erscheint es denkbar, dass eine solche auch von Verbrauchern im genannten Sinne unternommen wird, so dass diese zur Zeit der inkriminierten Handlung – d.h. nach erfolgter Registeranmeldung – noch taugliche Opfer unlauterer Geschäftspraktiken im Lichte der UGP-RL hätten werden können. Wie bereits erwähnt, überträgt der 2. Strafsenat schlicht und ergreifend seine kurz zuvor entwickelte Verneinung einer Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des § 263 StGB und lässt deshalb – insoweit konsequent – offen, ob "die Richtlinie auch dann gilt, wenn sich die Geschäftspraktik an einen Unternehmer richtet" (437/13, Rz. 24).[11] Dahinter steht der richtige Gedanke, dass eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nur in Fällen bestehen kann, in denen die Richtlinie überhaupt in sachlicher oder persönlicher Hinsicht anwendbar ist.[12] Das richtet sich allein nach der Richtlinie und der dazu ergangenen Rechtsprechung des

EuGH,[13] nicht nach einer nationalen Umsetzung, die etwa auch – nicht von der Richtlinie gefordert – Regelungen zu (un)zulässigen Geschäftspraktiken zwischen Unternehmen vorsehen könnte. Auch wenn die nationale (Zivil-) Rechtsprechung die (nationale) Umsetzungsnorm über den von Europarechts wegen gebotenen Anwendungsbereich einer Richtlinie hinaus auch auf andere Fälle erstrecken will, könnte das keine Pflicht der (Straf-)Gerichte zur richtlinienkonformen Auslegung begründen.

Käme für den BGH hingegen eine richtlinienkonforme Auslegung (auch) von § 263 StGB im Lichte der UGP-RL in Betracht, hätte daher entweder der Anwendungsbereich der Richtlinie – und zwar im Lichte der EuGH-Rechtsprechung – auch Nicht-Verbraucher im Sinne von Art. 3 lit. a UGP-RL erfassen müssen oder es hätte in den Feststellungen einer Aufschlüsselung bedurft, ob es sich bei den wohl im landgerichtlichen Urteil in acht Positionen als Geschädigten aufgeführten "Personen oder Unternehmen" (437/13, Rz. 7) auch um Verbraucher gehandelt hat, was schon angesichts der Beschränkung des Verbraucher-Begriffs in Art. 3 lit. a UGP-RL auf "natürliche Personen" jedenfalls alle Unternehmen vom unmittelbaren Anwendungsbereich einer richtlinienkonformen Auslegung ausgeklammert hätte.

Eine interessante – aber natürlich vorliegend schon deshalb vom BGH nicht zu klärende – Frage wäre es gewesen, ob eine differenzierte Anwendung des Instituts der unionsrechtskonformen Auslegung nur in den Fällen, in denen tatsächlich die Richtlinie einschlägig ist, statthaft oder gar geboten gewesen wäre mit dem dann freilich fragwürdigen Ergebnis, dass möglicherweise strafrechtlich die Verbraucher schlechter geschützt wären als die Unternehmer, die selbst bei offensichtlichster Leichtgläubigkeit im Lichte der tradierten deutschen Rechtsprechung zu § 263 StGB Opfer eines Betrugs sein könnten. Eine solch missliche Konsequenz – die natürlich auch der bewusst verbraucherschützenden Tendenz der Richtlinie Hohn sprechen würde – ließe sich allerdings unschwer ohne Verzicht auf eine richtlinienkonforme Auslegung zumindest bei einem von der Richtlinie erfassten Opfer-Kreis erreichen, denn neben der verpflichtenden unionsrechtskonformen Auslegung kann das nationale Recht ja auch im Rahmen der ihm möglichen Auslegungsmethoden auf die sog. unionsrechtsfreundliche Auslegung zurückgreifen,[14] die hier – um Wertungswidersprüche nach Anwendung der richtlinienkonformen Auslegung zu vermeiden[15] – dafür streiten würde, den Täuschungs-Begriff in § 263 StGB insgesamt (und nicht nur mit Blick auf bestimmte Opfer-Gruppen) grundsätzlich an den Wertungen der Richtlinie auszurichten. Diese sieht selbst eine Abweichung von dem genannten Verbraucher-Leitbild dann vor, wenn der Unternehmer sein Produkt einer Gruppe von Verbrauchern offeriert, "die aufgrund von geistigen oder körperlichen Gebrechen, Alter oder Leichtgläubigkeit im Hinblick auf diese Praktiken oder die ihnen zugrunde liegenden Produkte besonders schutzbedürftig sind" (Art. 5 Abs. 3 UGP-RL).

Zumindest im ersten Fall – und an diesem hat der 2. Strafsenat ja seine Argumentationslinie "vorexerziert" – ist aber die Anwendbarkeit der Richtlinie bzw. des zu ihrer Umsetzung ergangenen nationalen (Zivil-)Rechts in persönlicher wie zeitlicher Hinsicht nicht fraglich, so dass sich im Kern die Frage stellt, ob die Wertungen des europäisierten Lauterkeitsrechts bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Täuschung in § 263 StGB Berücksichtigung finden müssen oder nicht. Das Ergebnis einer solchen, im Schrifttum von vielen favorisierten richtlinienkonformen Auslegung wird vom BGH zusammengefasst in dem Sinne, es "liege eine strafrechtlich relevante Täuschung nur dann vor, wenn die im Geschäftsverkehr getätigte Aussage geeignet ist, eine informierte, aufmerksame und verständige Person zu täuschen" (616/12, Rz. 23).[16] Und dieser Position erteilt der 2. Strafsenat sodann eine ausdrückliche Absage.

IV. Zwei Argumentationsstränge

Bei der folgenden – und angenehm ausführlichen – Begründung dieser Absage changiert der BGH allerdings zwischen zwei Positionen, die im Lichte des Europarechts jedenfalls zu unterscheiden wären.

1. Ablehnung einer richtlinienkonformen Interpretation aufgrund nationaler Wertungen

Einerseits finden sich immer wieder Argumente, welche im konkreten Fall eine richtlinienkonforme Auslegung von § 263 StGB ablehnen, weil die Struktur des deutschen Betrugsstrafrechts dem entgegenstehe. Insbesondere wird darauf verwiesen, dass eine Neuinterpretation des Tatbestandsmerkmals der Täuschung in § 263 StGB im Lichte der Richtlinienvorgaben zu dessen Normativierung führen würde, während der deutsche Betrugstatbestand allein auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Fehlverständnisses beim Geschädigten abstelle (616/12, Rz. 30). Dies erinnert an die im Schrifttum ebenfalls kontrovers diskutierte Absage des 3. Strafsenats des BGH an eine rahmenbeschlusskonforme Auslegung des Begriffs einer "kriminellen Vereinigung" in § 129 StGB, weil die EU-rechtlich gebotene Erfassung auch nicht hierarchisch strukturierter Zusammenschlüsse von mehr als zwei Personen ihrerseits wesentlichen Grundgedanken des Systems der Strafbarkeit mehrerer zusammenwirkender Personen in Deutschland widerspreche (hierzulande wäre der Zusammenschluss "nur" als Bande zu qualifizieren).[17] Eine solche prinzipielle, nicht auf die auch im

Rahmen einer richtlinienkonformen Auslegung zu beachtende Wortlautschranke in malam partem,[18] sondern vielmehr allein dogmatische Fragen der Ausgestaltung der jeweils in Rede stehenden nationalen Strafnorm (die der deutsche Gesetzgeber auch anders fassen könnte und die in der früheren Rspr. auch schon anders verstanden worden sind![19]) berücksichtigende Ablehnung einer unionsrechtskonformen Auslegung ist aus europarechtlicher Sicht "nicht ohne"; immerhin wird eine eigentlich von Europarechts wegen bestehende Pflicht allein mit Blick auf das nationale (Straf-)Recht in Abrede gestellt. Weil damit eine bestehende unionsrechtliche Pflicht schlicht aus nationalrechtlichen Motiven ignoriert wird, kann man die Frage der Zulässigkeit eines solchen Vorgehens auch nicht sinnvoll dem EuGH vorlegen, zumindest solange es nicht doch einen europarechtlich anerkannten Anknüpfungspunkt für solche justizielle "Ignoranz" geben kann.

Mit Blick auf das genannte Urteil zu § 129 StGB ist darauf verwiesen worden, dass – auch jenseits zwingender nationaler und damit auch aus Unionssicht beachtlicher Auslegungsregeln wie eben des Analogieverbots – eine richtlinien- oder rahmenbeschlusskonforme Auslegung in Einzelfällen dann unterbleiben könne, wenn bei ihrer Vornahme der betroffene Teil der nationalen Strafrechtsordnung strukturell "aus den Angeln gehoben" werden dürfte;[20] dafür spricht insbesondere, dass sich aus Art. 67 AEUV sowie der "Notbremsen"-Möglichkeiten in Art. 82 Abs. 3, 83 Abs. 3 AEUV ein Schutz auch der einzelnen nationalen Strafrechtstraditionen vor Unionseingriffen ablesen lässt.[21] Auch wenn es sich bei der UGP-RL – anders als bei dem Rahmenbeschluss zu kriminellen Vereinigungen, für den diese Ansicht formuliert worden ist – mangels kriminalstrafrechtlicher Vorgaben nicht um eine (zumindest auch) originär strafrechtliche Richtlinie handelt, so dass diese – unter Geltung des Vertrags von Lissabon (zzt. des Erlasses der UGP-RL galt ja noch der Vertrag von Nizza, so dass strafrechtliche Vorgaben in EG-Richtlinien ohnehin nur im Wege einer Annexkompetenz möglich gewesen wären[22]) – nicht jedenfalls auch auf Art. 83 Abs. 2 AEUV gestützt werden müsste. Allerdings sollte außerhalb der Kernziele eines EU-Rechtsakts wohl in der Tat durch eine darauf gestützte Interpretationspflicht für ein einzelnes Tatbestandmerkmal einer Strafnorm nicht die Grundstruktur der fraglichen Strafrechtsordnung ausgehebelt werden; vorliegend könnte man einen Zwang zur Normativierung der Tatbestandsmerkmale des Betrugs vielleicht als eine in Brüssel erzwungene Kehrtwende hinter die "Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken" sehen, doch spricht dagegen die bereits erfolgte partielle Normativierung des Täuschungs-Begriffs im deutschen Recht. Überdies würde dies nichts an der Tatsache ändern, dass nach erfolgter Totalharmonisierung eines Politikfeldes innerhalb der EU letztlich die Ausnutzung der dabei freigegebenen Geschäftsmodelle nicht strafbar sein darf. Dieser Konflikt zwischen einer die Strukturen des nationalen Strafrechts – hier (möglicherweise) des Betrugstatbestandes – angreifenden richtlinienkonformen Interpretation eines Tatbestandsmerkmals (hier der Täuschung in § 263 StGB) könnte nämlich in den einschlägigen Fällen auch dadurch aufgelöst werden, dass zwar die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens zunächst bejaht wird, sodann aber entweder die nationale Umsetzungsnorm der UGP-RL als Rechtfertigungsgrund angesehen wird oder aber aufgrund des Vorrangs des Europarechts die Strafnorm im Einzelfall nicht zur Anwendung kommt.[23] Im Ergebnis dürfte dies aber wohl nichts ändern.

2. Ablehnung einer Konforminterpretation wegen des Inhalts der Richtlinie

Auf einer anderen Ebene spielen dagegen andere, vom 2. Strafsenat mit den prinzipiellen Erwägungen vermischte Argumente, die zusammengefasst dahin gehen, dass die Richtlinie angesichts des von ihr verfolgten Zwecks der vom BGH favorisierten Auslegung des Betrugs-Tatbestandes nicht entgegenstehen kann (616/12, Rz. 28). Maßgeblich ist hier also das europäische (Sekundär-) Recht. Insoweit geht es nicht um das prinzipiell Ob einer richtlinienkonformen Auslegung, sondern um deren Inhalt; kommt man in teleologischer Auslegung der Richtlinienvorgaben dazu, dass die hier streitgegenständlichen Geschäftspraktiken nicht von Europarechts wegen uneingeschränkt erlaubt sein sollten, kann aus der Richtlinie natürlich auch keine Pflicht der Strafjustiz folgen, diese Praktiken – wiewohl sie nationale Straftatbestände erfüllen – in unionsrechtskonformer Auslegung straffrei zu stellen.[24] Allerdings wäre zur abschließenden Klärung

dieser Frage ein Vorlageverfahren zum EuGH möglicherweise nahe liegend gewesen (dazu sogleich unter V.).

Der 2. Strafsenat stützt sich inhaltlich überzeugend zunächst auf das in der Rspr. des EuGH gebräuchliche Leitbild des Durchschnittsverbrauchers, das (nur) auf die Sicht eines situationsadäquat aufmerksamen Verbrauchers abstelle, nicht auf einen besonders aufmerksamen und gründlichen Idealverbraucher (616/12, Rz. 31). Stellt man auf die konkrete Situation bei dem irrigen Erwerb eine Routenplaner-Abos ab, spricht alles dafür, dass der Durchschnittsverbraucher, der einen solchen im Internet anklicken möchte, nicht damit rechnet, außerhalb des Sichtfeldes wesentliche Informationen zu einem für ihn ebenso unsinnigen wie kostspieligen Angebot zu bekommen. Dagegen ist die Situation der mit einer postalisch zugegangenen Scheinrechnung konfrontierten Adressaten im zweiten Fall (437/13) möglicherweise anders zu bewerten (angesichts seiner Pauschalverweisung auf sein vorausgegangenes Urteil geht der BGH darauf aber nicht ein); anders als bei einem typischerweise "leicht flüchtigen" Bildschirm-Bild als Grundlage einer Routenplaner-Anfrage, ist bei den Scheinrechnungen ein dauerhaft verkörpertes Schriftstück gegeben, das auch ausdrücklich – nicht verdeckt, sondern nur verkleinert und damit auf den ersten Blick zumindest lesbar – auf den Charakter als Angebot sowie, dass es sich nicht um eine Rechnung handele, verweist.

Die weitere Argumentation, wonach unter bestimmten in Art. 5 Abs. 2 und 3 UGP-RL genannten Umständen die Richtlinie gerade auch leichtgläubige Verbraucher vor bewusster Ausnutzung dieser Leichtgläubigkeit schützen soll (616/12, Rz. 32), passt vielleicht für die Nutzer des Routenplaners, kaum aber für die Registeranmelder. Demgegenüber spricht für diese zweite Fallgruppe vor allem die vom BGH aber auch im ersten Fall bemühte nähere Bestimmung des Kreises verbotener Geschäftspraktiken – und damit den für den Betrugs-Tatbestand zweifellos offenen Bereich – in Nr. 21 der in Anhang I zu der UGP-RL aufgeführten "Geschäftspraktiken, die unter allen Umständen als unlauter gelten"; dort ist als eine Fallgruppe genannt: "Werbematerialien wird eine Rechnung oder ein ähnliches Dokument mit einer Zahlungsaufforderung beigefügt, die dem Verbraucher den Eindruck vermittelt, dass er das beworbene Produkt bereits bestellt hat, obwohl dies nicht der Fall ist". Zwar geht es hier nicht um Werbematerialien, sondern um eine Registereintragung, doch wird – soweit man bei den Adressaten von Verbrauchern ausgehen kann (dazu oben) – den Empfängern der Scheinrechnungen zumindest suggeriert, sie müssten für eine von ihnen bereits veranlasste Leistung – nämlich den Eintrag in das Handels- oder Markenregister – den dafür fälligen Betrag noch entrichten.

V. Die Ablehnung einer Vorlage zum EuGH

Seit bereits mit Art. 177 EWG-Vertrag (zwischenzeitlich Art. 234 EG-Vertrag) für letztinstanzlich zuständige, nationale Gerichte – wie hier den BGH – eine Pflicht zur Vorlage einer Rechtsfrage an den EuGH begründet worden ist, hat sich die deutsche Strafjustiz mit solchen Vorlagen schwer getan. Heute bestimmt Art. 267 AEUV:

(1) Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorabentscheidung

 a) über die Auslegung der Verträge,

 b) über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union,

 (2) Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.

 (3) Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet.

 (4) Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren, das eine inhaftierte Person betrifft, bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, so entscheidet der Gerichtshof innerhalb kürzester Zeit.

Dem 2. Strafsenat ist mittels der Revision der Angeklagten in beiden Fällen offenbar eine Frage zur Auslegung des Sekundär- bzw. Umsetzungsrechts gestellt worden; und – wie gesagt – wäre er angesichts des Vorliegens einer solchen Frage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV eigentlich zur Anrufung des EuGH verpflichtet gewesen. Er hat dies nicht getan, weil er die von der "Revision angeregte Vorlage an den EuGH gem. Art. 267 AEUV" ausweislich eines entsprechenden Klammerzitats aufgrund der sog. Acte-claire-Doktrin für "nicht veranlasst" angesehen hat. Dass der 2. Strafsenat explizit auf eine europarechtlich anerkannte Ausnahme von der ebenfalls europarechtlich statuierten Vorlagepflicht rekurriert, zeigt den unbefangeneren Umgang der heutigen BGH-Richter mit dem Europarecht und den daraus fließenden eben nicht mehr primär national-rechtlich verankerten Pflichten.[25]

Die Formulierung des 2. Strafsenats ist angesichts des Wortlautes eben von Art. 267 Abs. 3 AEUV allerdings möglicherweise missverständlich; es geht eigentlich nicht darum, ob die Revision eine Vorlage zum EuGH angeregt hat, sondern ob sie eine vorlegungsbedürftige Frage gestellt hat. Selbst wenn die Revision nur die Frage aufgeworfen hat, ohne dem Gericht zu deren Klärung ausdrücklich ein Vorlageverfahren ans Herz zu legen, wäre normalerweise ein letztinstanzlich zuständiger Strafsenat von Europarechts wegen zur Vorlage verpflichtet. Richtig ist allerdings, dass bereits unter Geltung der insoweit identischen Vorgängernormen seit Anfang der 1980er Jahre seitens des EuGH eine Ausnahme von dieser ausnahmslos formulierten Vorlagepflicht angenommen worden ist, wenn die Antwort auf diese Frage so klar und offenkundig ist, dass sie eigentlich nicht zweifelhaft sein kann. Diese in ständiger Rspr. des EuGH entwickelte Acte-claire-Doktrin hat allerdings relativ enge Voraussetzungen, mit denen sich der BGH vorliegend nicht wirklich auseinandersetzt.

Entscheidend für die Annahme eines aus europarechtlicher Sicht klaren Falles ist vor einer entsprechenden Entscheidung des EuGH, dass über die einzig richtige Auslegung der maßgeblichen Frage – wie sie der 2. Strafsenat hier ja mutmaßt – Gewissheit auch bei den Gerichten der anderen Mitgliedstaaten besteht.[26] Damit setzt sich BGH aber erkennbar nicht auseinander, hätte er doch dafür auf Judikate, mindestens aber Stellungnahmen aus anderen EU-Mitgliedstaaten verweisen müssen. Im Gegenteil: Weil er davor ausschließlich auf der Grundlage deutscher Positionen argumentiert, entsteht zumindest vordergründig der Eindruck, die zur Verneinung einer Vorlagepflicht auf Grundlage der Acte-claire-Doktrin angeführte Formel, dass die "dargelegte Auslegung der Richtlinien … offenkundig und zweifelsfrei" sei, bedeutet aus seiner Sicht nur, dass innerhalb der deutschen Strafrechtspraxis und -wissenschaft die besseren Gründen für eine solche Auslegung sprechen mögen. Das wird noch dadurch unterstrichen, dass der BGH neben der die Acte-claire-Doktrin begründende Leitentscheidung des EuGH aus dem Jahr 1982[27] nur eine Entscheidung des BGH zur Frage der Auswirkungen von Art. 50 GRCh auf das EU-weit geltende Doppelbestrafungsverbot heranzieht,[28] in welcher der 1. Strafsenat – insoweit unter fast einhelliger Kritik aus der deutschen Literatur[29] – bei einer in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich gehandhabten Frage (kann man auch unter Geltung von Art. 50 GRCh noch das Vorliegen eines Vollstreckungselements i.S. von Art. 54 SDÜ verlangen?) von einer Vorlage zum EuGH abgesehen hat.[30] Erst auf die Vorlage eines anderen deutschen Gerichts – des OLG Nürnberg[31] – hat der EuGH dann Gelegenheit bekommen, zu dieser Frage abschließend von Europarechts wegen Stellung zu beziehen; er tat dies dann just am Tag vor dem Erlass des zweiten hier zu besprechenden Urteils des BGH (437/13), in welchem dieser aber – wie gesagt – schlicht auf seine Vorentscheidung verweist. Dass der EuGH[32] zur Auslegung von Art. 50 GRCh die vom BGH antizipierte und vom OLG Nürnberg mitgetragene Position letztlich ebenfalls geteilt hat, ändert nichts daran, dass zur Zeit der BGH-Entscheidung dies eben noch nicht im Sinne der Acte-claire-Doktrin klar gewesen ist. Wieder – wie schon in der Vergangenheit – kann man bei den Strafsenaten des BGH eine Zurückhaltung gegenüber Vorlagen zum EuGH geradezu mit Händen greifen; und wieder klingt das schon seit langem bestehende Missverständnis an, dass eine (Richter-)Vorlage zum EuGH letztlich faktisch so behandelt werden könnte wie eine Richtervorlage zum BVerfG im Wege der konkreten Normenkontrolle gestützt auf Art. 100 GG.[33] Eine solche setzt ja in der Tat voraus, dass das vorlegende Gericht von der Verfassungswidrigkeit der anzuwendenden Norm überzeugt ist und nicht bloß einzelne Verfahrensbeteiligte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit geäußert haben.[34] Dagegen stellt Art. 267 AEUV eindeutig nicht darauf ab, ob das zur Vorlage aufgeforderte Gericht selbst sich die Frage einer europarechtskonformen Auslegung gestellt hat oder nicht; ausreichend ist, dass ihm – dem Gericht – diese Frage gestellt worden ist, was natürlich dann auch durch einen Verfahrensbeteiligten geschehen kann (wie wohl hier durch die Revision). Ob das Gericht die gleichen Zweifel hegt oder aus seiner Sicht die aufgeworfene Frage bereits beantworten zu können vermeint, spielt eben – außerhalb der wenigen Acte-claire-Fälle – für die Frage einer Vorlagepflicht keine Rolle.

Es mag zwar durchaus nahe liegen, dass sowohl der EuGH als auch die Gerichte anderer Mitgliedstaaten in Fällen wie den beiden vorliegend zu besprechenden letztlich auch im Lichte der zwingenden Vorgaben der UGP-RL zu dem vom BGH favorisierten Ergebnis einer Strafbarkeit wegen (versuchten oder vollendeten) Betrugs gekommen wären.[35] Das setzt aber jedenfalls eine Analyse auch des fremden Rechts bzw. der Entscheidungspraxis voraus. Fehlt es (noch) an einer solchen EU-weit einheitlichen Auslegung des von Europarechts wegen inhaltsgleichen Rechts, muss man eben den EuGH dazu befragen; dessen Auslegungsergebnis wäre dann auch die Leitschnur für die (Straf-)Justiz in allen anderen Mitgliedstaaten. Erkennt man mit dem BVerfG auch den EuGH im Rahmen seiner europarechtlich begründeten Zuständigkeit als gesetzlichen Richter i.S.v. Art. 101 GG an,[36] geht es letztlich auch nicht so sehr um das konkrete Ergebnis – hier die in der Tat nahe liegende Bejahung einer Betrugsstrafbarkeit –, als vielmehr zumindest auch darum, dass dieses Ergebnis von der dazu berufenen Stelle – eben dem dazu gesetzlich bestimmten Gericht – und nicht von einem anderen Institution gefunden wird.

Allerdings ist festzuhalten, dass die Frage, ob nach nationalem (Verfassungs-)Recht – und damit letztlich im Lichte der Rspr. des BVerfG – in der Nichtanrufung des EuGH trotz Vorliegens der Voraussetzungen von Art. 267 AEUV zugleich ein Verstoß gegen Art. 101 GG liegt, welche ihrerseits allein nach nationalem Recht und durch die zu dessen Anwendung berufenen nationalen Gerichte zu beantworten ist, ohne Einfluss auf die Beantwortung der (Vor-) Frage ist, ob Art. 267 AEUV eine Vorlage ge-

bietet oder nicht.[37] Nicht jede unter Verletzung von Art. 267 AEUV unterbliebene Vorlage zum EuGH stellt zugleich einen vor dem BVerfG zu rügenden Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters dar; insoweit beschränkt sich das BVerfG auf eine Willkürkontrolle,[38] was von Europarechts wegen nicht zu beanstanden ist, weil das EU-Recht selbst die Mitgliedstaaten nicht zu einer eigenständigen Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Nichtvorlage auf Basis von Art. 267 AEUV verpflichtet. Damit lässt sich aber auch nicht aus einer mit Blick auf die BVerfG-Rspr. herzuleitenden Nicht-Verletzung von Art. 101 GG auf die (Unions-)Rechtmäßigkeit der Nicht-Vorlage zum EuGH schließen.[39]

VI. Fazit

Im Ergebnis ist dem BGH sicherlich darin beizupflichten, dass es auch von Europarechts wegen im Lichte der UGP-RL nicht sein können sollte, dass die bewusste Ausnutzung von Leichtgläubigkeit ohne irgendeine erkennbare wirtschaftliche Sinnhaftigkeit für die Opfer straffrei sein muss.[40] Allerdings sollte man sich vor einer vorschnellen Postulierung dieses Ergebnisses als des einzig denkbaren vergegenwärtigen, dass in einem Binnenmarkt wie dem der EU nach erfolgter Vollharmonisierung eines Rechtsgebietes in allen Mitgliedstaaten die gleichen Maßstäbe hinsichtlich der Zulässigkeit (hier) bestimmter Geschäftspraktiken gelten müssen und sich daran auch das jeweilige nationale Strafrecht orientieren muss, so dass nicht letztlich "durch die Hintertür" von Europarechts wegen zulässige Verhaltensweisen in einzelnen Mitgliedstaaten einer Strafbarkeit unterfallen können. Deshalb und auch wegen der Position des EuGH als der vorrangig für die Entscheidung von solchen Fragen zuständige Institution (die als gesetzlicher Richter obendrein in Deutschland mittels Art. 101 GG verfassungsrechtlich abgesichert ist) sollte man das Entscheidungsmonopol des EuGH nicht durch nationale Alleingänge unterlaufen. Der früher auch von mir[41] angebrachte Einwand, ein Vorlageverfahren zum EuGH koste notwendig viel Zeit und verzögere dadurch ein (zumal in Wirtschaftsstrafsachen) ohnehin bereits langes Verfahren, obwohl das Ergebnis doch bereits offensichtlich (und eben nur noch nicht auch vom EuGH postuliert) sei, greift heute nicht mehr ein, gibt es doch seit einigen Jahren auch beim EuGH ein beschleunigtes Vorlageverfahren.[42] Dass dieses auch tatsächlich zu einer immensen Zeitersparnis führt, zeigt ein Blick auf die bisherigen Fälle; so hat der EuGH in der oben angesprochenen Spasic-Entscheidung auf die Vorlage des OLG Nürnberg zu Art. 50 GRCh bereits binnen gut zwei Monaten seine Position darlegen und damit die zugrunde liegende Rechtsfrage letztlich mit Wirkung für die gesamte EU einer Klärung zuführen können.


[1] Im Folgenden werden die beiden Fälle zur besseren Unterscheidung mit ihrer laufenden Nummerierung als "616/12" bzw. "437/13" zitiert. Die streitgegenständliche EG-Richtlinie wird mit UGP-RL abgekürzt.

[2] Vgl. die Besprechung des ersten Urteils von Hecker JuS 2014, 385 ff. und Hecker/Müller ZWH 2014, 329 ff. sowie – weniger kritisch – Rönnau/Wegner JZ 2014, 1064 ff.

[3] An dieser Entscheidung des LG Frankfurt übt der 2. Strafsenat – m.E. in der Sache überzeugend – Kritik, verzichtet aber – weil die Verurteilung des Angeklagten "nur" wegen versuchten Betrugs diesen nicht beschwert – auf eine Aufhebung (616/12, Rz. 40).

[4] Zu Scheinrechnungen BGHSt 47, 1.

[5] Grundlegend Hecker, Strafbare Produktwerbung im Lichte des Gemeinschaftsrechts (2001), S. 320 ff.; ders., Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. (2012), § 9 Rn. 34 ff.

[6] Z.B. Dannecker ZStW 117 (2005), 697, 711 ff.

[7] BGHSt 34, 199.

[8] ABl.EU 2005, Nr. L 149, S. 22.

[9] Dazu ausf. Heim, Vereinbarkeit der deutschen Betrugsstrafbarkeit (§ 263 StGB) mit unionsrechtlichen Grundsätzen und Regelungen zum Schutz der Verbraucher vor Irreführungen (2013). – Gegen eine Anknüpfung an das Verbraucherleitbild der UGP-RL insbes. Vergho, Verbrauchererwartung und Verbraucherschutzrecht (2009), S. 119 f. u. 301 ff. sowie wistra 2010, 86 ff.; Eisele NStZ 2010, 193, 196.

[10] Hecker/Müller ZWH 2014, 329, 330.

[11] Dazu Rönnau/Wegner GA 2013, 561, 565.

[12] Dazu Heger, in: Böse, Enzyklopädie des Europarechts, Bd. IX (2013), § 5 Rn. 116.

[13] Vgl. zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung EuGH, Rs. C-79/11, NJW 2012, 2418 (Maurizio Giovanardi u.a.).

[14] Dazu Heger (Fn. 11), § 5 Rn. 103.

[15] Zu deren Funktionen vgl. schon Dannecker JZ 1996, 869, 872 f.

[16] Unter Hinweis auf Soyka wistra 2007, 127, 132; Satzger, in SSW-StGB, 2. Aufl. (2014), § 263 Rn. 113 f.; ders., Internationales und Europäisches Strafrecht, 6. Aufl. (2013), § 9 Rn. 104 f.; Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 17 u. 21; Ruhs, in: FS Rissing-van Saan (2011), S. 567, 579 ff.

[17] BGHSt 54, 216 = HRRS 2010 Nr. 71 m. Anm. Zöller JZ 2010, 908 ff., Bader NJW 2010, 1986 ff. und Archangelskij NJ 2010, 172; vgl. dazu auch Eidam StV 2012, 373 ff. und Heger (Fn. 11), § 5 Rn. 110.

[18] Vgl. dazu nur Heger (Fn. 11), § 5 Rn. 120.

[19] Man denke nur mit Blick auf das Verhältnis von Bande und Vereinigung an die epochale Wende des Großen Senats im Jahr 2001 (BGHSt 46, 321), als er der bis dahin ganz herrschenden Rspr., wonach eine Bande auch bereits der Zusammenschluss von zwei Personen sein konnte, eine Absage erteilt hat; hätte der BGH an der überkommenen Auffassung zu den Mindestquantitäten festgehalten, wäre eine Abgrenzung zwischen Bande (mindestens zwei Personen) und Vereinigung (mindestens drei Personen) auch allein quantitativ und damit nicht bloß anders als nur durch ein Festhalten an dem Hierarchie-Element möglich gewesen. Und auch beim Betrug-Tatbestand gab es ohne gesetzgeberische Modifikation von § 263 Abs. 1 StGB Zeiten, in denen etwa der Vermögensschaden unter Zugrundelegung des rein juristischen Vermögensbegriffs stark normativiert war, während der rein ökonomische Vermögensbegriff zwischenzeitlich zu einer vollständigen Entnormativierung geführt hat (vgl. dazu nur Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 263 Rn. 79 ff.); eine strakte (Re-)Normativierung erfährt der Vermögensbegriff dann wieder im "Rheinausbau"-Fall (BGHSt 38, 186), wenn allein aus dem Vorliegen eines Kartells darauf geschlossen wird, dass mangels echten Wettbewerbs ein höherer Preis bezahlt wird als der Wettbewerbs-Preis, so dass in der Differenz ein Schaden des Ausschreibenden gesehen wird, selbst wenn die Leistung eigentlich "ihr Geld wert" ist. Eine solche Normativierung gab es jüngst auch in Bezug auf das Tatbestandselement der Täuschung, wie Hecker/Müller (ZWH 2014, 329, 335) mit Blick auf die Rspr. des BGH zu den Fußballwetten (BGHSt 51, 165 = HRRS 2007 Nr. 1 mit Anm. u.a. Gaede HRRS 2007, 16 ff.) überzeugend darlegen.

[20] Vgl. Zöller JZ 2010, 908, 912.

[21] Heger (Fn. 11), § 5 Rn. 118.

[22] Grundlegend EuGH, Slg. 2005, I-7879 ("Umweltstrafrecht").

[23] Dazu Heger (Fn. 11), § 5 Rn. 81 ff.

[24] Vgl. Heger (Fn. 11), § 5 Rn. 116.

[25] In BGHSt 43, 219, 224 ff., hatte der gleiche Senat 1997 in der Sache ähnlich argumentiert, aber gerade nicht auf die Acte-claire-Doktrin als das einschlägige europarechtliche Instrument hingewiesen (vgl. dazu Heger, Die Europäisierung des deutschen Umweltstrafrechts[2009]S. 41 f.).

[26] Insofern war der 1. Strafsenat im Jahre 2006 schon "weiter", rekurriert er doch auf die Rspr. des EuGH zu ähnlichen Vorlagen aus anderen Mitgliedstaaten (BGHSt 51, 124, 131 = HRRS 2006 Nr. 948).

[27] EuGH NJW 1983, 1257.

[28] BGHSt 56, 11, 16 (dazu u.a. Böse GA 2011, 504 ff. und Hecker JuS 2012, 261 ff.).

[29] So Swoboda JICJ 9 (2011), 243 ff.; Böse GA 2011, 504, 512; Satzger, FS Roxin II, 2011, S. 1515, 1525 f.; Merkel/Scheinfeld ZIS 2012, 206, 212 f., Hecker JuS 2012, 261 ff. und Schomburg/Suominen-Picht NJW 2012, 1190, 1192); ebenso – wenngleich zu LG Aachen, StV 2010, 237 – bereits Burchard/Brodowski StraFo 2010, 179, 185 f. Vgl. auch Heger, FS Kühne (2013), S. 565, 574 f.

[30] Mittels eines Nichtannahmebeschlusses nicht beanstandet vom BVerfG (NJW 2012, 1202; vgl. dazu Merkel/Scheinfeld ZIS 2012, 206 ff., Eckstein ZIS 2013, 220 ff. und Walther ZJS 2013, 16 ff.).

[31] OLG Nürnberg, EuGH-Vorlage vom 19.3.2014, 2 Ws 98/14, NJW-Spezial 2014, 314.

[32] EuGH, NJW 2014, 3007= HRRS 2014 Nr. 484 ("Spasic") m. Bespr. Gaede NJW 2014, 2990 ff., Meyer HRRS 2014, 270 ff. und Hecker JuS 2014, 845 ff.

[33] Vgl. schon Heger (Fn. 25), S. 42 f.

[34] St. Rspr.; z.B. BVerfGE 78, 104, 117; 80, 54, 59; 86, 52, 57.

[35] So deutlich bereits Erb ZIS 2011, 368, 375 f., der allerdings für dieses Statement gerade keinerlei Rechtsvergleich betreiben hat, so dass es letztlich eher eine – wenngleich natürlich inhaltlich völlig nachvollziehbare – Argumentation auf der Basis natürlicher Vernunft ist (ihm freilich dezidiert beipflichtend Rönnau/Wegner JZ 2014, 1064, 1067 Fn. 37).

[36] BVerfGE 82, 159.

[37] Heger (Fn. 25), S. 42 f.

[38] St. Rspr.; vgl. nur BVerfG, NJW 2014, 2489, 2490.

[39] Zur Frage einer Verletzung von Art. 101 GG durch die Nicht-Vorlage im vorliegenden Fall näher (und m.E. im Lichte der Praxis des BVerfG überzeugend) Rönnau/Wegner JZ 2014, 1064, 1067 f.

[40] Rönnau/Wegner JZ 2014, 1064, 1067.

[41] Heger (Fn. 25), S. 44 ff.

[42] Zu dieser Problematik ausf. Wolter, Vorabentscheidungsverfahren und Beschleunigungsgebot in Strafsachen (2011).