HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2007
8. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

mit der Ausgabe April 2007 publizieren wir eine bemerkenswerte Entscheidung des EuG, die aus Sicht der europäischen Verteidigungsrechte erfreulich ist. Weitere interessante Entscheidungen der Kammern des BVerfG aufgenommen, in denen unter anderem die bisherige Rechtsprechung zum unvorsätzlichen Entfernen142 II Nr. 2 StGB) verworfen wird. Aus den insgesamt sechs Publikationen soll hier der Aufsatz von Buermeyer hervorgehoben werden, der die technischen Grundlagen der „Online-Durchsuchung“ aufzeigt und damit einen wichtigen Beitrag zur treffenden Einordnung dieser Ermittlungsmaßnahme bietet.

Der BGH hat im letzten Monat insgesamt vier BGHSt-Entscheidungen und eine BGHR-Entscheidung publiziert. Besonders hinzuweisen ist hier zum Beispiel auf die Entscheidung zur Straflosigkeit des Antifa-Versandhandels oder auf diejenige, nach welcher der Kurier nun ganz regelmäßig nicht Täter des unmittelbaren Handeltreibens sein soll.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Dr. Karsten Gaede


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

322. EuG T-228/02 - Urteil vom 12. Dezember 2006 (2. Kammer)

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik; Einfrieren von Geldern (Nichtigkeitsklage; gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus; Verteidigungsrechte: Einschränkungen für Überraschungseffekte; Begründungspflicht; Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz; Schadensersatzklage); Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in der zweiten und dritten Säule der Europäischen Union (rechtliches Gehör; Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit: Gemeinschaftstreue).

Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. a und b EMRK; Art. 6 Abs. 2 EU; Art. 35 EU; Art. 46 EU; Art. 13 EMRK; Art. 253 EG; Art. 10 EG; Art. 230 Abs. 4 EG

1. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Wahrung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren gegen eine Person, die zu einer sie beschwerenden Maßnahme führen können, ein fundamentaler Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, der auch dann sichergestellt werden muss, wenn eine Regelung für das betreffende Verfahren fehlt. Dieser Grundsatz gebietet es, dass jede möglicherweise von einer Sanktion betroffene Person zu den ihr zur Last gelegten Umständen, auf die sich die Verhängung der Sanktion stützt, sachgerecht Stellung nehmen kann. Dies gilt auch in Bezug auf ein Einfrieren von Konten zur Bekämpfung des Terrorismus.

2. Grundsätzlich umfasst die Gewährleistung der Verteidigungsrechte zwei wesentliche Rechte. Zum einen sind dem Betroffenen die ihm zur Last gelegten Umstände, auf die sich die bevorstehende Verhängung der (verwaltungsrechtlichen) Sanktion stützt, mitzuteilen. Zum anderen muss er zu diesen Umständen sachgerecht Stellung nehmen können.  Unter Umständen wie denen des vorliegenden Falles, in denen es um spezifische restriktive Maßnahmen zum Einfrieren der Gelder und Vermögenswerte von Personen, Vereinigungen und Körperschaften geht, deren Beteiligung an terroristischen Handlungen der Rat festgestellt hat, sind jedoch bestimmte Beschränkungen der so nach ihrem Gegenstand definierten Verteidigungsrechte legitim und können den Betroffenen auferlegt werden.

3. Beschränkungen, denen die Verteidigungsrechte der Betroffenen vom Rat unterworfen werden, sind durch eine genaue, unabhängige und unparteiische gerichtliche Kontrolle auszugleichen. Der Gemeinschaftsrichter muss die Rechtmäßigkeit und die Begründetheit der Maßnahmen zum Einfrieren von Geldern kontrollieren können, ohne dass ihm die Geheimhaltungsbedürftigkeit oder die Vertraulichkeit der vom Rat herangezogenen Beweise und Informationen entgegengehalten werden könnte. Mit dem EGMR sind die Behörden auch dann nicht von jeder effektiven Kontrolle durch Gerichte freizustellen, wenn sie behaupten, dass die nationale Sicherheit und der Terrorismus betroffen seien.

4. Der Einzelne muss nach ständiger Rechtsprechung die Möglichkeit haben, einen effektiven gerichtlichen Schutz der Rechte, die sie aus der Gemeinschaftsrechtsordnung herleiten, in Anspruch zu nehmen; das Recht auf einen solchen Schutz gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, und ist in den Artikeln 6 und 13 EMRK verankert. Dies gilt u. a. auch für das Einfrieren der Gelder von Personen oder Organisationen, die terroristischer Handlungen verdächtigt werden.

5. Nach ständiger Rechtsprechung dient die Pflicht zur Begründung von beschwerenden Rechtsakten dem Zweck, den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob der Rechtsakt sachlich richtig oder eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der seine Anfechtung vor dem Gemeinschaftsrichter zulässt, und außerdem dem Gemeinschaftsrichter die Rechtmäßigkeitsprüfung des Rechtsakts zu ermöglichen. Die so verstandene Begründungspflicht ist ein wesentlicher Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, von dem Ausnahmen nur aufgrund zwingender Erwägungen möglich sind. Die Begründung darf nicht aus einer allgemeinen und stereotypen Formulierung bestehen.

6. Ein Rechtsakt des aus den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten bestehenden Rates, der auf der Grundlage der Artikel 15 EU (Titel V des EU-Vertrags über die GASP) und 34 EU (Titel VI des EU-Vertrags über den Bereich JI) erlassen wurde, ist nicht justitiabel. Auch die Grundrechtsgewährleistung des Artikels 6 Absatz 2 EU eröffnen dem Gerichtshof keine zusätzliche Zuständigkeit.


Entscheidung

326. BVerfG 2 BvR 2273/06 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 19. März 2007 (OLG Hamm/AG Herford)

Unerlaubtes (Sich) Entfernen von Unfallort (keine Erstreckung des Abs. 2 Nr. 2 auf Fälle des unvorsätzlichen Entfernens; "Unfallflucht"); verfassungsrechtliches Analogieverbot (Bestimmtheitsgebot; Auslegung; Wortlautgrenze; Adressatensicht; keine Korrektur von Strafbarkeitslücken durch die Rechtsprechung).

Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB

1. Der Auslegung des § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB, die auch das unvorsätzliche - und nicht nur das berechtigte oder entschuldigte - Sich-Entfernt-Haben vom Unfallort unter diese Norm subsumiert, steht die Grenze des möglichen Wortsinns der Begriffe "berechtigt oder entschuldigt" entgegen. Eine Anwendung der Vorschrift auf Fälle des unvorsätzlichen Entfernens ist im Hinblick auf das strafrechtliche Analogieverbot i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG ausgeschlossen.

2. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 92, 1, 11 ff. m.w.N.) enthält die Regelung des Art. 103 Abs. 2 GG nicht nur ein Rückwirkungsverbot für Strafvorschriften. Sie verpflichtet den Gesetzgeber auch, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen.

3. Für die Rechtsprechung folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Ausgeschlossen ist danach jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Da Art. 103 Abs. 2 GG die Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten garantieren will, ist die Grenze aus dessen Sicht zu bestimmen.

4. Es obliegt allein dem Gesetzgeber zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich und notwendig erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will. Den Gerichten ist es verwehrt, seine Entscheidung zu korrigieren. Der Gesetzgeber entscheidet allein, ob eine Strafbarkeitslücke bestehen bleiben soll, oder ob diese zu schließen ist.

5. Es ist eine verfassungskonforme Auslegung des § 142 Abs. 1 StGB denkbar, die Fälle einer unbeendeten Tat erfasst, in denen der Täter nachträglich auf den Unfall hingewiesen wird und sich gleichwohl - weiter - von der Unfallstelle entfernt.


Entscheidung

324. BVerfG 1 BvR 620/07 (1. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 15. März 2007 (LG Münster)

Medienberichterstattung über ein Strafverfahren (Zulassung durch das Bundesverfassungsgericht); Rundfunkfreiheit (sitzungspolizeiliche Beschränkungen); Persönlichkeitsrecht der Verfahrensbeteiligten (Bildaufnahmen; Hinnahme durch Richter, Schöffen, Rechtsanwälte; Anonymisierung der Angeklagten); einstweilige Anordnung durch das BVerfG (doppelte Negativprognose).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 169 GVG; § 176 GVG; § 32 BVerfGG

1. Von dem durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geschützten Berichterstattungsinteresse ist die bildliche Dokumentati-

on des Erscheinens und der Anwesenheit von Verfahrensbeteiligten im Sitzungssaal jedenfalls dann umfasst, wenn Gegenstand der Berichterstattung ein Verfahren von besonderen öffentlichen Interesse ist.

2. Beeinträchtigungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Richter und Schöffen aus einer Anfertigung und Verbreitung von Filmaufnahmen sind von diesen hinzunehmen, da sie Kraft des ihnen übertragenen Amtes anlässlich einer öffentlichen Verhandlung ohnedies im Blickfeld der Öffentlichkeit unter Einschluss der Medienöffentlichkeit stehen. Die Anfertigung von Bildnissen dieses Personenkreises aus Anlass ihrer Anwesenheit im Sitzungssaal ist allein gemäß § 169 Satz 2 GVG während der laufenden Verhandlung - im Strafverfahren somit frühestens ab Aufruf der Sache (§ 243 Abs. 1 StPO) - sowie ferner dort ausgeschlossen, wo konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Sicherheit der Mitglieder des Spruchkörpers vorliegen und dies eine weitergehende Beschränkung der Bildberichterstattung durch Anordnung gemäß § 176 GVG rechtfertigt.

3. Rechtsanwälte haben in ihrer Funktion als Organ der Rechtspflege grundsätzlich Aufnahmen hinzunehmen, soweit sie als Beteiligte in einem Verfahren mitwirken, an dessen bildlicher Darstellung ein öffentliches Informationsinteresse besteht.


Entscheidung

385. BVerfG 2 BvR 932/06 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. März 2007 (OLG Köln)

Nötigung im Straßenverkehr durch dichtes Auffahren im Straßenverkehr unter Einsatz von Signalhorn und Lichthupe innerhalb von Ortschaften (Prüfungsanforderungen; Gewaltbegriff: Erfordernis körperlicher Kraftentfaltung und körperlichen Zwanges, Angst).

Art. 103 Abs. 2 GG; § 240 StGB

1. Die Rechtsprechung der Strafgerichte zur Nötigung im Straßenverkehr durch bedrängendes Auffahren steht im Einklang mit Art. 103 Abs. 2 GG. Dichtes, bedrängendes Auffahren auf den Vordermann kann - insbesondere bei gleichzeitigem Betätigen von Lichthupe und Signalhorn - Gewalt im Sinne des § 240 StGB sein und zwar auch dann, wenn es im innerörtlichen Verkehr stattfindet.

2. Berücksichtigen die Strafgerichte, dass von Verfassungs wegen Gewalt physisch ausgeübter und physisch wirkender Zwang bedeutet, wobei in beiderlei Hinsicht eine bestimmte Intensität nicht gefordert ist, ist gegen eine Rechtsprechung grundsätzlich nichts zu erinnern, die bedrängendes Auffahren als tatbestandliches Unrecht im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB in der ersten Unrechtsvariante begreift.

3. Die Feststellung nötigender Gewalt kann stets nur für den Einzelfall erfolgen. Hilfestellung bieten hier die von den Strafgerichten bereits entwickelten Maßstäbe zur Prüfung eines Unrechtsverhaltens nach § 240 StGB im Straßenverkehr. Von Bedeutung sein werden deshalb unter anderem die Dauer und Intensität des bedrängenden Auffahrens, die gefahrenen Geschwindigkeiten, die allgemeine Verkehrssituation zum Zeitpunkt des täterschaftlichen Handelns und ob der Täter bei dem Auffahrvorgang zugleich Signalhorn oder Lichthupe betätigt hat.

4. Werden die Auswirkungen körperlich empfunden, führen sie also zu physisch merkbaren Angstreaktionen, liegt Zwang vor, der Gewalt sein kann.

5. Da sich generelle Aussagen über die Wirkung bedrängenden Auffahrens auf den Vordermann verbieten, ist auch innerorts ein nötigendes Verhalten grundsätzlich möglich. Allerdings bedarf es hier wegen der im Regelfall niedrigeren gefahrenen Geschwindigkeiten einer besonders genauen Prüfung, ob Nötigungsunrecht - insbesondere in Abgrenzung zu einer bloßen Ordnungswidrigkeit durch Unterschreiten des Sicherheitsabstands - vorliegt.


Entscheidung

327. BVerfG 2 BvR 489/07 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. März 2007 (OLG Nürnberg/AG Fürth)

Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft (erste besondere Haftprüfung; Tatverdacht des versuchten Mordes und der schweren Brandstiftung; keine Abwägung zwischen Strafverfolgungsinteresse und Freiheitsanspruch im Rahmen des § 121 Abs. 1 StPO); Freiheit der Person (Beschleunigungsgebot; steigende Begründungsanforderungen mit längerer Dauer der U-Haft; 6-Monats-Frist); Darlegungsanforderungen (Begründungstiefe; inhaltliche Darlegung besonderer Umstände für eine Verfahrensverzögerung).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 EMRK; Art. 5 Abs. 2 EMRK; § 121 StPO; § 122 StPO; § 211 StGB, § 22 StGB; § 306a StGB

1. Aufgrund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 3 i.V.m. Art. 104 GG) muss das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde so ausgestaltet sein, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition besteht (vgl. hierzu BVerfGE 53, 30, 65; 63, 131, 143). Dem ist durch eine verfahrensrechtliche Kompensation (vgl. BVerfGE 17, 108, 117 ff.; 46, 325, 334 f.) des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Grundrechtseingriffs, namentlich durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen, Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 103, 21, 35 f.). Die aktuelle Bewertung des Verfahrensstandes hat auch die Prüfung zum Gegenstand, ob dem Beschleunigungsgebot entsprochen wurde.

2. Die in § 121 Abs. 1 StPO bestimmte Sechs-Monats-Frist stellt nur eine Höchstgrenze dar. Aus dieser Vorschrift kann nicht der Schluss gezogen werden, dass das Strafverfahren bis zu diesem Zeitpunkt nicht dem Beschleunigungsgebot gemäß geführt werden muss.

3. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen umfasst das gesamte Strafverfahren. Es verpflichtet alle für die Strafverfolgung zuständigen Stellen gleichermaßen. Eine Verletzung des Beschleunigungsgebots kann daher auch schon vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist des § 121 Abs. 1 StPO die Aufhebung des Haftbefehls gebieten, wenn es

aufgrund vermeidbarer Fehler der Justizorgane zu einer erheblichen Verfahrensverzögerung kommt.

4. An einen zügigen Fortgang des Verfahrens sind umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert.

5. Wird die Haftfortdauer lediglich mit der bloßen Wiedergabe des Gesetzeswortlauts begründet, ohne dass eine Subsumtion unter die Tatbestandsvoraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO überhaupt erkennbar wird, so hat dies regelmäßig eine Verletzung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) zur Folge.

6. § 121 Abs. 1 StPO erfordert seinem Wortlaut nach eine doppelte Prüfung. Zum einen müssen Feststellungen darüber getroffen werden, ob die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder andere wichtige Gründe ein Urteil bislang noch nicht zugelassen haben (erste Stufe) und wenn derartige Gründe vorliegen, dass diese die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen (zweite Stufe).

7. Kann eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) nicht mit der erforderlichen Überzeugungsgewissheit ausgeschlossen werden, so gebietet bereits das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) die Aufhebung des angegriffenen Beschlusses.

8. Die Fortdauer der Untersuchungshaft kann nicht mit der Erwägung gerechtfertigt werden, der Betroffene habe ohnehin mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe zu rechnen. Derartige Überlegungen sind mit Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) nicht vereinbar. Im Rahmen des § 121 Abs. 1 StPO findet eine Abwägung zwischen dem Strafverfolgungsinteresse des Staates und dem Freiheitsanspruch des inhaftierten Beschuldigten nicht statt.


Entscheidung

323. BVerfG 1 BvR 2138/05 (3. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss 15. März 2007 (Bayerischer VGH/VG Würzburg)

Kein Betretungs- und Besichtigungsrecht der Handwerkskammern bei Gewerbetreibenden bei denen bereits feststeht, dass sie nicht in die Handwerksrolle eingetragen werden können (Reisegewerbe); Unverletzlichkeit der Wohnung (Abgrenzung von Betretungsrechten zum Zwecke der Prüfung der Eintragung in die Handwerksrolle von der Durchsuchung zur Aufklärung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten; Richtervorbehalt; "Nachschaurecht").

Art. 13 Abs. 1 GG; § 17 Abs. 2 HandwO; § 118 Abs. 1 Nr. 2 HandwO; § 102 StPO; § 46 OWiG

1. Das Betretungsrecht nach § 17 Abs. 2 in Verbindung mit Absatz 1 HandwO hat, wie sich bereits aus der Aufgabe der Handwerkskammern (vgl. § 91 HandwO) ergibt, nicht den Zweck, sich Informationen gegen rechtswidrig tätige Gewerbetreibende zu verschaffen um der zuständigen Verwaltungsbehörde die unerlaubte Handwerksausübung eines nicht eingetragenen Gewerbetreibenden anzeigen und insbesondere ein Ordnungswidrigkeitenverfahren herbeiführen zu können.

2. Mit dem seit dem Jahr 2004 neugefassten § 17 Abs. 1 Satz 2 HandwO ist es nunmehr ausdrücklich untersagt, die nach dieser Vorschrift gewonnenen Erkenntnisse, für andere Zwecke, namentlich für die Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten - insbesondere auch der Schwarzarbeit - zu verwerten.

3. Hat die Handwerkskammer tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass ein Gewerbetreibender ohne Eintragung in die Handwerksrolle ein zulassungspflichtiges stehendes Gewerbe selbständig betreibt (vgl. § 117 Abs. 1 Nr. 1 HandwO), so liegt es nahe, dass ein Betreten der Betriebs- oder Geschäftsräume zumindest auch dem Zweck dient, den Sachverhalt einer Ordnungswidrigkeit aufzuklären. In dieser Konstellation bestimmt Art. 13 Abs. 2 GG jedoch ausdrücklich den Vorbehalt einer richterlichen Anordnung der behördlichen Maßnahme.

4. § 17 Abs. 2 HandwO ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass die "Prüfung der Eintragungsvoraussetzungen" bei "einzutragenden Gewerbetreibenden" nur unter der Fragestellung erfolgen darf, ob ein Gewerbetreibender durch die Handwerkskammer tatsächlich in die Handwerksrolle einzutragen ist. Sobald auch nur eine Eintragungsvoraussetzung erkennbar nicht gegeben ist, scheidet ein Betretungsrecht der Handwerkskammern nach § 17 Abs. 2 HandwO aus.


Entscheidung

325. BVerfG 2 BvR 299/06 (3. Kammer des Zweiten Senats) - vom 3. Juli 2006 (LG Stuttgart/AG Stuttgart)

Unverletzlichkeit der Wohnung; Durchsuchung bei Dritten; Durchsuchungsbeschluss (inhaltliche Anforderungen; Darlegung der Verbindung zwischen Dritten und Beschuldigten in richterlichen Beschlüssen; eigenverantwortliche richterliche Prüfung; Stärke eines bestehenden Tatverdachts; Verhältnismäßigkeit); Durchführung der Durchsuchung (Mitteilung vor Beginn der Durchsuchung).

Art. 13 GG; § 103 StPO; § 105 StPO; § 106 Abs. 2 StPO

1. Der gerichtliche Durchsuchungsbeschluss dient auch dazu, die Durchführung der Eingriffsmaßnahme messbar und kontrollierbar zu gestalten. Dazu muss der Beschluss insbesondere den Tatvorwurf so beschreiben, dass der äußere Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen die Zwangsmaßnahme durchzuführen ist.

2. Notwendiger und grundsätzlich auch hinreichender Eingriffsanlass für Zwangsmaßnahmen im Strafverfahren ist der Verdacht einer Straftat. Der Verdacht muss auf konkreten Tatsachen beruhen; vage Anhaltspunkte oder bloße Vermutungen reichen nicht aus (vgl. BVerfGE 44, 353, 381 f.; 59, 95, 97 f.).

3. Die Durchsuchung bedarf vor allem einer Rechtfertigung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Richter darf die Durchsuchung nur anordnen, wenn er sich aufgrund eigenverantwortlicher Prüfung der Ermitt-

lungen überzeugt hat, dass die Maßnahme verhältnismäßig ist (vgl. BVerfGE 96, 44, 51).

4. Die Durchsuchung bei einem Nichtbeschuldigten, der durch sein Verhalten auch aus Sicht der Ermittlungsbehörden in keiner Weise Anlass zu den Ermittlungsmaßnahmen gegeben hat, stellt erhöhte Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Dazu ist auch der aktuelle Ermittlungsstand zu berücksichtigen. Eine bloße Wiederholung bereits vollzogener Durchsuchungsbeschlüsse genügt dem nicht.

5. § 103 Abs. 1 Satz 1 StPO verlangt für die Suche nach Beweismitteln bei Dritten die Angabe von Tatsachen, aus denen zu schließen ist, dass sich die gesuchte Sache gerade in den zu durchsuchenden Räumen befindet. Hierzu gehört auch zumindest ein kurzer Hinweis, der die angenommene, verfahrensrelevante Verbindung zwischen dem Betroffenen und dem Beschuldigten darlegt. Denn wenn die Durchsuchung auf eine richterliche Anordnung gestützt und nicht ausnahmsweise auf die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden, reicht es nicht aus, dass sich Anlass und Zusammenhang der Durchsuchung für den Betroffenen erst aus den Gesamtumständen der Durchsuchung ergeben.