HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2012
13. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

434. EGMR Nr. 43547/08 (5. Kammer) – Urteil vom 12. April 2012 (Stübing v. Deutschland)

Zulässigkeit der Strafbarkeit des Geschwisterinzests nach dem Recht auf Achtung der Familie und des Privatlebens (Allgemeines Persönlichkeitsrecht; Recht auf sexuelle Selbstbestimmung; Rechtsgutsschutz und Schutz von Moralvorstellungen; pressing social need; Verhältnismäßigkeit).

Art. 8 EMRK; Art. 2 Abs. 1, Art 1 Abs. 1 GG; § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB

1. Die deutsche Strafbarkeit des Geschwisterinzests gemäß § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB verstößt für den „Leipziger Inzestfall“, in dem das Gericht von einer Abhängigkeit der jüngeren, persönlichkeitsgestörten Schwester gegenüber dem verurteilten älteren Bruder ausging, nicht gegen Art. 8 EMRK.

2. Eine Bestrafung, die in Art. 8 EMRK eingreift, setzt die Rechtfertigung durch ein zwingendes gesellschaftliches Bedürfnis voraus. Wenn ein besonders bedeutsamer Aspekt des Privatlebens oder der eigenen Identität betroffen ist, genießen die Vertragsstaaten der EMRK in der Regel nur einen geringen Beurteilungsspielraum. Wenn die Vertragsstaaten etwa in das Sexualleben eines Bürgers eingreifen wollen, müssen sie besonders überzeugende Gründe zur Rechtfertigung anführen. Allerdings ist der Beurteilungsspielraum auch hier weiter zu bemessen, wenn zur rechtlichen Behandlung einer Fallkonstellation kein europäischer Grundkonsens besteht. Dies gilt besonders, wenn – wie zum Beispiel bei der Behandlung des

Inzests – moralische oder ethische Fragen auf dem Spiel stehen.


Entscheidung

372. BVerfG 2 BvR 2258/09 (Zweiter Senat) – Beschluss vom 27. März 2012 (OLG Frankfurt am Main / LG Darmstadt)

Freiheitsgrundrecht; Maßregel der Besserung und Sicherung, Freiheitsstrafe („verfahrensfremde“); Anrechnung; Sanktionensystem (zweispuriges; vikariierendes); Strafanspruch (staatlicher); Resozialisierung; Verhältnismäßigkeit.

Art. 2 Abs. 2 GG; § 61 StGB; § 63 StGB; § 67 Abs. 4 StGB; § 454b Abs. 2 StPO; § 456a StPO; § 44b Abs. 2 StVollstrO

1. Während die Verhängung und Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ihre Grundlage wie auch ihre Begrenzung in der Schuld des Verurteilten findet, wird eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung dem Betroffenen wegen einer von ihm ausgehenden Gefahr für die Allgemeinheit als Sonderopfer auferlegt. Angesichts ihrer unterschiedlichen Zielrichtung dürfen Strafen und freiheitsentziehende Maßregeln grundsätzlich nebeneinander angeordnet werden (Bezugnahme auf BVerfGE 91, 1, 31).

2. Die Zweispurigkeit des Sanktionensystems des Strafgesetzbuchs aus Strafen einerseits und Maßregeln der Besserung und Sicherung andererseits kann dazu führen, dass der Verurteilte Freiheitsentziehungen auf doppelter Grundlage und damit gegebenenfalls kumulativ erleidet. Daher muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur isoliert hinsichtlich jeder einzelnen freiheitsentziehenden Maßnahme, sondern auch für die Maßnahmen in ihrer Gesamtwirkung gewahrt sein. Dies ist im Wege einer umfassenden Abwägung aller Umstände zu prüfen, bei der insbesondere auch der staatliche Strafanspruch und das Resozialisierungsgebot zu berücksichtigen sind.

3. Das zweispurige, vikariierende Sanktionensystem des Strafgesetzbuches trägt diesen verfassungsrechtlichen Erfordernissen grundsätzlich Rechnung, indem es vorsieht, dass eine freiheitsentziehende Maßregel regelmäßig vor der Strafe vollstreckt und die Zeit ihres Vollzugs auf die Strafe angerechnet, bis zwei Drittel der Strafe erledigt sind (§ 67 Abs. 4 StGB). Diese nur teilweise Anrechnung ist wegen der unterschiedlichen Zielrichtung von Strafe und Maßregel und zur Förderung der Mitwirkungsbereitschaft des Betroffenen an seiner Resozialisierung verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich.

4. § 67 Abs. 4 StGB verletzt jedoch das Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, soweit er es auch in Härtefällen ausschließt, dass die Zeit der Unterbringung im Maßregelvollzug auf „verfahrensfremde“ Freiheitsstrafen angerechnet werden kann. „Verfahrensfremd“ sind Freiheitsstrafen, die in einem anderen Urteil als die Maßregel verhängt worden sind, das diesbezüglich auch nicht gesamtstrafenfähig ist.

5. Ein derartiger Härtefall kann etwa anzunehmen sein, wenn dem Betroffenen aufgrund besonderer Gegebenheiten des Einzelfalles und ohne dass ihm dies zurechenbar ist eine erheblich über die verhängten Freiheitsstrafen hinausgehende Dauer der Freiheitsentziehung oder die Entwertung eines bereits erzielten Resozialisierungserfolgs droht und dies nicht mittels der gesetzlichen Instrumente des Vorwegvollzugs der Strafe (§ 67 Abs. 2 StGB, § 44b Abs. 2 Satz 1 StVollstrO), der Unterbrechung des Maßregelvollzugs (§ 454b Abs. 2 StPO), des Absehens von Vollstreckung wegen Auslieferung (§ 456a StPO) oder der erneuten Verhängung einer Maßregel zu vermeiden ist.

6. Bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber ist § 67 Abs. 4 StGB nur noch mit der Maßgabe anwendbar, dass die im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung verbrachte Zeit zur Vermeidung einer unverhältnismäßigen Härte im Einzelfall auch auf verfahrensfremde Freiheitsstrafen anzurechnen ist.


Entscheidung

371. BVerfG 2 BvR 2405/11 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 14. März 2012 (BGH / LG Potsdam)

Willkürverbot; faires Verfahren (Recht auf ein); Öffentlichkeit des Verfahrens; Grundsatz der Öffentlichkeit; Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege; Rechtsfindung (ungestörte); Sicherheitsverfügung; Trageverbot; Zugangsverbot; Hausrecht; Kleidungsgegenstände; Motorradweste („Kutte“); Hells Angels; Motorradclub.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 169 Satz 1 GVG; § 338 Nr. 6 StPO

1. Es begegnet unter dem Aspekt des Willkürverbots keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn der Grundsatz der Öffentlichkeit (§ 169 Satz 1 GVG) aufgrund unabweisbarer Bedürfnisse der Rechtspflege eingeschränkt wird, auch wenn diese gesetzlich nicht geregelt sind. Ein solcher Belang ist die Notwendigkeit, für eine sichere und ungestörte Durchführung der Gerichtsverhandlung zu sorgen.

2. Ein Gerichtspräsident darf auf der Grundlage seines Hausrechts bei einem nachvollziehbaren Anlass im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens Zugangsbeschränkungen zum Gerichtsgebäude anordnen, soweit diese den Zugang zu einer Verhandlung nur unwesentlich erschweren und eine Auswahl der Zuhörerschaft nach bestimmten persönlichen Merkmalen vermeiden.

3. Nicht zu beanstanden ist vor diesem Hintergrund die Sicherheitsverfügung eines Gerichtspräsidenten, wonach im Gerichtsgebäude das Tragen von Motorradwesten („Kutten“) oder anderen Bekleidungsgegenständen untersagt wird, die die Zugehörigkeit zu einem Motorradclub demonstrieren, dessen Mitgliedern teilweise schwere Gewalttaten vorgeworfen werden.

4. Dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten und auch von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK gewährleisteten Grundsatz der Öffentlichkeit mündlicher Verhandlungen stehen die verfassungsrechtlichen Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege, insbesondere der ungestörten Wahrheits- und Rechtsfindung, gegenüber.

5. Das Verbot, im Gerichtsgebäude bestimmte Kleidungsstücke zu tragen, berührt zwar als rechtliches Zugangshindernis den Grundsatz der Öffentlichkeit, schränkt ihn jedoch nicht unverhältnismäßig ein, wenn es den Betroffenen durch Ablegen des Kleidungsstücks ohne Weiteres möglich ist, Zugang zum Gerichtsgebäude zu erhalten.


Entscheidung

366. BVerfG 2 BvL 8/11, 2 BvL 9/11 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 15. März 2012 (AG Düren)

Normenkontrolle (konkrete); Richtervorlage; Entscheidungserheblichkeit; Verfassungswidrigkeit (Überzeugung); Betäubungsmittel; unerlaubte Einfuhr; nicht geringe Menge; Mindeststrafe; Strafrahmen; Gestaltungsspielraum; Schuldgrundsatz; Übermaßverbot; Wirtschafts- und Rechtsraum (gemeinsamer, europäischer).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 100 Abs. 1 GG; § 29 BtMG; § 29a BtMG; § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG

1. Die für eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG erforderliche Entscheidungserheblichkeit steht in der strafprozessualen Hauptverhandlung erst nach Durchführung einer förmlichen Beweisaufnahme fest. Das vorlegende Gericht hat dabei alternativ und konkret darzulegen, welche unterschiedlichen Strafen es bei Geltung der für verfassungswidrig gehaltenen Norm einerseits und bei Anwendung eines stattdessen heranzuziehenden Strafrahmens andererseits festgesetzt hätte.

2. Das vorlegende Gericht muss seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Norm begründen, indem es den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab angibt, alle für seine Überzeugung maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar und umfassend darlegt und sich dabei auch mit den Erwägungen des Gesetzgebers und der daran anknüpfenden obergerichtlichen Rechtsprechung auseinandersetzt.

3. Bei der Festlegung eines Strafrahmens steht dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Ein Verstoß gegen den Schuldgrundsatz und das Übermaßverbot ist nur dann feststellen, wenn die gesetzliche Regelung zu schlechthin untragbaren Ergebnissen führt. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ist nur anzunehmen, wenn sich für eine tatbestandliche Differenzierung kein sachlich einleuchtender Grund finden lässt.

4. Die Einfuhr von Betäubungsmitteln als Anknüpfungspunkt für einen erhöhten Strafrahmen (§ 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG) ist grundsätzlich auch bei Sachverhalten innerhalb des Schengen-Raumes verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, zumal in derartigen Fällen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine besonders sorgfältige Prüfung eines minderschweren Falles angezeigt ist.

5. Der schlichte Hinweis auf einen gemeinsamen europäischen Wirtschafts- und Rechtsraum stellt nicht die Legitimität des gesetzgeberischen Ziels in Frage, gerade die illegale Einfuhr von Betäubungsmitteln in das Bundesgebiet zu verhindern.


Entscheidung

367. BVerfG 1 BvR 210/12 (2. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 13. März 2012 (OLG München / LG München II)

Verteidiger; Berufstracht; Krawatte; Zurückweisung; Berufsausübungsfreiheit.

Art. 12 Abs. 1 GG; § 176 GVG; § 20 BORA; § 59b Abs. 2 Nr. 6 BRAO

Die Zurückweisung eines Verteidigers, der sich trotz mehrfacher Aufforderung des Vorsitzenden weigert, in einem Hauptverhandlungstermin eine Krawatte anzulegen, greift allenfalls so leicht in die anwaltliche Berufsausübungsfreiheit ein, dass die Annahme einer gegen die Zurückweisung gerichteten Verfassungsbeschwerde nicht zur Durchsetzung der anwaltlichen Rechte aus Art. 12 Abs. 1 GG geboten ist.


Entscheidung

368. BVerfG 2 BvR 368/10 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 29. Februar 2012 (OLG Frankfurt am Main / LG Marburg)

Resozialisierung; lebenslange Freiheitsstrafe; Vollzugsplan; Vollzugslockerungen; Ausführung; Fluchtgefahr; Missbrauchsgefahr; effektiver Rechtsschutz; Verfassungsbeschwerde (Substantiierungserfordernis).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 11 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG; § 109 StVollzG; § 119 Abs. 3 StVollzG

1. Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auch bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe auf eine Resozialisierung auszurichten, schädlichen Auswirkungen des langjährigen Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und die Tüchtigkeit des Inhaftierten für ein Leben in Freiheit zu erhalten. Dieser grundrechtlichen Verpflichtung dienen Vollzugslockerungen und Behandlungsmaßnahmen.

2. Auch wenn bei einem Strafgefangenen noch keine konkrete Entlassungsperspektive besteht, können vor dem Hintergrund des Resozialisierungsgebots zumindest Lockerungen in Form von Ausführungen i. S. d. § 11 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG geboten sein.

3. Die bei einer Ausführung vorgesehene Begleitung durch Justizvollzugsbedienstete ist regelmäßig geeignet, einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr wirksam zu begegnen. Daher kann die Versagung einer Ausführung mit einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr nur begründet werden, wenn hierfür im Einzelfall – etwa angesichts eines früheren Fluchtversuchs oder einer Einbindung des Gefangenen in Strukturen der organisierten Kriminalität – konkrete Anhaltspunkte bestehen.

4. Sieht das Beschwerdegericht nach § 119 Abs. 3 StVollzG von einer Begründung der Beschwerdeentscheidung ab, so ist dies mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG nur vereinbar, wenn dadurch die gesetzlich eröffnete Beschwerdemöglichkeit nicht leer läuft. Dies ist bereits dann anzunehmen, wenn erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidung bestehen, etwa weil die Entscheidung offenkundig von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweicht.


Entscheidung

369. BVerfG 2 BvR 1954/11 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 29. Februar 2012 (OLG München / LG München II)

Unverletzlichkeit der Wohnung; Steuerhinterziehung; Durchsuchung; Notariat; Urkunde (notarielle); Treuhandvereinbarung; Finanzamt; Anfrage; Verhältnismäßigkeit; Geeignetheit; Mitteilungspflicht; Offenbarungspflicht.

Art. 13 GG; § 103 StPO; § 105 StPO; § 54 EStDV; § 20 AO; § 30 AO

1. Der Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses stellt einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1, Abs. 2 GG dar, wenn ein milderes Mittel zur Verfügung steht, mit dem der Zweck der Durchsuchung ebenso wirksam erzielt werden kann.

2. Kommt es in einem Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung darauf an, ob zwischen den Angeklagten ein Treuhandverhältnis bestand, so ist gegenüber der Durchsuchung eines Notariats, bei dem die Treuhandvereinbarung möglicherweise beurkundet worden ist, die Anfrage bei dem nach § 20 AO zuständigen Finanzamt ein milderes, ebenso geeignetes Mittel.

3. Die Eignung einer Anfrage bei dem Finanzamt ergibt sich daraus, dass Notare nach § 54 EStDV verpflichtet sind, den Abschluss eines Treuhandvertrages gemäß § 54 EStDV dem Finanzamt anzuzeigen, und dass nach § 30 Abs. 2, Abs. 4 AO die Offenbarung der von einem Finanzbeamten erlangten Kenntnisse zum Zwecke eines Steuerstrafverfahrens zulässig ist.


Entscheidung

370. BVerfG 2 BvR 1396/10 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 16. April 2012 (OLG Celle / LG Lüneburg)

Sicherungsverwahrung („Altfälle“); Vertrauensschutz, Verhältnismäßigkeit (strikte Prüfung; erhöhte Anforderungen).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 2 Abs. 6 StGB; § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB; § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG

1. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u. a. = HRRS 2011 Nr. 488) beeinträchtigt die zehn Jahre überschreitende Sicherungsverwahrung gemäß § 67d Abs. 3 Satz 1, § 2 Abs. 6 StGB ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen, wenn dieser die Anlasstaten vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) begangen hat (sog. Altfälle). Die Fortdauer der Unterbringung ist in diesen Fällen nur verhältnismäßig, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist und wenn bei ihm eine psychische Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes (ThUG) besteht.

2. Die Entscheidung einer Strafvollstreckungskammer, die diese einschränkenden Voraussetzungen nicht beachtet, verstößt auch dann gegen die Verfassung, wenn sie bereits vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 ergangen ist. Entscheidend ist insoweit allein die objektive Grundrechtsverletzung und nicht, ob diese den Fachgerichten vorwerfbar ist.


Entscheidung

373. BVerfG 1 BvR 711/12 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 30. März 2012 (LG Hamburg)

Einstweilige Anordnung; Folgenabwägung; Rundfunkfreiheit; Fernsehaufnahmen; Bildberichterstattung; Informationsinteresse der Öffentlichkeit; Persönlichkeitsrecht; Unschuldsvermutung.

Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG; § 171a GVG; § 176 GVG; § 32 Abs. 1 BVerfGG

1. Bei der Folgenabwägung im Rahmen des § 32 Abs. 1 BVerfGG über eine Entscheidung nach § 176 GVG, mit der die Fernsehberichterstattung über eine Hauptverhandlung eingeschränkt wird, sind das Informationsinteresse der Öffentlichkeit und die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten gegeneinander abzuwägen.

2. Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit orientiert sich an der Person des Angeklagten und den besonderen Umständen der ihm zur Last gelegten Straftat, daneben jedoch auch an den zur Mitwirkung an dem Verfahren berufenen Personen.

3. Dem Persönlichkeitsrecht der Verfahrensbeteiligten kommt im Strafverfahren besondere Bedeutung zu. Beim Angeklagten gilt dies verstärkt, wenn besonders persönlichkeitsrelevante Fragen – wie etwa eine psychische Erkrankung – zu erörtern sind, sowie allgemein unter dem Gesichtspunkt der Unschuldsvermutung, der jedoch bei einem Geständnis an Gewicht verliert.

4. Hat eine Straftat besondere mediale Aufmerksamkeit erfahren, weil das Opfer mit Waffengewalt entführt und in einer zu einer Art Gefängnis umgebauten Wohnung eingekerkert werden sollte, so schränkt ein umfassendes Verbot von Fernsehaufnahmen auch außerhalb des Sitzungssaals das Informationsinteresse der Öffentlichkeit übermäßig ein, auch wenn der Angeklagte zwar geständig, jedoch mutmaßlich schuldunfähig ist.


Entscheidung

374. BVerfG 2 BvR 211/12 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 5. April 2012 (OLG Celle)

Effektiver Rechtsschutz; Zugang zum Gericht; Rechtsbehelf; Leerlaufen; Formerfordernisse; Antrag auf gerichtliche Entscheidung; Darlegungsanforderungen; Begründungsanforderungen.

Art. 19 Abs. 4 GG; § 23 EGGVG; § 24 Abs. 1 EGGVG; § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 456a StPO

1. Das von Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete Recht auf effektiven Rechtsschutz verbietet es, einen von der jeweiligen Verfahrensordnung eröffneten Rechtsbehelf durch eine überstrenge Handhabung prozessualer Vorschriften ineffektiv zu machen.

2. Die erhöhten Darlegungsanforderungen im Klageerzwingungsverfahren (§ 172 Abs. 3 Satz 1 StPO) sind auf das Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG nicht übertrag-

bar, weil es hier um die Abwehr der Verletzung eines subjektiven Rechts durch staatliches Handeln geht.

3. Der Zugang zu gerichtlichem Rechtschutz wird in verfassungswidriger Weise beschränkt, wenn ein Gericht im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG die inhaltliche Prüfung eines Vorbringens allein deshalb verweigert, weil ein Sachverhalt nur durch Beifügung und Inbezugnahme eines Schriftstücks dargelegt worden ist.

4. Beantragt ein Strafgefangener das Absehen von der weiteren Strafvollstreckung nach § 456a StPO, so darf das Oberlandesgericht seinen Rechtsbehelf nach §§ 23 ff. EGGVG nicht nur deshalb zurückweisen, weil er seine Straftaten nicht selbst darstellt, sondern insoweit auf den beigefügten Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft Bezug nimmt, in welchem die wesentlichen Urteilsfeststellungen wiedergegeben und gewürdigt worden sind.

5. Den Begründungsanforderungen nach § 24 Abs. 1 EGGVG ist allerdings nur genügt, wenn der Antrag auf gerichtliche Entscheidung sich mit den wesentlichen Gesichtspunkten des angegriffenen Bescheides substantiiert auseinandersetzt. Hierfür reicht es nicht aus, Abwägungskriterien, welche die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung herangezogen hat, anders als diese zu gewichten.