HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2005
6. Jahrgang
PDF-Download

Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Tatrichterliche Notwehr gegen Mißbrauch des Beweisantragsrechts?

Anmerkung zum Beschluss BGH 5 StR 129/05 vom 14. Juni 2005 = BGH HRRS 2005 Nr. 543 (in diesem Heft).

Von Rechtsanwalt Klaus-Ulrich Ventzke, Hamburg

"Die Möglichkeiten der Strafjustiz müssen aber auf Dauer an ihre Grenzen stoßen, wenn die Verteidigung in Strafverfahren, wie der Senat zunehmend beobachtet, zwar formal korrekt und im Rahmen des Standesrechts (gemeint wohl: Berufsrechts) geführt wird, sich aber dem traditionellen Ziel des Strafprozesses, der Wahrheitsfindung in einem prozeßordnungsgemäßen Verfahren, nicht mehr verpflichtet fühlt und die weiten und äußersten Möglichkeiten des Strafprozeßordnung in einer Weise nutzt, die mit der Wahrnehmung ihrer Aufgabe, den Angeklagten vor einem materiellen Fehlurteil oder (auch nur) einem prozeßordnungswidrigen Verfahren zu schützen, nicht mehr zu erklären ist."

Mit diesen "Beobachtungen" konfrontiert der 3. Strafsenat des BGH den Leser eines im Verfahren gem. § 349 Abs. 2 StPO ergangenen Beschlusses (3 StR 445/04 vom 25.1.2005, S. 3 = HRRS 2005 Nr. 162; meine Hervorhebung).  Dem dortigen Verteidiger warf er u.a. vor, mit "völlig lebensfremd(en) und schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar(en)" Anträgen und Erklärungen zu einer "auch mit Blick auf die Interessen des Angeklagten nicht veranlaßten Aufblähung des Verfahrens" beigetragen zu  haben.

Zu derartigen, offenkundig der Spannungsabfuhr dienenden ("wie der Senat zunehmend beobachtet") Unmutsäußerungen und  Verteidigerbeschimpfungen haben sich (Revisions-)Richter immer wieder einmal hinreißen lassen. Damit hat die Verteidigung zu leben gelernt. Unerfreulich und gefährlich wird es, wenn das Ressentiment mit der Intention, mißbräuchlichem Verteidigungsverhalten entgegenzutreten, entscheidungsrelevant zu werden droht.

1. Bisher galt BGHSt 38, 111 als der diesbezügliche revisionsgerichtliche Sündenfall, eine Entscheidung, die freilich zum Teil verkürzt rezipiert wurde (vgl. hierzu Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß, 2004, S. 495 ff.): Das Beweisantragsrecht wurde dem dortigen Angeklagten nicht vollständig genommen, vielmehr wurden seine Beweisanträge "nur" entgegengenommen, sofern sie über seinen Verteidiger gestellt wurden, "um eine rechtliche Kontrolle darüber stattfinden zu lassen, ob es sich um sachdienliche Anträge handelte" (BGH a.a.O. S. 114). Der 4. Strafsenat betonte aber ausdrücklich den überlieferten Grundsatz, "daß das Gericht nicht befugt ist, der Verteidigung schlechthin und von vornherein die Stellung von prozessual zulässigen Anträgen zu verbieten" (a.a.O. S. 114). Letztlich kam diese Entscheidung als fast paternalistisch anmutende Maßnahme der gerichtlichen Qualitätssicherung des Verteidigungsverhaltens daher.

2. Eine hiervon inspirierte, in den Dienst der Mißbrauchsabwehr gestellte Gestaltung der tatrichterlichen Beweisaufnahme trifft die Subjektstellung des Angeklagten. Beweisrechtlich werden von ihr zudem vor allem zwei  Grundsätze berührt:

·       Das  beweisantragsrechtliche Präklusionsverbot des § 246 Abs.1 StPO. Anknüpfungspunkt derartiger Maßnahmen ist jeweils zumindest auch der Zeitpunkt, zu dem die inkriminierten Anträge gestellt wurden.

·       Das beweisantragsrechtliche Verbot der antizipierenden Beweiswürdigung. Jedenfalls unterschwellig wird den Anträgen die Einschätzung  entgegengehalten, daß die Verdachtslage "eigentlich" tatrichterlich längst unanfechtbar geklärt, das objektiv gebotene Beweisprogramm abgearbeitet sei.

Deutlich wird dieser Kontext an drei Entscheidungen des 5. Strafsenats des BGH aus diesem Jahr, die - allerdings an frühere Rechtsprechungstendenzen (vgl. dazu schon Wohlers StV 1997, 570 ff. zu 5 StR 58/97 vom 12.6.1997) dieses Senats anknüpfende - Argumentationsmuster enthalten,  die  beweisrechtlich nicht unbedenklich sind:

In 5 StR 76/05 (vom 31.5.2005, S. 2/3 = HRRS 2005 Nr. 540) machte der Senat  die Unbegründetheit einer Aufklärungsrüge offenkundig auch daran fest, daß die Verteidigung das Landgericht erst am 24. Hauptverhandlungstag mit einem Antrag auf Vernehmung des Verfassers eines bereits am 3. Hauptverhandlungstag verlesenen Gutachtens befaßte, dem es auch aufgrund der bis zum 34. Hauptverhandlungstag durchgeführten Beweisaufnahme und der am 35. Hauptverhandlungstag erfolgten Einlassung eines Angeklagten nicht hätte nachgehen müssen. Diese penible Nachzeichnung der dogmatisch eigentlich eher  irrelevanten  Prozeßchronologie dient zuvörderst rhetorischen Zwecken: Sie macht dem Senat den Weg frei, um dem Tatrichter eine "besonders dichte, auf eine Vielzahl von Sach- und Personalbeweisen gestützte Beweisführung" (S. 4) zu bescheinigen.

Auf derselben beweisrechtlichen Linie lag bereits 5 StR 515/04 (vom 16.3.2005, S. 4). Hier erwog der Senat, bei der Anwendung der erwähnten Grundsätze (von BGHSt 38, 111) sei im zu entscheidenden Fall zu bedenken, daß die vom Tatrichter nicht entgegengenommenen Beweisanträge des Angeklagten "keine neuen Ansätze der Verteidigung (offenbarten) und das nach umfassender Sachaufklärung besonders sichere Beweisergebnis der Wirtschaftskammer nicht in Frage (stellten)."

3. Mit Spannung durfte man deshalb darauf warten, wie gerade der zuständige Leipziger Strafsenat des BGH denjenigen Beschluß der Großen Strafkammer 23 des Landgerichts Hamburg (StraFo 2004, 170 mit Anm. Durth/Meyer-Lohkamp) vom 28.11.2002 behandeln  würde, der folgenden Tenor hatte:

"Den Prozeßbeteiligten wird Gelegenheit gegeben, bis spätestens Donnerstag, den 9.1.2003, 12 Uhr, Anträge zu stellen. Nach diesem Zeitpunkt werden vorbehaltlich eines früheren Schlusses der Beweisaufnahme Anträge, die die Erhebung von Beweisen betreffen, nicht mehr entgegengenommen."

Dieser - wie BGHSt 38, 111 auf ein "allgemeines Mißbrauchsverbot" gestützte -  Beschluß hatte in Verbindung mit weiteren ihn präzisierenden Kammerbeschlüssen folgende Konsequenzen für die Gestaltung der tatgerichtlichen Beweisaufnahme nach Verstreichen des Ausschlußtermins:

·       Die Stellung von Hilfsbeweisanträge blieb von ihm unberührt.

·       Unbedingte Beweisanträge würden als Beweisanregungen behandelt und gemäß § 244 Abs.2 StPO erledigt.

·       Eine Bescheidung der Beweisanträge erfolgte erst in den Urteilsgründen, und zwar auch unter Anwendung des Ablehnungsgrundes der Prozeßverschleppungsabsicht.

Der BGH hat in 5 StR 129/05 (vom 14.6.2005, S. 6 f.), der dritten einschlägigen Entscheidung, den Beschwerdeführern durchaus zugestanden, daß diese tatrichterliche Verfahrensweise mit dem Wortlaut der beweisantragsrechtlichen Normen (§§ 244 Abs. 6, 246 Abs. 1 StPO) nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen sei, und ausdrücklich die Grundsätze von BGHSt 38, 111 in Erinnerung gerufen (a.a.O S. 7).

Hier - so interpretiert der Senat (a.a.O. S. 7/8) die landgerichtliche Verfahrensweise - habe der Tatrichter freilich "das Recht des Angeklagten auf die Stellung von Beweisanträgen als solches nicht beschnitten". Vielmehr habe die Kammer "lediglich die weitere Bescheidung von Beweisanträgen in der Hauptverhandlung abgelehnt und diese der Urteilsbegründung vorbehalten" (S. 7). Zugleich sei aber durch den nicht zu beanstandenden Beschluß der sonst jeweils gebotene antragsbezogene Beschluß gemäß § 244 Abs. 6 StPO "gleichsam ´vor die Klammer gezogen`" (a.a.O. S. 8) worden.

4. Neuland (vgl. hierzu Kudlich HRRS 2005, 10 ff.) betritt der Beschluß (S. 8/9), soweit er sich bemüht, diese Bewertung von der Frage des Rechtsmißbrauchs abzukoppeln und scheinbar zu  objektivieren:

"Jenseits der Frage eines Mißbrauchs von Verfahrensrechten, die wesentlich von der jeweiligen inneren Einstellung des Betroffenen abhängt und bei verschiedenen Verfahrensbeteiligten unterschiedlich beurteilt werden kann, ist nach monate-, gar jahrelanger Verhandlungsdauer über das vom Gericht selbst bestimmte Beweisprogramm hinaus, namentlich bei lang andauernder Untersuchungshaft von Angeklagten, nach einer verfahrensrechtlich vertretbaren Möglichkeit zu suchen, die Hauptverhandlung - allerdings unter fortdauernder Wahrung unverzichtbarer Verteidigungsinteressen - zu einem Abschluß zu bringen. (…) Je länger ein Verfahren dauert, desto größer wird das legitime Interesse daran, es in absehbarer Zeit einer abschließenden Urteilsfindung zuzuführen, sofern nicht sachliche Gründe eine Verhandlung über Monate oder gar Jahre hin unerläßlich machen."

"Scheinbar objektiviert" deshalb, weil irgendwelche das tatrichterliche Prozedieren potentiell lenkenden, gar normativ hergeleiteten Kriterien nicht mitgeteilt werden. Zugespitzt formuliert: Wann soll nach Meinung des Senats Feindstrafprozeßrecht zur Anwendung gelangen dürfen? Der Senat hält ganz lapidar "in extrem gelagerten Fällen" (S. 9) folgendes Modell  "im Wege verfassungs- und konventionskonformer (!) Einschränkung von § 244 Abs. 6 StPO für erwägenswert" (S. 9), wobei er (S. 9) - auch dies ist wenigstens atmosphärisch aufschlußreich - zur Begründung ausdrücklich auf die strukturell ähnlich, nämlich ebenfalls u.a. mit der anderenfalls drohenden Justizüberlastung argumentierende "Deal"-Entscheidung des Großen Senats (BGH, GSSt 1/04 vom 3.3.2005) Bezug nimmt:

·       Den Beteiligten wird eine Frist zur Entgegennahme von Beweisanträgen gesetzt und mit eingehender Begründung "die pauschale Ablehnung nach Fristablauf gestellter Anträge wegen Verschleppungsabsicht vorab beschlossen" (S. 9).

·       Gleichwohl gestellte Anträge werden "vornehmlich (?) unter Aufklärungsgesichtspunkten" (S. 9) gewürdigt, ohne sie erneut zu bescheiden.

·       Die Anträge werden im Urteil wie Hilfsbeweisanträge erledigt (S. 9).

·       Wenn zuvor Beschlüsse gemäß § 244 Abs. 6 StPO auf den Ablehnungsgrund der Prozeßverschleppungsabsicht gestützt worden sind, darf hierbei entgegen der bisherigen Rechtsprechung (S. 7 m. w. N.) auch dieser Ablehnungsgrund zur Anwendung gelangen (S. 9/10).

Der Senat ist überzeugt, daß aufgrund der Beweislage und des Ganges des Verfahrens, insbesondere der Einlassung der Angeklagten, hier ein solcher "Extremfall" vorlag (S. 10), der - in einer Art prozessualer  Notwehr - eine tatrichterliche Verletzung von § 244 Abs. 6 StPO legitimierte. Zudem sei - so konstatiert das Revisionsgericht - "auch kein für sich sachlich nachvollziehbares berechtigtes Interesse der Verfahrensbeteiligten an einer Antragstellung nach Ablauf der ihnen gesetzten Frist ersichtlich" (S. 10).

In der Sache beruht die Verwerfung der Revision indes nicht auf dieser "Auslegung" des § 244 Abs. 6 StPO, da der Senat im Übereinstimmung mit dem Generalbundesanwalt meinte, wegen des ihm insoweit nicht tragfähig erscheinenden Revisionsvorbringens den Beruhenszusammenhang i.S.d. §§ 337 Abs. 1, 338 Nr. 8 StPO zwischen den gerügten Verstößen  gegen § 244 Abs. 6 StPO und dem Urteil sicher ausschließen zu können (S. 11). Denn - und damit schließt sich der Kreis zu der Argumentation der beiden weiteren Senatsentscheidungen aus diesem Jahr - entscheidend sei folgendes:

"Die erst im Urteil beschiedenen Anträge offenbaren sämtlich keine neuen Ansätze der Verteidigung und stellen auch das nach umfassender Sachaufklärung gewonnene sichere Beweisergebnis des Schwurgerichts nicht in Frage (…). Soweit die hierzu angebrachten Beanstandungen überhaupt zulässige Beweisanträge betreffen, handelt es sich bei den erst im Urteil beschiedenen, nach Ablauf der gesetzten Frist eingereichten Beweisanträgen um solche, mit denen die Frage der Glaubwürdigkeit als problematisch angesehener Beweispersonen weiter, aber in keinem Fall mit durchgreifend neuen Ansätzen, in Zweifel gezogen werden sollte." (S. 11)

Abschließend appelliert der Senat (S. 11/12) - in diesen (kriminalpolitischen) Zeiten eher überraschend - unter Hinweis auf länger zurückliegende Veröffentlichungen an der Entscheidung beteiligter Senatsmitglieder  an den Gesetzgeber, die Einführung einer "zurückhaltenden" (S. 12) beweisantragsrechtlichen Präklusionsnorm zu prüfen, die - wie z.B. §§ 222 b, 238 Abs. 2 StPO, aber auch die Widerspruchslösung, bekanntlich auch eine Schöpfung dieses Senats, belegten -  nicht systemfremd wäre.

5. Zieht man ein vorläufiges und vorsichtiges Resümee, so ergibt sich folgendes Bild: Formal handelt es sich um ein obiter dictum, auf das sich kein Tatgericht ohne weiteres, d.h. ohne ein revisionsrechtliches Risiko einzugehen, berufen kann. Insoweit ist Gelassenheit angezeigt, und das aus Justizkantinen kolportierte Frohlocken könnte sich als voreilig erweisen. Befremdlich sind hingegen der methodische Ansatz und  das prinzipielle Verständnis des Strafprozesses, die die eben  nicht nur der Erledigung selbstwidersprüchlichen Verteidigungsverhaltens in einem konkreten Einzelfall (so z.B. BGH, 5 StR 440/04 vom 16.6.2005, S. 6 ff.) dienende, sondern grundsätzliche Fragen abhandelnde Entscheidung prägen:

·       Mit der "verfassungs- und konventionskonformen" Einschränkung der Verbürgung des § 244 Abs. 6 StPO und dem Hinweis auf den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen werden Schutzrechte des Bürgers (zum strikt individualrechtlichen Charakter etwa des Art. 6 Abs. 1 S.  1 EMRK vgl. m.w.N. Gaede wistra 2004, 166, 168, 170) gegen diesen gekehrt, indem sie zur extralegalen  Beschneidung von Verteidigungsrechten herhalten sollen.

·       Der Hinweis auf "berechtigte Verteidigungsinteressen" löst eine an Verfahrensrechten und -pflichten orientierte Auslegung strafprozessualer Normen ab und öffnet bloßer billigkeitsorientierter Abwägerei Tür und Tor.

·       Die Betonung der Bedeutsamkeit der tatrichterlichen Bestimmung des Umfangs der Sachaufklärung, aber auch der Hinweis auf das bereits erzielte sichere Beweisergebnis als revisionsrechtliche Beurteilungsgrundlage - diese Argumentationsfigur durchzieht alle erörterten Entscheidungen - lassen eine Geringschätzung von Partizipationsrechten des Angeklagten, aber auch des Verbots antizipierender Beweiswürdigung besorgen.

·       Wie sich dieser scheinobjektivierte Ansatz mit dem stets hochgehaltenen Dogma des revisionsrechtlichen "Rekonstruktionsverbots" (vgl. hierzu Wilhelm ZStW 2005, 143 ff.) vereinbart, bleibt dunkel.

Ist die unlängst von Fezer (in: Festschrift für Ulrich Weber, 2004, S. 475/480 ff.) in Erinnerung gerufene strafverfahrensrechtliche Selbstverständlichkeit nicht mehr vermittelbar, daß im rechtsstaatlichen Strafverfahren mit einem derartigen (unbestreitbar vorhandenen und gewiß für alle von seiner forensischen Realisierung Betroffenen lästigen) Mißbrauchspotential wohl oder übel gelebt werden muß, da der Strafprozeßkultur anderenfalls Schlimmeres, nämlich die die Rechtssicherheit gravierend beeinträchtigende Auflösung zentraler Formen der forensischen Interaktion, droht (vgl. auch Wohlers GA 2005, 11/12 ff.)? Das hatte ein sich als pragmatisch definierendes, in letzter Konsequenz aber autoritäres Strafprozeßrechtsverständnis (vgl. hierzu anschaulich Waltós, in: Festschrift für Albin Eser, 2005, S. 143 ff.) freilich noch nie eingesehen.