HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

August 2005
6. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

im Zentrum der August-Ausgabe steht das grundlegende Urteil des BVerfG zum Europäischen Haftbefehl. Die Entscheidung wird von Ulf Buermeyer in einem Besprechungsaufsatz erörtert, der die wesentlichen Aussagen und Folgen der Entscheidung herausarbeitet sowie Anforderungen an die Neuumsetzung des Rahmenbeschlusses insbesondere mit Blick auf das (europarechtliche) Rückwirkungsverbot verdeutlicht.

Darüber hinaus umfasst die Ausgabe vor allem zahlreiche in BGHSt und BGHR aufgenommene bedeutsame Entscheidungen des BGH, unter denen sich etwa eine grundlegende Entscheidung zum Bandenbegriff findet. Ein weiterer Beitrag aus der Reihe strafprozessuale Leitfälle zur EMRK, der das Recht auf Verfahrensbeschleunigung behandelt, ist ebenso aufgenommen wie vier Rezensionen.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

550. BVerfG 2 BvR 2236/04 - Urteil vom 18. Juni 2005 (Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg/OLG Hamburg)

Ausbürgerungs- und Auslieferungsverbot (kein verfassungswidriges Verfassungsrecht; keine Entstaatlichung); "dritte Säule" der Europäischen Union (begrenzte gegenseitige Anerkennung; gegenseitiges Vertrauen; gebotene Einzelfallprüfung); Europäisches Haftbefehlsgesetz (Nichtigkeit; "Europäischer Haftbefehl"); Rechtstaatsprinzip (rule of law; Verhältnismäßigkeit; Vertrauensschutz; maßgeblicher Inlandsbezug; Auslandsbezug; grundrechtsschonende Umsetzung; Wesensgehalt); materielle Rückwirkung; effektiver Rechtsschutz (Anfechtbarkeit der Bewilligungsentscheidung; Ermessensentscheidungen; Rechtsweggarantie); Verwaltungszuständigkeit des Bundes; Verbindlichkeit des Rahmenbeschlusses (Abgrenzung zur Richtlinie); abweichende Meinung Broß (Subsidiaritätsprinzip; Auslieferung nur bei Scheitern des deutschen Strafverfolgungsanspruchs; Unschuldsvermutung; unverzichtbaren Mindestanforderungen demokratischer Legitimation; Begründung des "Integrationsmehrwerts" durch den Gesetzgeber im Bereich der "dritten Säule"); abweichende Meinung Lübbe-Wolff (Verankerung des Auslieferungsschutzes auf Grund des Gewichtes seiner "lebensweltlichen Bedeutung"; Interessenabwägung; Einwirkungsmöglichkeiten im Vorverfahren; Auslieferungshindernisse; Vollstreckung ausländischen Strafurteils ohne Inlandsstrafbarkeit); abweichende Meinung Gerhardt (Harmonisierung bei der Strafgesetzgebung; kein Erfordernis der Regelung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung; kein Erfordernis der Nichtigkeitserklärung; Zweifel an der Verwaltungskompetenz des Bundes); Auslieferung nach Spanien; "Fall Darkanzali".

Art. 16 Abs. 1 GG; Art. 16 Abs. 2 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 23 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 1, Ab. 2 GG; Art. 5 EMRK; Art. 6 Abs. 2 EMRK; Art. 7 EMRK; Art. 34 Abs. 2 lit. b EU

1. Art. 16 GG gewährleistet als Grundrecht mit seinem Ausbürgerungs- und Auslieferungsverbot die besondere Verbindung der Bürger zu der von ihnen getragenen freiheitlichen Rechtsordnung. Der Beziehung des Bürgers zu einem freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen entspricht es, dass der Bürger von dieser Vereinigung grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann. (BVerfG)

2. Die in der "Dritten Säule" der Europäischen Union praktizierte Zusammenarbeit einer begrenzten gegenseitigen Anerkennung ist ein auch unter Subsidiaritätsgesichtspunkten (Art. 23 Abs. 1 GG) schonender Weg, um die nationale Identität und Staatlichkeit in einem einheitlichen europäischen Rechtsraum zu wahren. (BVerfG)

3. Der Gesetzgeber war beim Erlass des Umsetzungsgesetzes zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl verpflichtet, das Ziel des Rahmenbeschlusses so umzusetzen, dass die Einschränkung des Grundrechts auf Auslieferungsfreiheit verhältnismäßig ist. Insbesondere hat der Gesetzgeber über die Beachtung der Wesensgehaltsgarantie hinaus dafür Sorge zu tragen, dass der Eingriff in den Schutzbereich des Art. 16 Abs. 2 GG schonend erfolgt. Dabei muss er beachten, dass mit dem Auslieferungsverbot gerade auch die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes für den von einer Auslieferung betroffenen Deutschen gewahrt werden sollen. (BVerfG)

4. Das Vertrauen des Verfolgten in die eigene Rechtsordnung ist von Art. 16 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip dann in besonderer Weise geschützt, wenn die dem Auslieferungsersuchen zu Grunde liegende Handlung einen maßgeblichen Inlandsbezug hat. (BVerfG)

5. Mit der Eröffnung der Eingriffserlaubnis des Art. 16 Abs. 2 GG in das zuvor Deutschen unbeschränkt gewährleistete Grundrecht auf Auslieferungsfreiheit ist kein verfassungswidriges Verfassungsrecht gesetzt worden. (Bearbeiter)

6. Ein maßgeblicher Inlandsbezug liegt jedenfalls dann vor, wenn wesentliche Teile des Handlungs- und Erfolgsortes auf deutschem Staatsgebiet liegen. In dieser Konstellation treffen die Verantwortung des Staates für die Unversehrtheit seiner Rechtsordnung und die grundrechtlichen Ansprüche des Verfolgten dergestalt zusammen, dass regelmäßig ein Auslieferungshindernis entsteht. (Bearbeiter)

7. Ein Auslandsbezug ist auch und gerade dann anzunehmen, wenn die Tat von vornherein eine typische grenzüberschreitende Dimension hat und eine entsprechende Schwere aufweist, wie beim internationalen Terrorismus oder beim organisierten Drogen- oder Menschenhandel; wer sich in solche verbrecherische Strukturen einbindet, kann sich auf den Schutz der Staatsangehörigkeit vor Auslieferung nicht in vollem Umfang berufen. (Bearbeiter)

8. Gibt das Entscheidungsprogramm des Gesetzes der Behörde auf, bei der Ermessensausübung auch rechtlich geschützte Interessen des Betroffenen zu berücksichtigen, so greift die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. Schützt die Norm demgegenüber keine rechtlichen Interessen des Betroffenen, muss die Ermessensentscheidung für ihn nicht justitiabel sein; im Grenzbereich verdient die grundrechtsfreundliche Interpretation den Vorzug (vgl. BVerfGE 96, 100, 114 f. m.w.N.). (Bearbeiter)

9. Die Ergänzung des Bewilligungsverfahrens um benannte Ablehnungsgründe führt dazu, dass die Bewilligungsbehörde bei Auslieferungen in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht mehr nur über unbenannte außen- und allgemeinpolitische Aspekte des Auslieferungsersuchens entscheidet, sondern in einen Abwägungsprozess eintreten muss. Diese Verrechtlichung der Bewilligung einer Auslieferung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union erfüllt bereits die Voraussetzungen des Art. 19 Abs. 4 GG. Die bei der Bewilligung zu treffende Abwägungsentscheidung dient dem Schutz der Grundrechte des Verfolgten und darf richterlicher Überprüfung nicht entzogen werden. (Bearbeiter)

10. Das primäre Unionsrecht thematisiert zwar mit Art. 6 EU die Frage der Homogenität der Strukturen zwischen den Mitgliedstaaten. Die bloße Existenz dieser Vorschrift, eines die Strukturprinzipien absichernden Sanktionsmechanismus (Art. 7 EU), und eines gesamteuropäischen Standards des Menschenrechtsschutzes durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten rechtfertigen aber nicht die Annahme, dass die rechtsstaatlichen Strukturen unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union materiell synchronisiert sind und eine entsprechende nationale Einzelfallprüfung deshalb überflüssig ist. Insoweit kann durch das Inkraftsetzen eines strikten Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung und der damit verbundenen weitgehenden gegenseitigen Vertrauensbekundung der Staaten untereinander die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Grundrechte nicht eingeschränkt werden. (Bearbeiter)

11. Für den Verfolgten bedeutet die Überstellung in eine andere, auch in eine durch die europäische Integration näher gerückte, mitgliedstaatliche Rechtsordnung eine verfahrensrechtliche Schlechterstellung, die in Sprachhindernissen, kulturellen Unterschieden sowie andersartigem Prozessrecht und Verteidigungsmöglichkeiten liegen kann. Sie bindet ihn auch im Ergebnis an ein materielles Strafrecht, das er demokratisch mitzugestalten nicht in der Lage war, das er - anders als das deutsche Strafrecht - nicht kennen muss und das ihm in vielen Fällen wegen mangelnder Vertrautheit der jeweiligen nationalen öffentlichen Kontexte auch keine hinreichend sichere Parallelwertung in der Laiensphäre erlaubt. (Bearbeiter)

12. Wer mit einer unvorhersehbaren rückwirkenden Änderung von Strafnormen rechnen muss, kann seine Handlungsfreiheit nicht mehr mit der nötigen Sicherheit ausüben und verliert in einem der grundrechtssensibelsten Bereiche seine Stellung als selbstverantwortliches Subjekt. Das Rückwirkungsverbot gilt zwar nur bei Änderungen des materiellen Strafrechts und nicht bei solchen des Verfahrensrechts, zu dem auch das Auslieferungsrecht gerechnet wird. Einer materiellen rückwirkenden Rechtsänderung könnte es jedoch gleichstehen, wenn sich ein bislang vor Auslieferung absolut geschützter Deutscher für Taten in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union verantworten muss, die keinen maßgeblichen Auslandsbezug aufweisen und zum Zeitpunkt ihrer Begehung in Deutschland straffrei waren. (Bearbeiter)


Entscheidung

631. EGMR Nr. 9940/04 - Zulässigkeitsentscheidung vom 5. April 2005 (Brinks v. Niederlande)

Recht auf Achtung des Privatlebens und Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Datenschutz; Informationsanspruch über von Seiten des Staates

gespeicherte personenbezogene Daten; Ausnahmen zum Schutz der nationalen Sicherheit: Einsatz von Geheimdiensten; margin of appreciation; prozeduraler Grundrechtsschutz: In-Camera-Verfahren; Verhältnismäßigkeit: dringendes gesellschaftliches Bedürfnis; rule of law: Rechtsstaatsprinzip; Gefahren geheimer Überwachung für die Demokratie).

Art. 8 EMRK; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 10 GG

1. Art. 8 EMRK schützt vor der Speicherung personenbezogener Daten durch den Staat, vor ihrer Verwendung und vor der Verweigerung, die gespeicherten Daten gegenüber dem Betroffenen zu offenbaren.

2. Die Begründung von Einschränkungen gemäß Art. 8 II EMRK setzt voraus, dass der Eingriff durch ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis notwendig gemacht wird und dass er zu diesem in einem proportionalen Verhältnis steht. Obgleich den nationalen Institutionen ein Beurteilungsspielraum bei der Einschätzung des dringenden gesellschaftlichen Bedürfnisses zukommt, müssen adäquate und wirksame Garantien gegen einen Missbrauch vorliegen, da ein zur Bewahrung der nationalen Sicherheit bestimmtes System geheimer Überwachung die Gefahr begründet, dass die Demokratie im Rahmen ihrer Verteidigung unterminiert oder gar zerstört werden könnte.

3. Sollen geheime Überwachungen mit Art. 8 EMRK vereinbar sein, müssen hinsichtlich der Kontrolle der relevanten Geheimdienstaktivitäten gesetzlich bestimmte Schutzinstrumente vorgesehen sein. Die Kontrollmechanismen müssen so weit die möglich den Werten der Demokratie verpflichtet sein und dabei insbesondere der rule of law (Rechtsstaatsprinzip) genügen. Die rule of law erfordert u.a., dass Eingriffe der Exekutive in Rechte des Einzelnen einer effektiven Kontrolle unterstehen, die normalerweise - jedenfalls letztinstanzlich - durch die Justiz erfolgen muss, da eine richterliche Kontrolle die besten Garantien für Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und ein angemessenes Verfahren bietet.


Entscheidung

589. BVerfG 2 BvR 2259/04 - Beschluss vom 6. Juli 2005 (OLG Köln)

Menschenwürde (lebenslange Freiheitsstrafe; realistische Chance auf Freiheit; Justizförmigkeit); Zulässigkeit der Auslieferung in die USA bei drohender lebenslanger Haft unter Ausschluss der Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung (unabdingbare Grundsätze der öffentliche Ordnung; Achtung fremder Rechtsordnungen; Vollzugspraxis; Ausreichen einer Gnadenpraxis); Begnadigung ("pardon"); Umwandlung der Strafe ("commutation").

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 3 EMRK; § 10 Abs. 2 IRG

1. Die Auslieferung bei drohender lebenslanger Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung verstößt nicht ohne weiteres gegen unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.

2. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehört es zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden (BVerfGE 45, 187, 229 und Leitsatz 3 Satz 1).

3. Verfahrensrechtliche Einzelheiten, mit denen die praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit in Deutschland verstärkt und gesichert wird, gehören nicht zu den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen Verfassungsordnung, die im Auslieferungsverkehr auch vom ersuchenden Staat erfüllt werden müssen.

4. Der Zulässigkeit einer Auslieferung steht es nicht entgegen, wenn die Begnadigung oder die Umwandlung der Strafe nicht in einem justizförmigen Verfahren geprüft wird. Das Gebot, fremde Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten, schließt es aus, die in der deutschen Entwicklung des Rechtsstaats liegende Forderung nach gerichtlicher Entscheidung zum unverzichtbaren Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung im Auslieferungsverkehr zu rechnen. Kann sich die Hoffnung des Verurteilten auf eine behördliche, in das Rechtssystem eingebettete Gnadenpraxis stützen, besteht kein Anlass, die Auslieferung deshalb zu verweigern, weil es an der nach deutschem Verfassungsrecht gebotenen Justizförmigkeit fehlt.


Entscheidung

590. BVerfG 2 BvR 1822/04 - Beschluss vom 7. Juni 2005 (LG Aschaffenburg/AG Aschaffenburg)

Grundrecht auf Eigentum (Inhalt und Schranken; Entzug deliktisch erlangter Vermögenswerte; Grundrechtsschutz durch Verfahren); faire Verfahrensführung (Abwägung; eigenständige richterliche Prüfung); strafprozessualer Arrest zum Zwecke der Rückgewinnungshilfe (keine zeitliche Beschränkung; keine unbefristete Beeinträchtigung; Prüfung der Höhe erlangter Vermögenswerte bei Mittäterschaft; eigene Verfügungsbefugnis); Sicherungsbedürfnis (Berücksichtigung von Untätigkeit des Begünstigten); Betrug (Honorarabrechnung; Abrechnungsbetrug; Scheinselbständigkeit).

Art. 14 Abs. 1 GG; § 111b Abs. 2 StPO; § 111b Abs. 5 StPO; § 111d StPO; § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB; § 73a StGB

1. Wird im Wege vorläufiger Sicherungsmaßnahmen das gesamte oder nahezu das gesamte Vermögen der Verfügungsbefugnis des Einzelnen entzogen, fordert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht lediglich eine Vermutung, dass es sich um strafrechtlich erlangtes Vermögen handelt; vielmehr bedarf dies einer besonders sorgfältigen Prüfung und einer eingehenden Darlegung der dabei maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen in der Anordnung, damit der Betroffene dagegen Rechtsschutz suchen kann (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juni 2004 - 2 BvR 1136/03).

2. Der Gewährleistungsgehalt des Eigentumsrechts schließt den Anspruch auf eine faire Verfahrensführung ein. Dazu gehört, dass das Gericht das Rechtsschutzbegehren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht prüft. Es muss die tatsächlichen Grundlagen selbst ermitteln und

seine rechtliche Auffassung unabhängig von der Exekutive gewinnen und begründen. Die gerichtliche Entscheidung muss deshalb die Voraussetzungen des Eingriffsrechts prüfen und darf sich nicht auf formelhafte Bemerkungen zurückziehen, die letztlich offen lassen, ob die Voraussetzungen der gesetzlichen Eingriffsermächtigung im Einzelfall vorliegen. (vgl. BVerfGE 107, 299, 325; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juni 2004 - 2 BvR 1136/03).

3. Zwar unterwirft das Gesetz den Arrest als vorläufige Sicherungsmaßnahme, sofern "dringende Gründe" im Sinne des § 111 b Abs. 3 StPO vorliegen, keiner zeitlichen Beschränkung, gleichwohl darf die lediglich vorläufig wirkende und nicht endgültig sichernde Rückgewinnungshilfe des Staates die Eigentumspositionen des hiervon Betroffenen nicht unbefristet beeinträchtigen.

4. Das Sicherstellungsbedürfnis reduziert sich mit dem Ausmaß der vorwerfbaren Untätigkeit derjenigen, zu deren Gunsten die Sicherstellung vorgenommen wird. Bei der von den Fachgerichten von Verfassungs wegen vorzunehmenden Abwägung sind daher jedenfalls die Anzahl der Geschädigten, deren Kenntnis des Schädigers und der schädigenden Umstände sowie die tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten zur Rechtsdurchsetzung zu berücksichtigen.

5. Wegen der Höhe des Arrestbetrags bedarf es einer besonders sorgfältigen Prüfung und einer eingehenden Darlegung der maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen hinsichtlich des Umstandes, dass es sich bei dem Arrestbetrag um ein vom Beschwerdeführer strafrechtlich erlangtes Vermögen handelt. Auch dann, wenn das Geld nicht unmittelbar einem tatunbeteiligten Dritten zugeflossen ist, bedarf es zur Anordnung des Verfalls der Feststellung, wer unter den Tatbeteiligten die wirtschaftliche Verfügungsgewalt über das Geld erlangt hat. Eine etwaige Zurechnung nach den Grundsätzen der Mittäterschaft kommt hier nur dann in Betracht, wenn sich alle Beteiligten darüber einig waren, dass sie gemeinsam Verfügungsgewalt erlangt haben (vgl. hierzu Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juni 2004 - 2 BvR 1136/03 m.w.N.)


Entscheidung

587. BVerfG 1 BvR 2097/02 - Beschluss vom 12. Juli 2005 (BayObLG/LG Kempten)

Meinungsfreiheit (Schutzbereich; Auslegung; Wortlaut; objektiver Sinn; Kontext; Schmähung); Beleidigung ("Zigeunerjude"); Gleichheitssatz (Abstellen auf Parteizugehörigkeit).

Art. 5 Abs. 1 GG; Art. 5 Abs. 2 GG; Art. 3 Abs. 3 GG; § 185 StGB

1. Auch die polemische oder verletzende Formulierung fällt, wenn sie durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens und des Meinens geprägt ist, als Werturteil dem Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit (vgl. BVerfGE 54, 129, 138 f.; 93, 266, 289; stRspr).

2. Von Verfassungs wegen begegnet es keinen Bedenken, bei der Erfassung des Sinns einer Äußerung ihren Kontext zu berücksichtigen, darunter auch den Umstand, dass die Äußerung durch ein Mitglied der rechtsextremen Partei der "Republikaner" für eine Presseerklärung dieser Partei verfasst worden ist.


Entscheidung

588. BVerfG 2 BvR 1772/02 - Beschluss vom 30. Juni 2005 (OLG Oldenburg/LG Osnabrück/AG Nordhorn)

Allgemeine Handlungsfreiheit (Einfuhr von Cannabis zur Selbsttherapie; keine zwingende Differenzierung gegenüber harten Drogen); Menschenwürde; Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; Notstand (rechtfertigender; entschuldigender; Verneinung bei nicht wahrgenommener Möglichkeit eine Erlaubnis zu beantragen).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 3 Abs. 2 BtMG; § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG; § 34 StGB; § 35 StGB

Eine medizinisch notwendige Behandlung mit Cannabisprodukten kann das erforderliche öffentliche Interesse für die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 3 Abs. 2 BtMG im Einzelfall begründen.