HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2004
5. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

HRRS-Praxishinweis: Steigerung der verfassungsrechtlichen Bedeutung der EMRK durch Berücksichtigungspflicht und erhöhte Kontrolldichte

Hinweis auf den Beschluss BVerfG 2 BvR 1481/04 (Zweiter Senat) vom 14.10.2004 (OLG Naumburg)

Von Wiss. Ass. Karsten Gaede (Hamburg/Zürich)

I. Ob das Bundesverfassungsgericht mit dieser Grundsatzentscheidung tatsächlich alle vom Grundgesetz eröffneten Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um Deutschland aus seiner im Schrifttum beklagten aber doch heute bereits abnehmenden Grundrechtsintrovertiertheit verstärkt herauszulösen, mag bezweifelt werden. In jedem Fall aber muss nun nicht mehr auf Schlagworte wie "Bodenreform" oder "Caroline" verwiesen werden, wenn auf die tatsächlich mittlerweile erhebliche verfassungsrechtliche Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR hingewiesen werden soll. Sicherlich lässt das BVerfG mit dem jetzigen Beschluss noch immer deutlich spüren, dass es sich die Auslegung des Grundgesetzes nicht ohne weiteres vom EGMR diktieren lassen wird. Es behält sich im Ergebnis auch das bessere Wissen über die Menschenrechte vor und scheint gar - verfehlt (vgl. nur das auch allgemein empfehlenswerte Lehrbuch von Grabenwarter, ERMK [2003], § 2 Rn. 16) - zu meinen, es dürfe bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen infolge Art. 53 EMRK völkerrechtlich ohne weiteres vom EGMR abweichen. Dennoch hebt die Entscheidung aber unmissverständlich die mehrfach angeknüpfte (vgl. etwa Art. 1 II, 2 - 14; 20 III, 23, 24, 59 II GG) und intensivier

te verfassungsrechtliche Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR hervor. Mit dem Verweis auf Art. 1 II GG ist nunmehr auch die bislang praktisch funktionslose eigentliche menschenrechtliche Stellungnahme des Grundgesetzes mit der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR in eine fruchtbare Verbindung gebracht worden. Das BVerfG hat zwar einerseits im Grunde seine langjährige Rechtsprechung schlicht fortgesetzt und weder die direkte Abstützung einer Verfassungsbeschwerde auf die EMRK zugelassen, noch etwas am Rang der EMRK an sich verändert. Andererseits hat das Gericht aber letztlich viel mehr getan: Das BVerfG hat über die von der EMRK inspiriert auszulegenden Grundrechte und über Art. 20 III GG eine allgemeine verfassungsrechtliche Berücksichtigungspflicht entwickelt, ohne dass sich seine begründenden Ausführungen mit Erfolg auf Fälle vom EGMR explizit festgestellter deutscher Verletzungen begrenzen ließen. Diese Berücksichtigungspflicht steht letztlich bei der Überprüfung von Gerichtsentscheidungen durch das BVerfG der heutigen Prüfung der Grundrechte im Allgemeinen in nichts nach: es gilt ausdrücklich der gleiche, freilich allgemein zurückgenommene Maßstab und damit die gleiche Kontrolldichte.

Wie im Grunde schon mit einer früheren Kammerentscheidung angedeutet, muss so ein gerichtliches Abweichen vom EMRK- bzw. EGMR-Standard heute verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden, auch wenn die EMRK selbst im einfachen Gesetzesrang steht (vgl. so bereits m.w.N. Gaede wistra 2004, 166, 167). Jedenfalls dann, wenn eine bindende Entscheidung des EGMR zum konkreten Fall vorliegt, wird das BVerfG nun den Anlass sehen, infolge des EMRK-Hintergrundes seine eigene Prüfung überhaupt zu intensivieren. Da eine völkerrechtlich-verfassungsrechtlich begründete Steigerung der Kontrolldichte aber kaum nur die Vermeidung von Folgeverletzungen, sondern überhaupt die Vermeidung von Völkerrechtsverletzungen zum Ansatz haben müsste, wird die Kontrolldichte im Zusammenhang mit der EMRK und den Entscheidungen des EGMR aber ganz allgemein steigen müssen. Das Gericht selbst führt aus:

"Allerdings ist das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Zuständigkeit auch dazu berufen, Verletzungen des Völkerrechts, die in der fehlerhaften Anwendung oder Nichtbeachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen durch deutsche Gerichte liegen und eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit Deutschlands begründen können, nach Möglichkeit zu verhindern und zu beseitigen (vgl. BVerfGE 58, 1, 34; 59, 63, 89; 109, 13, 23). Aus diesem Grund kann es geboten sein, abweichend von dem herkömmlichen Maßstab die Anwendung und Auslegung völkerrechtlicher Verträge durch die Fachgerichte zu überprüfen. Dies gilt in besonderem Maße für die völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, die dazu beiträgt, eine gemeineuropäische Grundrechtsentwicklung zu fördern." [Hervorhebungen des Verfassers]

Erkennt man aber, welche praktische Bedeutung gerade die Kontrolldichte des BVerfG für die Grundrechtsverwirklichung auch im Strafverfahren hat, so muss man diese Neujustierung der deutschen Rechtsprechung zur EMRK aus der Sicht der EMRK als einen bedeutenden Fortschritt werten. Sie muss auch für die Fälle gelten, in denen eine Verletzung über bislang nicht gegen Deutschland ergangene Entscheidungen des EGMR dargelegt wird. Will sich das BVerfG in die gemeineuropäische Grundrechtsentwicklung einreihen, dürfte es bei seiner anschließenden Entscheidungspraxis bedenken, dass der EGMR in ständiger Rechtsprechung unter dem insoweit ausnahmslosen Beifall des Schrifttums die primäre Verwirklichung der EMRK den Vertragsstaaten zuweist und sich selbst als subsidiäre Kontrollinstanz sieht (vgl. statt vieler Kudla v. Polen [GC], Rep. 2000-XI, §§ 132 ff., 148 ff., 155 = NJW 2001, 2694). Der EGMR verlangt etwa bei der Meinungsfreiheit des Rechtsanwaltes ohne weiteres, dass die nationalen Instanzen die Grundsätze seiner Rechtsprechung beachtet haben, auch wenn diese gegenüber anderen Vertragsstaaten entwickelt worden sind (vgl. Steur v. NL §§ 36 ff. HRRS 2004 Nr. 1 = dt. in JR 2004, 339 m. Anm. Gaede). Es kann nicht sein, dass eine sich "völkerrechtsfreundlich" nennende Verfassungsauslegung dies ignoriert und alle plausibel dargelegten Verletzungen zunächst durch den bereits heute heillos überlasteten EGMR entscheiden lässt, während sich das nationale Gericht auch weiterhin nicht mit ihnen prüfend auseinander setzen muss. Zudem dürfte es das BVerfG selbst kaum erfreut haben, dass es in der Grundsatzentscheidung bei der Schilderung des Falles nicht umhin kam, zu bemerken, dass auch eine Kammer des BVerfG mit einem - unbegründeten - Nichtannahmebeschluss ihren Beitrag zur Feststellung einer deutschen Menschenrechtsverletzung geleistet hat. Ohne diesen Beitrag hätte es auch der Grundsatzentscheidung nicht bedurft. Wenn auch unterschiedliche Entscheidungen bei Abwägungskonstellation kaum völlig auszuschließen sind, dürfte doch nach den jüngeren Entwicklungen ein Bestreben des BVerfG zu verzeichnen sein, sich durch Straßburg keine Korrekturen aufdrängen zu lassen, die das BVerfG mit Blick auf Straßburg nicht auch bereits selbst hätte vornehmen können. So wird man nicht ohne Grund festhalten dürfen: Wer heute die konventionsrechtliche Unterstützung seiner grundrechtlich abgestützten Verfassungsbeschwerde wohl begründet aufzeigen kann, hat jedenfalls gesteigerte Chancen, den heutigen Wall an Voraussetzungen mit einer begründeten Verfassungsbeschwerde tatsächlich zu überwinden.

II. Die Grundsatzentscheidung dürfte im Einzelnen umfangreich diskutiert werden. Ihre Konstruktion aus diversen Normen lädt zu dogmatischen Fragestellungen geradezu ein. Ihre Reichweite wird in Zweifel gezogen werden. Versuche der Begrenzung aller ausgesprochenen Pflichten etwa nur auf den Fall der Verurteilung Deutschlands dürften unternommen werden. Blickt man aber auf die völkerrechtliche und die (bald auch ausdrücklich) gemeinschaftsrechtliche Realität der Bindung Deutschlands an die EMRK und erneut auf Art. 1 Abs. 2 GG, sollte die Praxis es vorziehen, sich mit der erneuten Ausdehnung des Einflusses der EMRK auch im Strafverfah-

ren bereits heute anzufreunden. Dabei brauchen keine Revolutionen gefürchtet werden. Es geht darum, neue Sichtweisen einzubeziehen und bei bestimmten Problemkonstellationen Neujustierungen vorzunehmen. Der nationale Grundrechtsschutz wird mit dem Blick von Außen verfeinert. Tatsächlich - auch dies gilt es keineswegs zu vergessen - sind konkrete gesetzliche Maßstäbe der StPO den heutigen Maßstäben der EMRK in manchen Bereichen aus grundrechtlicher Sicht schlicht haushoch überlegen, was etwa beim Beweisantragsrecht im Allgemeinen der Fall ist (vgl. etwa zur Kritik des heutigen Standes der Rechtsprechung des EGMR anhand des Entlastungszeugen etwa SK-StPO-Paeffgen, Art. 6 EMRK Rn. 167 f.). Nur: dafür, diese Fälle weiterhin zu verallgemeinern, um sodann die EMRK im Allgemeinen außer Acht lassen zu dürfen, besteht kein überzeugender und methodisch haltbarer Grund. Worauf es ankommt ist einzig und allein, die EMRK und ihre Maßstäbe regelmäßig und flächendeckend wahrzunehmen, damit man sich aus Straßburg gar nicht erst plötzlich über alte oder in der Entwicklung des "living instrument" EMRK längst angedeutete neue europäische Maßstäbe "belehren lassen muss".

III. Wenn freilich die vom BVerfG begonnene Neujustierung wirklich in der Praxis ankommen soll, muss das Gericht selbst mit einer eigenen Praxis brechen, die derjenigen des kritisierten OLG Naumburg in ihrer "Völkerrechtsunfreundlichkeit" kaum nachsteht: Es kann nicht sein, dass das BVerfG noch im Jahre 2004 zur nachträglichen Sicherungsverwahrung entscheidet, unter anderem auf eine geltende gesetzliche Grundlage verzichtet und wortlos unterstellt, dass eine solche Rechtsprechung mit Art. 5 EMRK zu vereinbaren sein soll (vgl. auch mit Recht abl. Renzikowski JR 2004, 271 ff.). Dass nicht einmal das scharf ablehnende Sondervotum die EMRK als Argumentationsoption gesehen zu haben scheint, hinterlässt mehr als nur Erstaunen. Derartige Entscheidungsbegründungen müssen der Vergangenheit angehören, wenn die intensivierte Völkerrechtsfreundlichkeit des BVerfG nicht nur ein Mittel sein soll, um Fachgerichte hier und da zu kritisieren. Das BVerfG selbst muss die Praxis an relevante Parallelmaßstäbe der Konvention durch seine Autorität ausstrahlenden Entscheidungen heranführen. Neben dem BVerfG wird vor allem zum Strafverfahren auch der BGH gefordert sein, der Praxis den Zugang zu relevanten Ansätzen des EGMR zu erleichtern und Abgleiche seiner eigenen Entscheidungsmaßstäbe auf mögliche Unvereinbarkeiten oder auch Entwicklungsansätze vorzunehmen. Auch hier bestehen jedenfalls Reserven. Schaut man auf das aktuelle Vorlageverfahren zur Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts bei Absprachen, so muss man sehen, dass die allgemeinen Grundsätze zur Wirksamkeit des Verzichts auf Rechte des Art. 6 EMRK bislang keinerlei Rolle spielen, obgleich das faire Verfahren auch den verfassungsrechtlichen Hauptmaßstab für Absprachen darstellen soll (vgl. dazu näher Gaede/Rübenstahl HRRS 2004, 342 ff.). Die hier offenbar durchscheinende Praxis, die Grundsätze der EMRK nur dann näher zu prüfen, wenn der EGMR selbst eine Konstellation bereits im Detail entschieden hat, fällt etwa hinter die schweizerische und die heutige englische Gerichtspraxis mit Abstand zurück. Sie kann im Licht einer völkerrechtsfreundlichen deutschen Verfassung nicht ernsthaft bestehen bleiben. Im Gegenteil wird vor allem dem BVerfG und den Revisionsgerichten eine besondere Verantwortung dafür zufallen, dass in der Instanzpraxis die zum Teil auch sprachlich erschwerte (Abfassung nur in englisch und/oder französisch) und durch die zum Teil "sybillinischen Entscheidungen" des EGMR überdies weiter verkomplizierte (vgl. nur mit vollem Recht Nack, Sonderheft der NJW für Gerhard Schäfer, 2002, S. 46, 51) Berücksichtigung der menschenrechtlichen Maßstäbe der EMRK tatsächlich gelingt. BVerfG und BGH sollten die Rechtsprechung des EGMR für die übrige Praxis nicht nur zufällig erschließen.