HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni/Juli 2011
12. Jahrgang
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Schrifttum

Heiko Ahlbrecht, Klaus-Michael Böhm, Robert Esser, Heiner Hugger, Stefan Kirsch, Michael Rosenthal: Internationales Strafrecht in der Praxis; C.F.Müller, 565 Seiten, 69 €, Heidelberg 2008.

Die Reihe "Praxis der Strafverteidigung" ist nicht erst seit kurzem ein hilfreicher Begleiter der strafrechtlichen Anwaltspraxis. Ihre Herausgeber verstehen es offensichtlich, auch auf neue Entwicklungen mit geeigneten neuen Bänden zu reagieren. Das gilt besonders für den vorzustellenden Band "Internationales Strafrecht in der Praxis". Betroffen ist damit ein Themenfeld, das zwar nicht immer komplett neu ist - man denke nur an das seit langem problematische Auslieferungsrecht. In jedem Fall sind die im Internationalen Strafrecht behandelten Rechtsfragen aber zunehmend bedeutsam, zahlreicher und durch die Europäisierung und Internationalisierung oftmals gänzlich neuer Natur. Dies alles stellt die Strafverteidigung vor enorme Herausforderungen. Darauf antwortet der Verlag mit einem Band, den schon die Autorenauswahl kennzeichnet: Die durchaus sehr verschiedenen Säulen des Internationalen Strafrechts wurden ausnahmslos führenden Experten anvertraut. So ist - was keine Selbstverständlichkeit darstellt - ein Mehrautorenwerk entstanden, in dem jeder Autor sein Thema seit langem in Praxis und Wissenschaft verdienstvoll betreut. Zum Beispiel wurde die wegweisende Entscheidung des BVerfG zum Europäischen Haftbefehl hauptsächlich von einem Autor des Werks erstritten (Rosenthal).

Was verbirgt sich nun hinter dem weiten Begriff des Internationalen Strafrechts? Die Autoren führen uns - der Praxis angemessen - primär über das Verfahrensrecht an die einzelnen Themenblöcke heran. Die mitwirkenden Akteure und ihre rechtlichen Handlungsgrundlagen werden erläutert. Zum Teil wird dabei auch (eher) materielles internationales Recht erläutert.

Dieser Ansatz führt dazu, dass zunächst das Verfahren vor dem EGMR (1-98) von Robert Esser erschöpfend und äußerst instruktiv dargestellt wird. Ebenso instruktiv aber etwas komprimierter führt Esser in die Verfahren vor dem IGH (99-113), vor dem Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen (114-133), vor dem Ausschuss der Vereinten Nationen gegen Folter (133-141) sowie dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (141-149) ein. Diese Gewichtung entspricht - auch durch die Einbeziehung einer etwaigen Wiederaufnahme gemäß § 359 Nr. 6 StPO - ersichtlich der wesentlich größeren

Bedeutung, welche die EMRK für die deutschen Strafverteidiger mittlerweile erlangt hat und mit dem Urteil des BVerfG zur Sicherungsverwahrung weiter erlangen wird (vgl. BVerfG HRRS 2011 Nr. 488). Die Reihe der Vorstellung der im Internationalen Strafrecht wesentlichen Spruchkörper beschließt Heiner Hugger mit einem konzentrierten Kapitel zum Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH (S. 150-164).

Sodann wird dem Leser das oftmals unübersichtliche und für den Verteidiger sehr fordernde Rechtshilferecht auf über 200 Seiten aus der Perspektive führender Praktiker von Heiko Ahlbrecht, Klaus-Michael Böhm und Michael Rosenthal meisterhaft näher gebracht (S. 165-389). Hier ist besonders gelungen, dass die Autoren das selten näher bekannte Rechtshilferecht zunächst in einem Überblick vorstellen (S. 165-182). Auf dieser soliden Basis findet dann vor allem das klassische Auslieferungsrecht (S. 183-243) eine eingehende Erläuterung, das traditionell die Strukturen der Rechtshilfe prägt und zuallererst kein Mekka der europäischen Integration, sondern besonders intensive Eingriffe in Freiheitsrechte bedeutet. Völlig zu Recht wird erst im Anschluss an das "alte Recht" die von der EU erträumte aber leider nur partiell geschaffene, schöne neue Welt der einfachen Übergabe Inhaftierter im Wege des Europäischen Haftbefehls behandelt (S. 244-335). Dieses neuere Recht ist ohne Kenntnisse zur Praxis und zu den Prinzipien der klassischen Rechtshilfe gar nicht verständlich. Auch das neue Recht des Europäischen Haftbefehls wurde und wird von der scheinbar nur politisch begründeten Komplexität "alter Rechtshilfeverfahren" immer wieder eingeholt (siehe in der Vergangenheit das Verfahren vor dem BVerfG zum EU-Haftbefehl und etwa jüngst das Vorabentscheidungsverfahren in der Sache Gaetano Mantello, EuGH, vorgesehen für HRRS 2011 Nr. 800). Die Autoren bilden dies mit ihrer klug informierenden und auch kritisierenden Darstellungslinie bestens ab. Ihre kritische Linie ist dabei nur zu begrüßen, denn die EU kommt hinsichtlich der Achtung der europäischen Menschenrechte oft nicht über feigenblattartige und kaum einmal hinreichend durch Regelungen ausdifferenzierte Bekenntnisse hinaus (vgl. nur Art. 1 III RbEUHb).

Für die Verteidiger als Hauptzielgruppe des Buches ist besonders auf das Teilkapitel über die Verteidigung in Auslieferungssachen von Ahlbrecht/Rosenthal hinzuweisen, das in der vorhandenen Literatur infolge seiner vielen strategischen Hilfestellungen seines Gleichen suchen dürfte (S. 336-353). Zum Rechtshilfeteil gehören selbstverständlich auch Abhandlungen über die Vollstreckungs- und Verfolgungshilfe (S. 354-366) und den sonstigen Rechtshilfeverkehr (S. 367-385). Beide Abhandlungen dürften infolge der jüngeren Entwicklungen auf der EU-Ebene vor einem weiteren Ausbau stehen. So wurde etwa nach Erscheinen des Buchs das sehr umstrittene "Europäische Geldsanktionengesetz" verabschiedet (dazu einerseits abl. Schünemann/Roger ZIS 2010, 515 ff.; Schünemann ZIS 2010, 735 ff.; andererseits aber positiver Böse ZIS 2010, 607 ff.).

Die bisherigen Exekutivorgane und Institutionen auf der EU-Ebene erläutert Ahlbrecht in einem weiteren Teil (S. 390-406). Damit macht er insbesondere OLAF, das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung, von einer für viele wahrscheinlich noch unbewohnten terra incognita zu einer bekannten, fassbaren Größe.

Hugger behandelt die Strafverfolgung bei Tätigkeiten und Beschuldigten in mehreren Ländern, insbesondere bei Ermittlungen gegen multinational tätige Unternehmen (S. 407-422). Dieser Part enthält vor allem Erläuterungen zum sehr bedeutsamen, im Handbuch mehrfach vertretenen, transnationalen ne bis in idem und zur Haft bei grenzüberschreitenden Sachverhalten. Er wirkt allerdings zum Beispiel bei den Ausführungen zu Sanktionen gegen Unternehmen doch zu knapp. Dieser Teil des Handbuchs fällt damit ein wenig gegenüber den anderen, besonders gehaltvollen und detailreichen Teilen ab.

Zum Schluss hält das Internationale Strafrecht noch einen weiteren "Leckerbissen" bereit. Stefan Kirsch führt mit spürbarer Freude am Thema in die Tätigkeit vor internationalen Strafgerichtshöfen einschließlich des Internationalen Gerichtshofs ein (S. 423-558). Hier wird nun nicht "nur" das Verfahren mit einzelnen materiellrechtlichen Einspeisungen erläutert. Kirsch behandelt - mit der praktisch begründeten Ausnahme der Aggression - auch eine ganze Reihe von Spezifika der Völkerrechtsverbrechen. Damit wird zugleich deutlich, in welchen Zusammenhängen die Internationalen Gerichtshöfe tätig werden. Angemessene Schwerpunkte setzt Kirsch hierbei beim Jugoslawien-Tribunal und bei der immer bedeutsameren Tätigkeit des IStGH (Gaddafi!).

Mit diesen Inhalten wird zu einem angemessenen Preis viel geboten. Auch die oft gewünschten Übersichten und die stets hilfreiche Übersichtlichkeit zeichnen das Buch positiv aus. Die behauptete Ausrichtungen des Handbuchs auf die tägliche Praxis insbesondere der Strafverteidiger wird voll und ganz umgesetzt, ohne von einem hohen wissenschaftlichen Niveau abzukehren. Vor allem in Verfahrensfragen wird der Leser in Form von detaillierten Hilfestellungen an die Hand genommen. Fragen mag man sich nur, ob nicht auch die zunehmenden (eher) materiellrechtlichen Fragestellungen der Europäisierung und Internationalisierung des Strafrechts (z.B. Anwendung der §§ 3 ff. StGB, Auslegung europäischer und internationaler Vorgaben[zB Grundfreiheiten, Rahmenbeschlüsse, Richtlinien], Einwirkungen auf das materielle Strafrecht, etwa über die unionsrechtskonforme Auslegung) und die Inhalte der Europäischen Grundrechte (EU-GRCh, EMRK) nicht ebenfalls eine gesamthafte Darstellung in der Reihe Praxis der Strafverteidigung lohnen könnten. Dem vorliegenden Band jedenfalls ist zu wünschen, dass er zahlreiche Neuauflagen erlebt. So könnten die Autoren auch die absehbar zahlreichen und vergleichsweise schnelllebigen Entwicklungen innerhalb des Unionsrechts in der Qualität dieses empfehlenswerten Bandes erläutern. Das Referenzwerk für die Strafverteidigung, das dem Verlag C.F.Müller mit dem "Internationalen Strafrecht in der Praxis" gelungen ist, würde dadurch auch in den kommenden Jahrzehnten eine erste Adresse für die Vorbereitung auf die Verteidigung vor internationalen Gerichtshöfen und in transnationalen Strafverfahren darstellen.

Prof. Dr. Karsten Gaede, Bucerius Law School, Hamburg