HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2012
13. Jahrgang
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V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

232. BGH 1 StR 579/11 – Beschluss vom 15. Dezember 2011 (LG Essen)

BGHR; Steuerverkürzung in großem Ausmaß bei der Steuerhinterziehung (Griff in die Kasse des Staates; Fallgruppen des großen Ausmaßes; Anlehnung an den Betrug); mangelnde Vereidigung des Dolmetschers (allgemeine Beeidigung; Beruhen; Beweiskraft des Sitzungsprotokolls; Protokollberichtigungsverfahren: Überprüfung eines substantiierten Widerspruchs des Verteidigers).

§ 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO; § 371 Abs. 2 Nr. 3 AO; § 263 StGB; § 189 GVG; § 337 StPO; § 274 StPO; § 273 StPO

1. Zur Wertgrenze des Merkmals „in großem Ausmaß“ des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO beim „Griff in die Kasse des Staates“. (BGHR)

2. Das Merkmal „in großem Ausmaß“ im Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO bestimmt sich nach objektiven Maßstäben und liegt grundsätzlich dann vor, wenn der Hinterziehungsbetrag 50.000 Euro übersteigt. Die Betragsgrenze von 50.000 Euro kommt namentlich dann zur Anwendung, wenn der Täter ungerechtfertigte Zahlungen vom Finanzamt erlangt hat, etwa bei Steuererstattungen durch Umsatzsteuerkarusselle, Kettengeschäfte oder durch Einschaltung von sog. Serviceunternehmen („Griff in die Kasse“). (Bearbeiter)

3. Beschränkt sich das Verhalten des Täters indes darauf, die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen und führt das lediglich zu einer Gefährdung des Steueranspruchs, liegt die Wertgrenze zum „großen Ausmaß“ demgegenüber bei 100.000 Euro (BGHSt 53, 71, 85). Dasselbe gilt auch dann, wenn der Steuerpflichtige zwar eine Steuerhinterziehung durch aktives Tun (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) begeht, indem er eine unvollständige Steuererklärung abgibt, er dabei aber lediglich steuerpflichtige Einkünfte oder Umsätze verschweigt (vgl. BGH wistra 2011, 396) und allein dadurch eine Gefährdung des Steueranspruchs herbeiführt. (Bearbeiter)

4. Anders ist die Sachlage, wenn der Täter steuermindernde Umstände vortäuscht, indem er etwa tatsächlich nicht vorhandene Betriebsausgaben vortäuscht oder nicht bestehende Vorsteuerbeträge geltend macht. Hier unternimmt er einen „Griff in die Kasse“ des Staates, weil die Tat zu einer Erstattung eines (tatsächlich nicht bestehenden) Steuerguthabens oder zum (scheinbaren) Erlöschen

einer bestehenden Steuerforderung führen soll. (Bearbeiter)

5. Trifft beides zusammen, das Verheimlichen von Einkünften bzw. Umsätzen einerseits und die Vortäuschung von Abzugsposten andererseits, etwa beim Verheimlichen von Umsätzen und gleichzeitigem Vortäuschen von Vorsteuerbeträgen, ist das Merkmal „in großem Ausmaß“ i.S.v. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO jedenfalls dann erfüllt, wenn der Täter vom Finanzamt ungerechtfertigte Zahlungen in Höhe von mindestens 50.000 Euro erlangt hat. Dasselbe gilt aber auch, wenn ein aufgrund falscher Angaben scheinbar in dieser Höhe (50.000 Euro) bestehender Auszahlungsanspruch ganz oder teilweise mit anderweitigen Steuerverbindlichkeiten verrechnet worden ist. Hat dagegen die Vortäuschung von steuermindernden Umständen für sich allein noch nicht zu einer Steuerverkürzung von mindestens 50.000 Euro geführt, verbleibt es für die Tat insgesamt beim Schwellenwert von 100.000 Euro. (Bearbeiter)

6. Ob die Schwelle des „großen Ausmaßes“ überschritten ist, ist für jede einzelne Tat im materiellen Sinne gesondert zu bestimmen. Dabei genügt derjenige Erfolg, der für die Vollendung der Steuerhinterziehung ausreicht. Bei mehrfacher tateinheitlicher Verwirklichung des Tatbestandes der Steuerhinterziehung ist – nichts anderes gilt für § 371 Abs. 2 Nr. 3 AO – das „Ausmaß“ des jeweiligen Taterfolges zu addieren, da in solchen Fällen eine einheitliche Handlung im Sinne des § 52 StGB vorliegt (BGHSt 53, 71, 85). (Bearbeiter)

7. Eine nachträgliche „Schadenswiedergutmachung“ hat für die Frage, ob eine Steuerhinterziehung „in großem Ausmaß“ vorliegt oder nicht, keine Bedeutung. Die Höhe des auf Dauer beim Fiskus verbleibenden „Steuerschadens“ ist ein Umstand, der erst bei der Prüfung, ob die Indizwirkung des Regelbeispiels im Einzelfall widerlegt ist, und im Übrigen als bloße Zumessungserwägung in die Strafzumessung einbezogen werden kann. (Bearbeiter)

8. Durch das Fehlen eines Hinweises im Hauptverhandlungsprotokoll, dass ein Dolmetscher dahin beeidigt worden ist, treu und gewissenhaft zu übertragen, noch, dass er sich auf seine allgemeine Beeidigung als Dolmetscher berufen hat, wird der Verstoß gegen § 189 GVG unwiderleglich bewiesen, da es sich bei der Vereidigung eines Dolmetschers gemäß § 189 Abs. 1 GVG um eine wesentliche Förmlichkeit i.S.v. § 274 StPO handelt. (Bearbeiter)

9. Das Beruhen kann aber auszuschließen sein, wenn die übrigen Dolmetscher in der Hauptverhandlung vereidigt worden sind und deshalb keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dem Dolmetscher ein von diesem allgemein geleisteter Eid aus dem Blick geraten sein könnte. Anhaltspunkte dafür, dass er deswegen nicht treu und gewissenhaft übertragen hat, sind nicht schon deshalb ersichtlich, weil nicht nach außen dokumentiert ist, dass sich der Dolmetscher seine allgemeine Beeidigung gerade im Einzelfall vergegenwärtigt hat. Vielmehr ist fernliegend, dass ein allgemein vereidigter Dolmetscher, der jahrelang bei Gericht übersetzt und sich immer wieder auf seinen allgemein geleisteten Eid berufen hat, sich seiner Verpflichtung im Einzelfall nicht bewusst war und er deshalb unrichtig übersetzt hat. (Bearbeiter)

10. Einzelfall einer Überprüfung des substantiierten Widerspruch des Revisionsverteidigers gegen eine rügeverkümmernde Berichtigungsentscheidung. (Bearbeiter)


Entscheidung

205. BGH 5 StR 351/11 – Beschluss vom 10. Januar 2012 (LG Berlin)

Vorabentscheidungsverfahren; Visakodex der Europäischen Gemeinschaft; Akzessorietätslockerung; erschlichenes Visum.

Art. 267 AEUV; § 97 Abs. 2 AufenthG; § 96 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG; § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG; § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG; § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG

1. Der Umstand, dass ein Aufenthaltstitel grundsätzlich eine vollziehbare Ausreisepflicht hindert, führt nicht dazu, dass die ausdrücklich auch auf § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zielende Regelung des § 95 Abs. 6 AufenthG „fehlgeschlagen“ ist. Aus der Gleichstellung des Handelns auf Grund eines erschlichenen Aufenthaltstitels mit dem Handeln ohne Aufenthaltstitel folgt vielmehr auch, dass im Rahmen der Strafvorschriften des § 95 AufenthG die mit einem erschlichenen Aufenthaltstitel erfolgte Einreise als unerlaubt und die Ausreisepflicht somit als vollziehbar anzusehen ist (vgl. § 58 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG).

2. Der Senat ist der Ansicht, dass die die Erteilung und Annullierung eines einheitlichen Visums regelnden Art. 21, 34 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (ABl. L 243 vom 15. September 2009, S. 1, Visakodex – VK) nicht dahin auszulegen sind, dass sie einer aus der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften resultierenden Strafbarkeit wegen Einschleusens von Ausländern in Fällen entgegenstehen, in denen die geschleusten Personen zwar über ein Visum verfügen, dieses aber durch arglistige Täuschung der zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaates über den wahren Reisezweck erlangt haben.

3. Der Senat legt dem EuGH die Frage zur Entscheidung vor.


Entscheidung

246. BGH 4 ARs 17/11 – Beschluss vom 10. Januar 2012 (BGH)

Aufgabe der Interessentheorie (Bankrott; Untreue).

§ 283 StGB; § 14 StGB; § 266 StGB

1. Der 4. Strafsenat teilt die Rechtsansicht des anfragenden 3. Strafsenats, dass es für die Erstreckung der eine Strafbarkeit nach § 283 StGB begründenden Schuldnereigenschaft einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung auf deren Geschäftsführer maßgeblich darauf ankommt, ob der Geschäftsführer im Sinne des § 14 Abs. 1 StGB im Geschäftskreis der Gesellschaft tätig geworden ist.

2. Der Senat neigt indes zu der Auffassung, dass eine Zurechnung der Schuldnereigenschaft bei tatsächlichem Verhalten des Vertreters nicht auf Fälle beschränkt ist, in denen der Vertretene diesem Verhalten zugestimmt hat. Für die Beantwortung der Frage, ob der Vertreter mit

tatsächlichem Verhalten im Geschäftskreis des Vertretenen tätig geworden ist, kann auch der Umstand indizielle Bedeutung erlangen, dass der Vertreter Interessen des Vertretenen wahrgenommen hat.


Entscheidung

185. BGH 3 StR 262/11 – Beschluss vom 13. September 2011 (LG München)

Kriminelle Vereinigung (inländische; ausländische; geografische Zuordnung; Schwerpunkt der Organisationsstruktur; „Diebe im Gesetz“); Wahlfeststellung; Verfolgungsermächtigung; gewerbsmäßige Bandenhehlerei; Gewerbsmäßigkeit (Eigennützigkeit; eigener Vorteil; mittelbarer Vorteil; Zugriff).

§ 129 StGB; § 129a StGB; § 129b StGB; § 259 StGB; § 260 StGB

1. Zur Einordnung einer kriminellen Vereinigung als in- oder ausländische bzw. als solche innerhalb oder außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

2. Eine Vereinigung im Sinne der §§ 129 ff. StGB setzt einen auf gewisse Dauer angelegten, freiwilligen organisatorischen Zusammenschluss von mindestens drei Personen voraus, die bei Unterordnung des Willens des Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit gemeinsame Zwecke verfolgen und unter sich derart in Beziehung stehen, dass sie sich untereinander als einheitlicher Verband fühlen.

3. Mit Blick auf die Unterschiedlichkeit und Komplexität der bei Vereinigungen anzutreffenden Fallgestaltungen ist die geographische Zuordnung einer Vereinigung von einer an den konkreten Einzelfallumständen orientierten Gesamtbetrachtung abhängig zu machen.

4. Als wesentliches Zuordnungskriterium ist der Schwerpunkt der Organisationsstruktur anzusehen. Anhaltspunkt dafür kann die Konzentration personeller und/oder sachlicher Ressourcen sein. Ferner ist in den Blick zu nehmen, wo nach den Strukturen der Vereinigung deren Gruppenwille gebildet wird. Schließlich kann das eigentliche Aktionsfeld Bedeutung erlangen.

5. Das Regelbeispiel des gewerbsmäßigen Handelns setzt voraus, dass der Täter sich aus wiederholter Tatbegehung eine nicht nur vorübergehende, nicht ganz unerhebliche Einnahmequelle verschaffen will. Die Gewerbsmäßigkeit, die ein besonderes persönliches Merkmal im Sinne des § 28 Abs. 2 StGB darstellt, erfordert stets Eigennützigkeit. Es genügt nicht, wenn eine fortdauernde Einnahmequelle allein für Dritte geschaffen werden soll. Ein bloß mittelbarer Vorteil des Täters reicht zur Begründung der Gewerbsmäßigkeit nur aus, wenn er ohne Weiteres darauf zugreifen kann oder sich selbst geldwerte Vorteile aus den Taten über Dritte verspricht.


Entscheidung

208. BGH 5 StR 445/11 – Beschluss vom 11. Januar 2012 (LG Zwickau)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln; Bewertungseinheit; Mitgliedschaft in einer Bande (bloße Gehilfentätigkeit; wertende Betrachtung; konkrete Tatsachen); Strafzumessung (Gehilfe).

§ 29 BtMG; § 29a BtMG; § 30 BtMG; § 30a BtMG; § 46 StGB; § 27 StGB

1. Eine einheitliche Tat des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln ist stets anzunehmen, wenn ein und derselbe Güterumsatz Gegenstand der strafrechtlichen Bewertung ist. Beschafft sich der Täter eine einheitliche Rauschgiftmenge zur gewinnbringenden Weiterveräußerung, so verwirklicht er den Tatbestand des Handeltreibens auch dann nur einmal, wenn er sie in mehreren Teilmengen absetzt, denn die Akte des Handeltreibens, die sich auf dieselbe Rauschgiftmenge beziehen, bilden eine Bewertungseinheit.

2. Liegen konkrete Anhaltspunkte vor, dass Erwerbs- und Verkaufshandlungen sowie ein zum Weiterverkauf vorrätig gehaltener Bestand ganz oder teilweise dieselbe Gesamtmenge betreffen, muss sich das Tatgericht um Feststellungen zu Zahl und Frequenz der Ein- und Verkäufe sowie um deren Zuordnung zueinander bemühen.

3. Mitglied einer Bande kann zwar auch derjenige sein, dem nach der Bandenabrede nur Aufgaben zufallen, die sich bei wertender Betrachtung als Gehilfentätigkeit darstellen. Die Feststellungen müssen aber tatsächlich belegen, dass das fragliche Bandenmitglied sich mit den anderen Bandenmitgliedern mit dem Willen verbunden hat, künftig und für eine gewisse Dauer an mehreren Taten mitzuwirken. Dieser Schluss muss sich auch auf konkrete Tatsachen stützen und darf nicht lediglich formelhaft festgestellt werden; ihm widersprechende Beweisanzeichen – wie etwa mangelndes Interesse am Taterfolg – sind zu erörtern.

4. Für die Bemessung der Strafe des Gehilfen ist das im Gewicht seines Tatbeitrags zum Ausdruck kommende Maß seiner persönlichen Schuld maßgeblich ist, wenn auch unter Berücksichtigung des ihm zurechenbaren Umfangs oder der Folgen der Haupttat.


Entscheidung

258. BGH 4 StR 581/11 – Beschluss vom 22. Dezember 2011 (LG Dessau-Roßlau)

Minder schwerer Fall des Bestimmens einer Person unter 18 Jahren als Person über 21 Jahre zur Förderung des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Beginn einer Tatserie im Alter unter 21 Jahre).

§ 30a Abs. 2, Abs. 3 BtMG

1. Auch bei § 30a Abs. 3 BtMG erfordert die Entscheidung, ob ein minder schwerer Fall vorliegt, eine Gesamtbetrachtung, bei der alle Umstände heranzuziehen und zu würdigen sind, die für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht kommen, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen. Dabei sind alle wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände gegeneinander abzuwägen. Erst nach dem Gesamteindruck kann entschieden werden, ob der außerordentliche Strafrahmen anzuwenden ist. Dabei ist jeder wesentliche, die Tat prägende Gesichtspunkt erkennbar zu berücksichtigen.

2. Insbesondere ist es bei § 30a Abs. 3 BtMG zu berücksichtigen, wenn die Tat Bestandteil einer Tatserie war, die der Angeklagten bereits vor dem Erreichen des 21. Lebensjahres und damit zu einem Zeitpunkt begonnen hatte, als er selbst noch Heranwachsender war und noch nicht Täter dieses Delikts sein konnte.


Entscheidung

270. BGH 2 StR 590/11 – Beschluss vom 19. Januar 2012 (LG Darmstadt)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Mittäterschaft nur bei Eigennützigkeit).

§ 29a BtMG; § 25 Abs. 2 StGB

Das Tatbestandsmerkmal des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln setzt für die Annahme von Mittäterschaft weiter voraus, dass der Mitwirkende eigennützig handelt. Täterschaft ist nur bei einer solchen für die Tatverwirklichung des unerlaubten Handeltreibens erforderlichen Willensrichtung möglich. Es genügt nicht, dass ein Täter nur den Eigennutz eines anderen mit seinem Tatbeitrag unterstützen will (BGHSt 34, 124, 125 f.; BGH StV 2002, 255).