HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2004
5. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Menschenrechtliche Fragezeichen hinter der Zurückhaltung von Beweismitteln im deutschen Strafverfahren

Von Wiss. Ass. Karsten Gaede (Cambridge/Zürich)*

Die Rechtsprechung des EGMR hat anhand des englischen Strafverfahrens zur Zurückhaltung von Beweismitteln europäische menschenrechtliche Standards entwickelt, denen auch das deutsche Strafverfahren nicht mehr fraglos genügt. Der Beitrag zeigt am Beispiel zurückgehaltener Schriftstücke (§ 96 StPO), dass dem deutschen Strafverfahrensrecht hinsichtlich der Zurückhaltung möglicherweise entlastend wirkender Beweismittel eine weitreichende Diskussion bevor steht. Jedenfalls das Verfahren bei der Zurückhaltung beweiserheblicher Informationen, die bei der Strafverfolgung angefallen sind, verletzt Art. 6 I 1 EMRK.

I. Einführung

Die deutsche StPO geht vom Untersuchungsgrundsatz aus und verpflichtet insbesondere auch die anklagende Staatsanwaltschaft, alle be- und entlastenden Beweisgegenstände beizuziehen (§§ 160 I-II, 244 II StPO). Dabei ist prinzipiell auch auf Beweisgegenstände zurückzugreifen, die sich im Besitz derjenigen staatlichen Behörden befinden, die nicht der Strafverfolgung dienen (§§ 95 f. StPO). Durchbrochen wird dieser Grundsatz durch § 96 S. 1 StPO, welcher der obersten Dienstbehörde die Sperrung von Schriftstücken gestattet, wenn damit etwaige Nachteile für das Wohl des Bundes oder eines Landes abgewendet werden können.[1] Das Gericht muss jedoch auf eine verständliche Begründung hinwirken und insoweit die Ausräumung von Zurückhaltungsgründen bei begehrten Zeugenvernehmungen gemäß der "Drei-Stufen-Theorie" anregen.[2] Gericht und Staatsanwaltschaft müssen aber eine Sperrerklärung hinnehmen, solange sie nicht formelhaft[3] oder offensichtlich willkürlich erfolgt.[4] Das Gericht ist nicht befugt, sich selbst durch die Einsicht in die betroffenen Schriftstücke von der zutreffenden Entscheidung der obersten Dienstbehörde zu überzeugen: Das Gericht kann die eigentliche Abwägungsentscheidung weder selbst treffen, noch anhand der Entscheidungsgrundlagen nachvollziehen.[5] Selbst wenn es nicht überzeugt ist, muss es die Behördenentscheidung hinnehmen.[6] Es muss mithin darauf vertrauen, dass die Exekutivbehörde die Abwägungsentscheidung im Sinne der Verfahrensfairness trifft und die zur Begründung frei gegebenen Angaben nicht lediglich darauf zugeschnitten sind, den Eindruck der Formelhaftigkeit bzw. der Willkür zu vermeiden. Offensichtliche Willkür wird dabei entweder betont auf Ausnahmefälle beschränkt und damit praktisch irrelevant,[7] zum Teil wird zudem die Möglichkeit ausgeschlossen, die Willkür durch eine Beschlagnahme zu überwinden.[8] Die in Unkenntnis verbleibende Verteidigung kann lediglich fordern, dass das Gericht die Zurückhaltung über eine vorsichtige Beweiswürdigung zur Kenntnis nimmt und dies im Urteil entsprechend darlegt.[9] Ein alternatives in camera Verfahren, in dem die zurückgehaltenen Beweise jedenfalls vor dem Tatgericht offenbart werden müssen, wurde für das Strafverfahren verworfen.[10]

Das geschilderte Verfahren nach § 96 S. 1 StPO wird darüber hinaus beim Einsatz verdeckter Ermittler nach § 110b III StPO[11] und nach herrschender Auffassung in

weiteren Fällen[12] auch dann praktiziert, wenn die Beweismittel bei der Strafverfolgung und damit im Aufgabenbereich der anklagenden Staatsanwaltschaft auf Grund strafprozessualer Vorschriften gewonnen worden sind: Vor allem zum Schutz von Leben und Gesundheit verdeckter Ermittler aber auch zur Erhaltung ihrer Verwendbarkeit bei der Strafverfolgung werden Verteidigung und Gericht von den zur Beurteilung der Zurückhaltungsentscheidung erforderlichen Informationen durch Sperrerklärungen der Exekutive abgeschnitten.[13]

Die heute durch den EGMR vor allem in Entscheidungen gegen Großbritannien zu diesem Problemkreis entfalteten Fairnessmaßstäbe könnten diese Praxis erschüttern. Dabei wäre weniger die Frage betroffen, ob beweiserhebliche Schriftstücke im Ausnahmefall zurückgehalten werden dürfen. Der EGMR betreibt keine Verabsolutierung individueller Menschenrechte. Es ist jedoch das Zurückhaltungsverfahren selbst zu überprüfen. Die sich hier heute stellenden Fragen lassen sich weder mit dem Einwand abweisen, dass gegen Großbritannien gerichtete Entscheidungen die deutsche Rechtsordnung nicht nach Art. 46 EMRK binden,[14] noch mit dem Hinweis beantworten, dass die EMRK nur ein einfaches Bundesgesetz darstellt.[15] Auf dem heutigen Kenntnisstand ist Folgendes der vom EGMR, dem BVerfG aber auch dem BGH getragene Ausgangspunkt:[16] Die EMRK ist in erster Linie durch die Vertragsstaaten einschließlich ihrer nationalen Gerichte zu verwirklichen; sie gilt nicht erst dann, wenn der EGMR einen Staat wegen ihrer Verletzung verurteilt.[17] Die vom EGMR über ein normgestütztes Case Law heute vermehrt ausdifferenzierten Rechte der EMRK[18] gelten angesichts ihrer Umsetzung durch ein Bundesgesetz so unmittelbar, wie es in Deutschland etwa hinsichtlich § 96 StPO der Fall ist.[19] Auch das Bundesgesetz hält dabei mit seinem Art. 32 fest, dass der EGMR zur letztverbindlichen Auslegung der EMRK berufen ist.[20] Die EMRK gewährt insoweit nicht nur unverbindliche Programmsätze, sondern Rechte, die wie die deutschen Grundrechte praktisch umzusetzen sind.[21] Selbst wenn ein Konflikt zwischen der EMRK und spezielleren und/oder späteren Bundesgesetzen auftritt, setzt sich die EMRK in konventionskonformer Auslegung durch, soweit sich nicht der klare Wille des Gesetzgebers nachweisen ließe, dass er das europaweit geltende Menschenrecht brechen wollte.[22] Das BVerfG zieht die EMRK darüber hinaus in Anlehnung an die EGMR-Rechtsprechung bei der Auslegung des Grundgesetzes selbst mit heran:[23] Will ein nationales Gericht oder eine nationale Behörde von der Praxis des EGMR abweichen, ist dies – soweit es möglich ist – verfassungsrechtlich zu rechtfertigen.

Im Folgenden wird dargestellt, welche Maßstäbe der EGMR-Rechtsprechung hinsichtlich der Frage zurückgehaltener Beweismittel zu entnehmen sind (II.). Davon Ausgang nehmend wird gezeigt, inwiefern die deutsche Praxis infolge dieser Maßstäbe auch bei einer Reflektion etwaiger prozessstruktureller Unterschiede als konventionswidrig zu betrachten ist (III.). Es wird zudem aufgegriffen, welche weitergehende Fragestellung sich abzeichnet, die den Umfang der konventionswidrigen deutschen Praxis noch erheblich erweitern kann (IV.).

II. Die Zurückhaltung von beweiserheblichem Material in der Rechtsprechung des EGMR gemäß Art. 6 I 1 EMRK

1. Die spezielleren Maßstäbe des Art. 6 I 1 EMRK zur Zurückhaltung von Beweisen

Die Zurückhaltung von Beweismitteln[24] stellt sich aus Sicht der EMRK als Frage des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 I 1 EMRK dar.[25] Das Recht auf ein faires Verfahren wird überwiegend in Deutschland als eine Ansammlung allgemein evidenter Mindeststandards gedeutet, die schon auf Grund der erklärt einzelfallbezogenen Praxis des EGMR – vom hoch entwickelten deutschen Strafver-

fahrensrecht betrachtet – grundsätzlich als ein Rückschritt gesehen werden.[26] Sieht man so auf die Straßburger Judikatur bzw. die EMRK, mag die Thematisierung unter Art. 6 I 1 EMRK verwundern. Vorzugswürdig ist es freilich, solche globalen und letztlich undifferenziert pauschalen Aussagen nicht zu treffen: Die jeweils existierenden in autonomer völkerrechtlicher Auslegung[27] gewonnenen europäischen menschenrechtlichen Standards sind zunächst problembezogen zu prüfen und es ist überdies zur Kenntnis zu nehmen, dass der EGMR sehr wohl im Wege der Fallunterscheidung ("distinguishing") ein System anstrebt[28] und nach Art. 30, 43 EMRK[29] sogar anstreben muss: Er prägt ein normgestütztes Case Law aus, nicht etwa eine Ansammlung einzelfallgerecht scheinender aber zusammenhangloser Entscheidungen.

Unternimmt man die geforderte Prüfung zur konkret aufgeworfenen Frage, ist festzustellen, dass der EGMR als konstitutive Bestandteile des Art. 6 I 1 EMRK das rechtliche Gehör und das Recht auf Waffengleichheit in ständiger Rechtsprechung anerkennt.[30] Wie der EGMR jüngst wieder in der Dowsett-Entscheidung ausgeführt hat, fordert Art. 6 I 1 EMRK demnach, dass die Anklage alle in ihrem Besitz befindlichen und verfahrenserheblichen, den Angeklagten belastenden oder begünstigenden Beweismittel offen legen muss.[31] Die Offenlegung der Beweise meint dabei im englischen Parteiverfahren heute ein zweistufiges Verfahren ("disclosure"), in dem die Anklage mitteilen muss, welche gesammelten verfahrenserheblichen Beweismittel existieren, die sie aber nicht in das Strafverfahren einführen will.[32] Der europäische Anspruch auf die Offenlegung der Beweise ist jedoch tatsächlich außerhalb des englischen Parteiverfahrens entwickelt worden:[33] Etwa für das belgische Verfahren, das tendenziell dem kontinentaleuropäischen Verfahrensmodell folgt,[34] wurde der Anspruch auf die Offenlegung aller relevanten Beweismittel anerkannt. Dem Anspruch auf Waffengleichheit, der hier durch die Gleichstellung hinsichtlich der dem anklagenden Staat verfügbaren Beweisquellen zu erfüllen ist, wird im kontinentalen Inquisitionsverfahren vor allem durch die Einsicht in die Gerichtsakten entsprochen, denen etwa in Deutschland verfahrenserhebliche Informationen grundsätzlich nicht entzogen werden dürfen.[35] Der Anspruch dient in jedem Verfahrenstyp der Parität des Wissens[36] und damit[37] dem unbenachteiligten Verfahrenseinfluss der Verteidigung. Der EGMR selbst führt ihn wie folgt aus:

"It is a fundamental aspect of the right to a fair trial that criminal proceedings, including the elements of such proceedings which relate to procedure, should be adversarial and that there should be equality of arms between the prosecution and defence … Article 6 § 1 requires … that the prosecution authorities disclose to the defence all material evidence in their possession for or against the accused"[38]

Der EGMR erkennt jedoch an, dass der Anspruch auf Offenlegung der Beweismittel nicht absolut ist: Einschränkungen können zulässig sein, soweit schutzwürdige Gründe des öffentlichen Interesses der Offenlegung entgegenstehen.[39] So wurde etwa das englische Institut der public interest immunity prinzipiell erhalten, nach dem Gründe des öffentlichen Interesses die Offenlegung ausschließen können.[40] Danach bleibt es möglich, Beweismittel etwa zum Wohle des Staates oder zum Schutz des Lebens eines Zeugens zurückzuhalten. Der EGMR sieht sich dabei zudem weder in der Lage, noch mit der Aufgabe betraut, selbst zu entscheiden, ob im Einzelfall eine Zurückhaltung aus Gründen des öffentlichen Interesses in tatsächlicher Hinsicht berechtigt gewesen ist.[41] Er fordert aber ein, dass das bei der Entscheidung über die Zurückhaltung angewendete Verfahren so weit wie möglich den Erfordernissen des rechtlichen Gehörs und der Waffengleichheit genügt, wofür adäquate verfahrensrechtliche Schutzinstrumente vorzuhalten sind ("counterbalancing"):

"In some cases it may be necessary to withhold certain evidence from the defence so as to preserve the fundamental rights of another individual or to safeguard an important public interest. However, only such measures restricting the rights of the defence which are strictly necessary are permissible under Article 6 § 1 (…). Moreover, in order to ensure that the accused receives a fair trial, any difficulties caused to the defence by a limitation on its rights must be sufficiently counterbalanced by the procedures followed by the judicial
authorities … In cases where evidence has been withheld from the defence on public interest grounds, it is not the role of this Court to decide whether or not such non-disclosure was strictly necessary since …, as a general rule, it is for the national courts to assess the evidence before them (see the Edwards judgment cited above, pp. 34-35, § 34). Instead, the Court's task is to ascertain whether the decision-making procedure applied in each case complied, as far as possible, with the requirements of adversarial proceedings and equality of arms, and incorporated adequate safeguards to protect the interests of the accused"[42]

Die konkrete Frage besteht folglich aus menschenrechtlicher Sicht im Folgenden: Worin genau muss dieser prozedurale Ausgleich liegen? Der EGMR hat entschieden, worin er keineswegs gesehen werden kann: Wägt die staatliche Anklage selbst ab, ob Beweismittel zurückzuhalten sind, genügt dies Art. 6 I 1 EMRK nicht.[43] Soll das Verfahren trotz der Zurückhaltung von beweiserheblichem Material noch fair sein, kann der anklagende Staat insoweit nicht selbst entscheiden, ob der mit der Zurückhaltung eintretende Nachteil für die Verteidigung von den öffentlichen Interessen im konkreten Einzelfall hinreichend aufgewogen wird. Die Anklage muss infolge der ihr auch bei der Entscheidung über die Zurückhaltung von Beweisen obliegenden Aufgabe der Strafverfolgung bzw. der Anklage als überfordert gelten, wenn sie die unangemessene Benachteiligung des eigenen Verfahrensgegners ausschließen soll. Im Original heißt es insoweit:

"a procedure, whereby the prosecution itself attempts to assess the importance of concealed information to the defence and weigh this against the public interest in keeping the information secret, cannot comply with the above-mentioned requirements of Article 6 § 1" [44]

Dem EGMR genügte nur eine Lösung, bei der dem Verfahrensrichter[45] seitens der Anklage das vor der Verteidigung zurückgehaltene Material zur Kenntnis gebracht wird, damit er selbst einschätzen kann, ob die Beweismittel im öffentlichen Interesse zurückzuhalten sind.[46] Nach der heutigen Rechtsprechung des EGMR ist davon auszugehen, dass diese Entscheidung nicht in einem nachträglich die Verurteilung überprüfenden Rechtsmittelverfahren ohne die uneingeschränkte Kenntnis und Mitwirkung der Verteidigung mit heilender Wirkung getroffen werden kann: Eine solche Prüfung würde ohne unmittelbare Verfahrenskenntnis nur aus zweiter Hand erfolgen und zudem kann die vorherige Verurteilung eine unbelastete Abwägung - wenn auch unbewusst - möglicherweise beeinträchtigen. Grundsätzlich muss die tatrichterliche Instanz die Anforderungen des Art. 6 I 1 EMRK erfüllen.[47]

Der EGMR hat dabei mit nur neun zu acht Stimmen entschieden, dass eine zusätzliche Verschärfung der Verfahrensanforderungen noch nicht von Art. 6 I 1 EMRK gefordert ist: In den Entscheidungen Fitt und Jasper hat sich der EGMR gegen die Bestellung eines special counsel für die Vorlage der zunächst zurückgehaltenen Beweismittel ausgesprochen. Es genügt danach bislang, wenn der englische Verfahrensrichter über die Zurückhaltung der Beweismittel in camera unter Möglichkeit einer Stellungnahme der Verteidigung entscheidet.[48] Ein special counsel wäre dagegen ein Verteidiger, der im Zurückhaltungsverfahren das Verteidigungsinteresse in Kenntnis des vorhandenen Beweismittels einzubringen hätte, jedoch bei der Kommunikation mit der Verteidigung hinsichtlich der Offenbarung der möglicherweise weiterhin gesperrten Beweismittel eingeschränkt ist.[49] Er gleicht den Umstand aus, dass allein die Anklage auf die Entscheidung durch den nun informierten Richter in informierter Weise Einfluss nehmen kann, während die Verteidigung nur mutmaßende Stellungnahmen einreichen kann.[50] Das britische Schrifttum hält die ablehnenden Entscheidungen überwiegend für die Zurückhaltung einer auf längere Sicht nach Art. 6 EMRK kaum vermeidbaren Verfahrensinstitution.[51] Der von der britischen Regierung in Auftrag gegebene und für die rechtspolitische Entwicklung des englischen Strafverfahrens bedeutende Auld-Report, den der EGMR jüngst

ausführlich dargestellt hat, befürwortet die Einführung des special counsel.[52]

Nunmehr ist die Verwehrung des special counsel auch in der EGMR-Rechtsprechung jedenfalls für eine bestimmte Konstellation bereits in Frage gestellt. Der EGMR hat getreu seiner Praxis, den Staaten keine Vorgaben bei der Umsetzung seiner Zielvorgaben zu machen,[53] den special counsel nicht gefordert, jedoch auf das Folgende erkannt: Der Verfahrensrichter darf sich bei der oben geschilderten Verfahrensweise nach der Entscheidung Edwards u. Lewis nicht in einer Lage befinden, in der er selbst über die von den Beweisen betroffene Frage entscheidet.[54] Die Institution, die das counterbalancing durchführt, darf in diesem Fall keine möglicherweise tatsächlich belastenden Beweismittel zur Kenntnis nehmen, zu denen die Verteidigung nicht in gleich informierter Weise hat Stellung beziehen können.[55] Zur Ausräumung dieses Umstandes kommt die Einführung des special counsel in Frage. Ob diese Qualifizierung der Verfahrensanforderungen jedoch in dieser Form bestehen bleibt, ist offen, da die britische Regierung das Verfahren über eine behauptete Divergenz zur übrigen Rechtsprechung erfolgreich zur Entscheidung durch die Große Kammer weiter gezogen hat.[56]

Wenn die in Edwards u. Lewis einstimmig erkannte Verletzung des fairen Verfahrens auch kaum im Ergebnis zurückgenommen werden dürfte, so soll doch die mögliche Steigerung der europäischen Maßstäbe hier noch nicht näher thematisiert werden. Festzuhalten bleibt auf dem heute gesicherten Rechtsprechungsstand, dass eine von der Anklage durchgeführte Abwägung bei der Zurückbehaltung von Beweismitteln Art. 6 I 1 EMRK nicht genügt. Der vom EGMR geforderten strikten Verhältnismäßigkeit und dem erforderlichen counterbalancing ist hingegen entsprochen, wenn ein mit dem Verfahren vertrauter Richter die Prüfung selbst vornimmt, wobei sich diese Anforderungen angesichts ihrer nun möglichen und nur denkbar knapp abgelehnten Steigerung als Mindestbedingungen darstellen.

2. Steigerungen und Ergänzung über die Gesamtbetrachtung

Ohne diesen Aspekt vollständig entfalten zu können, muss angesichts einer dem nicht stets gewachsenen deutschen höchstrichterlichen Praxis[57] betont werden, dass auch bei der Beurteilung des hier spezifisch aufgegriffenen Fairnessaspekts seine Einbettung in die gesamte Verfahrensfairness zu bedenken bleibt.[58] Dies mag entbehrlich sein, wenn sich keine Fallabweichungen ergeben: Hier sind die oben dargestellten Maßstäbe zu beachten und ihre Nichtbeachtung führt zu einer Verletzung. Zumindest dann, wenn Fallabweichungen auftreten, die eine gleiche Entscheidung normativ in Frage stellen, muss der Blick wieder für die Gesamtbetrachtung der Fairness geöffnet werden: Der EGMR hält es für möglich, eine Verletzung des Art. 6 I 1 EMRK im Wege einer übergreifenden Betrachtung einzelner menschenrechtlich bedenklicher Verfahrensvorkommnisse zu bejahen.[59] Vor allem in Fragen des Beweisrechts kommt dieser Ansatz zur Geltung.[60] Wenn der EGMR Abweichungen und Präzisierungen der erkannten Maßstäbe zu prüfen hätte, muss man davon ausgehen, dass er seinen Blick auch weiteren Teilrechten zuwenden wird.

Nach der EGMR-Rechtsprechung kommt insoweit offenbar jedes anerkannte Teilrecht in Betracht. Es können – beispielhaft gesprochen – etwa bedenkliche, plötzliche Wechsel der Gerichtsbesetzung und vergleichsweise geringe Bemühungen um Zeugenvernehmungen zu einer Verletzung beitragen.[61] Für die Ausgangsproblematik zurückgehaltener Beweismittel kommen insbesondere die Rechte des Art. 6 III lit. d EMRK auf die Ladung von Entlastungszeugen bzw. die Konfrontation von Belastungszeugen als flankierende Fairnessmomente in Betracht, zumal diese in ständiger Rechtsprechung in besonderer Weise an Art. 6 I 1 EMRK angelehnt geprüft werden[62] und – wie der Offenlegungsanspruch – primär der Waffengleichheit dienen sollen.[63] Der Staat muss auf verfahrensrelevante Zeugenvernehmungen grundsätzlich

ohne Nachlässigkeit hinwirken.[64] Wenn der Staat im Zusammenhang mit zurückgehaltenen Beweismitteln auf die von der Verteidigung zur Entlastung beanspruchte Vernehmung eines Informanten nicht fehlerfrei oder nicht mit dem im konkreten Fall völkerrechtlich[65] angemessenen Nachdruck hinwirkt, kann sich eine im einzelnen möglicherweise noch ausscheidende Verletzung auch aus der Gesamtbetrachtung beider Fairnessaspekte ergeben. So könnten beispielsweise etwaige Versäumnisse hinsichtlich Art. 6 III lit. d EMRK den Ausschlag dafür geben, einen im Ganzen unfairen Prozess anzunehmen.

Diese Praxis des EGMR gilt es zu erinnern, wenn Einzelfälle hinsichtlich zurückgehaltener Beweise zu entscheiden sind. Dass das Vorgehen des EGMR Kritik unterliegt, ist dabei hier nur zu referieren.[66] Die Praxis wird im Schrifttum auch allgemein oder differenziert begrüßt.[67] Dass dieses Vorgehen des EGMR eine systematisierte wissenschaftliche Durchdringung des Art. 6 EMRK vor erhebliche aber nicht unlösbar scheinende Probleme stellt, ist zu bemerken. Will ein Vertragsstaat der EMRK aber – seiner Verpflichtung gemäß – jede Verletzung ausschließen, müssen alle für diesen Staat agierenden Institutionen sich dieser Vorgehensweise des EGMR bei der Entscheidung einzelner Fälle stets stellen.

III. Die konventionswidrige Zurückhaltung von Informationen, die im Aufgabenbereich der Staatsanwaltschaft erlangt werden

Zunächst soll die Konstellation aufgegriffen werden, in der auch dann eine verbindliche exekutive Sperrerklärung erfolgt, wenn Beweismittel zur Aufklärung von Straftaten angefallen sind, die der Kenntnis der Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde nicht entzogen sind. Dies kann praktisch insbesondere dann auftreten, wenn die Verteidigung eine Tatprovokation durch verdeckte Ermittler oder V-Leute anderer Art einwendet und dazu Beweismittel offen gelegt wissen will. Diese könnten die Identität der anonym gehaltenen Person preisgeben und daher vom Innenminister nach § 110b III 1, 3 StPO bzw. analog § 96 StPO zurückgehalten werden. Hierbei muss nicht zwingend eine Aussage dieser Personen durch den Rückgriff auf Beweissurrogate im Urteil verwertet worden sein.[68] Das Problem wird auch aufgeworfen, wenn der entlastend wirkende Beleg einer möglichen Tatprovokation erschwert wird und damit – oder etwa durch die Zurückhaltung entlastender Zeugenaussagen – die gewählte Verteidigungsstrategie von vornherein behindert wird.[69] Erinnert man die eingangs dargestellte Praxis im deutschen Strafverfahren (I.), muss vor dem Hintergrund der EGMR-Rechtsprechung ein Konflikt wahrgenommen werden: Es wird hingenommen, dass die Spitze einer Exekutivbehörde über die Zurückhaltung von Beweismitteln entscheidet, obwohl diese Behörde zur Strafverfolgung zu agieren hatte.[70] Die Nachprüfung des Gerichts geschieht in Unkenntnis der beweiserheblichen Schriftstücke selbst, die Ausübung der Befugnis bleibt tatsächlich nachrangigen Beamten überlassen.[71] Das Gericht kann nur nachempfinden, ob die strafverfolgende Exekutive eine wertende Stellungnahme niedergeschrieben hat, die für sich genommen zur Zurückhaltung von Beweisen geeignet ist. Das Gericht prüft die Stellungnahme der Behörde, es prüft gerade nicht, ob die tatsächlich zurückgehaltenen Informationen angesichts der von der Behörde angegebenen Gründe in einer Abwägung in einem fairen Verfahren zurückgehalten werden sollten. Die anhand der Tatsachen entscheidende Instanz ist die strafverfolgende Exekutivbehörde, nicht das Gericht.[72] Dem Gericht verbleibt es nur, in der Beweiswürdigung den untauglichen Versuch zu unternehmen, zwischen unbekannten zurückgehaltenen Beweisen und den existierenden Beweisen einen Bezug herzustellen.

Diese Praxis erfüllt die Anforderungen des EGMR nicht.[73] Die Staatsanwaltschaft ist nicht gehindert, die bei der Strafverfolgung angefallenen Kenntnisse beizuziehen: Auch die Identität von Informanten[74] ist ihr grundsätzlich nicht zu verschweigen, wenn deren Einsatz Teil

der Strafverfolgung war.[75] Sie befindet sich angesichts ihrer Pflicht zur objektiven Sachverhaltserforschung und ihrer Berechtigung, auf die ihr hinsichtlich der Strafverfolgung unterstellten Polizeibehörden zurück zu greifen, im Besitz der vor der Verteidigung zurückgehaltenen Informationen.[76] Mehr noch entscheidet über die Zurückhaltung eine Exekutivbehörde, die angesichts der Einschaltung der dem Innenminister organisatorisch unterstehenden Polizeibehörden in die Strafverfolgung[77] zur strafverfolgenden Exekutive zu rechnen ist und damit die Anklage stützende Aufgaben wahrzunehmen hat. Zudem tritt der Innenminister funktional auch an die Stelle der anklagenden Justiz, da er befugt sein soll, über etwaig einschlägige präventiv-polizeiliche Kompetenzen hinaus sogleich die Einschätzung für die Strafverfolgung insgesamt vorzunehmen, der die Staatsanwaltschaft vorsteht.[78] Damit soll eine Behörde, die in die Aufgabe der Strafverfolgung eingebunden ist, einschätzen können, ob die gegen die Strafverfolgung gerichtete Verteidigung in einem Verfahren einen unverhältnismäßigen Nachteil erleidet.[79]

Schon die möglicherweise für eine Vereinbarkeit des deutschen Rechts mit der EMRK streitende vorsichtige Beweiswürdigung ist – für die Frage nach dem Zurückhaltungsverfahren[80] – keine einzeln oder im Kontext relevante verfahrensrechtliche Institution: Auch im englischen Geschworenenverfahren existiert sie über das Äquivalent des summing up, der Instruktion der Geschworenen über die – eventuell besonders gearteten – rechtlichen Maßstäbe bei der Würdigung der zugelassenen Beweise.[81] Der EGMR hat sie aber in den einschlägigen Entscheidungen in keiner Weise argumentativ einbezogen. Selbst in der hoch streitigen Fitt-Entscheidung hat die vom Richter vorgegebene vorsichtige Würdigung der infolge zurückgehaltener Beweise unbekannt gebliebenen Tatumstände bei der zurückhaltenderen Mehrheit des Gerichts keine Erwähnung gefunden.[82] Werden Beweise legitim zurückgehalten, muss die besonders vorsichtige Würdigung i.S. einer strikten Anwendung von in dubio pro reo zwar erfolgen. Dass sie in diesem Fall nachträglich erfolgt, fördert jedoch im vorherigen Entscheidungsverfahren über die Zurückhaltung in keiner Weise dessen Übereinstimmung mit den Anforderungen des rechtlichen Gehörs und der Waffengleichheit.

Nach der EGMR-Rechtsprechung muss im Sinne einer strikten Notwendigkeit beachtet werden, dass die Beschränkungen der Verteidigungsrechte hinsichtlich des gewählten Abwägungsverfahrens so gering wie möglich zu halten sind: Die Verteidigungsrechte sind so weit wie möglich zu respektieren.[83] Es ist nicht nur unstreitig unzureichend, wenn die Anklagebehörde selbst die dem Verfahrensgegner nachteilige Entscheidung trifft. Es ist vielmehr ein hinreichendes Ausgleichsverfahren ("sufficiently") zu wählen, welches das Verteidigungsinteresse so weit wie möglich einbringt. Dies aber geschieht nicht, wenn das in der ausgleichenden Institution des beide Seiten hörenden unabhängigen Gerichts ausgeprägte faire Verfahren auf eine strafverfolgende Exekutivbehörde verschoben wird: Die vom Innenminister geführte strafverfolgende Polizei muss sich zur Beachtung gegenläufiger Verteidigungsinteressen erst aus ihrer übrigen Aufgabendefinition lösen.[84] Allein die Einschaltung des abstrakt die Verantwortung für die Entscheidungen seines Hauses übernehmenden Innenministers, heilt dies nicht. Der Innenminister steht am Ende einer auf Zuarbeiten beruhenden Kette, in der die unmittelbare Kenntnis hinsichtlich des Verfahrens – anders als beim vom EGMR geforderten Tatrichter – ständig abnimmt, wenn "der Innenminister" schließlich seine persönliche Entscheidung trifft. Dass eine solche Lösung so weit wie möglich die Interessen einer waffengleichen Verteidigung wahrt, lässt sich nicht behaupten. Die Sensibilität des EGMR für einen Menschenrechtsschutz über procedural safeguards[85] und damit für ein Denken freiheitlicher Rechtsmaßstäbe in Institutionen, welche diese Maßstäbe auch sichtbar konstituieren, wird vielmehr ignoriert. Allein die Verlagerung der Entscheidung auf die selbst nicht anklagende aber zu eben dieser beitragende Exekutive genügt nicht. Aus dieser Differenz der deutschen Rechtslage zur vom EGMR ausdrücklich für ungenügend erachteten englischen Praxis kann nicht fehlsam

auf die Vereinbarkeit der deutschen Praxis mit Art. 6 I 1 EMRK geschlossen werden. Diese Differenz ist für den Anspruch auf Waffengleichheit bei einem gerade auch auf die – bei der Entscheidung durch Teilhaber der Strafverfolgung fehlende – Erscheinung der Fairness bezogenen menschenrechtlichen Anspruch[86] ungenügend: Gerade dann, wenn sich rechtliche Maßstäbe letztlich nur zu einer Abwägungsentscheidung konkretisieren lassen, kommt tatsächlich den Fragen, welcher Institution diese Entscheidung zugewiesen wird und auf welchem Verfahren die Entscheidung beruht, die herausragende Bedeutung zu. Nimmt man hinzu, dass der EGMR kurz davor stand, zusätzlich zu dem somit knapp für ausreichend befundenen richterlichen Verfahren noch die Beiziehung eines zur Verschwiegenheit verpflichteten Verteidigers zu fordern, so darf man das Anliegen des EGMR endgültig nicht darauf reduzieren, die Zurückhaltung nur aus den Händen der unmittelbaren Anklagebehörde zu nehmen. Vielmehr muss die Rechtsprechung so verstanden werden, dass die Zurückhaltungsentscheidung über im Besitz der Anklage befindliche Beweismittel durch eine mit dem Verfahren hinreichend vertraute und nicht exekutiv mit der Strafverfolgung in Verbindung stehende gerichtliche Instanz wahrzunehmen ist. Damit wäre keine unvorsichtige "Maximalinterpretation" der EGMR-Rechtsprechung unternommen, zumal die Edwards u. Lewis-Entscheidung hier noch ausgenommen bleibt, jedenfalls aber gesichert, dass keine Marginalisierung der existierenden menschenrechtlichen Vorgaben erfolgt.

Gegen die hier mithin vertretene Unvereinbarkeit der geschilderten deutschen Praxis mit der EGMR-Rechtsprechung lässt sich auch nicht in prozessstruktureller Reflektion[87] einwenden, dass die zum englischen Parteiverfahren ergangenen Entscheidungen für das deutsche reformierte Strafverfahren nicht gleich gelten können, da mit der Staatsanwaltschaft eine jedenfalls auch als Rechtspflegeorgan gestaltete, an die Ermittlung entlastender Umstände gebundene und auf Fairness bedachte Anklage existiert.[88] Es ließe sich der Einwand andenken, zu einer solch strikten Waffengleichheit sei man nur im Parteiverfahren genötigt, nicht hingegen im reformierten Inquisitionsprozess, so dass EGMR-Maßstäbe abzuschwächen seien. Eine prozesssystematische Analyse muss zwar stets erfolgen, wenn Entscheidungen des EGMR zu anderen Prozessordnungen auf ihre konkrete Bedeutung für die StPO untersucht werden sollen. Judikate des EGMR sind gerade nicht darauf bedacht, europäische Strafverfahren der äußeren Form nach anzugleichen. Sie formulieren aber anhand von Einzelfällen unter dem Anspruch kohärenter Rechtsprechung verbindliche Zielmaßstäbe, die jedes nationale Verfahren und jedes Prozessmodell verwirklichen können muss:[89] Frei gestellt ist das Mittel der Umsetzung, nicht die Umsetzung selbst. Die Umsetzung kann mit einem auf das Verfahrensmodell abgestimmten Mittel erfolgen, nur unterbleiben kann sie nicht. Abgesehen davon, dass die als Rechtspflegeorgan eingewendete Staatsanwaltschaft selbst gerade nicht entscheidet und das amtsermittelnde Gericht eben nicht wirklich prüfen kann, muss ein solcher Einwand schon mit der ständigen Rechtsprechung des EGMR aus allgemeinen Erwägungen zurückgewiesen werden. Der EGMR erkennt mit Recht an, dass die Waffengleichheit an der wahrgenommenen Aufgabe der Anklage und nicht an einem ungebundenen einseitigen Prozessgegner ansetzt.[90] Der EGMR sieht die Staatsanwaltschaft insofern als Gegner, weil es auch hier ihre Aufgabe bleibt, die Anklage gegen die Verteidigung durchzusetzen. Auf die fehlerfreie und gleichsam gerichtsgleiche Wahrnehmung der objektivrechtlichen Verpflichtungen durch die Staatsanwaltschaft ist die Verteidigung auch dann nicht verwiesen, wenn das Verfahren sich nicht als Parteiverfahren bezeichnen lässt. Dementsprechend braucht auch bei der Staatsanwaltschaft ein Angeklagter nicht darauf vertrauen, dass die exekutiv entschiedene Beweiszurückhaltung die Verteidigungsinteressen hinreichend wahrt. Verteidigungsrechte berechtigen gerade dazu, die Auffassung der objektiv gebundenen Anklage nicht teilen zu müssen. Selbst wenn dies anders wäre, liefe das über den Prozessvergleich bemühte Argument leer, da die ungebundene Anklage im Parteiverfahren eher einem Mythos gleicht: Jedenfalls die heutige englische Anklagebehörde, zu der der EGMR entschieden hat, ist keine reine ungebundene Verfahrenspartei.[91] Mehr noch muss gerade für einen betont der

Inquisitionsmaxime zugewandten Verfahrenstyp die bisherige deutsche Praxis gleichsam unerträglich scheinen, denn die in die Hand der Exekutive gelegte Zurückhaltung von Beweisen bewirkt, dass die Justiz nur noch über einen Ausschnitt der menschlicher Erkenntnis zugänglichen Wahrheit entscheidet.[92] Nicht das Gericht entscheidet, sondern es muss die Vor-"Entscheidung der Behörde hinnehmen"[93]. Die deutsche Praxis, die Zurückhaltung von Beweismitteln, die sich im Besitz der Strafverfolgungsbehörden befinden, nach §§ 110b III, 96 StPO durch die Exekutive entscheiden zu lassen, verstößt daher auch bei einer prozessstrukturellen Reflektion gegen Art. 6 I 1 EMRK. Wie die Vereinbarkeit der deutschen Rechtslage mit Art. 6 I 1 EMRK bezogen auf die deutsche StPO wieder hergestellt werden kann bzw. muss, wird hier – auch angesichts des Umfangs dieses Aufsatzes – nicht entschieden. Der Bedarf, nach einer geeigneten Umsetzung zu suchen, ist aufgeworfen.[94]

IV. Konventionswidrige Zurückhaltung bei unterlassener Beiziehung von Informationen, die sich im Besitz anderer Behörden des anklagenden Staates befinden?

Über die in § 110 b III StPO geregelten Fälle und die von der herrschenden Auffassung hinzugefügten Fälle hinaus darf die Staatsanwaltschaft dem Gericht auch im deutschen Strafverfahren beweiserhebliche Schriftstücke bzw. beweiserhebliche Informationen nicht vorenthalten.[95] Die Zurückhaltung von Beweisen ist jedoch auch abseits der bislang behandelten Fälle aus Sicht des Staates weiter möglich: Es wird schon der Besitz bzw. die Kenntnis der Staatsanwaltschaft ausnahmsweise verhindert. Während grundsätzlich der Besitz beweiserheblicher Informationen insbesondere bei Schriftstücken herbeizuführen ist, schließt der Staat vor allem im Fall mit § 96 StPO schon den Zugriff der Justiz aus.[96]

Es ist nicht zu verkennen, dass diese Regelungsstruktur dem Staat je nach seiner inneren Behördenorganisation die Möglichkeit eröffnet, strafprozessual im Sinne der Verfahrensfairness anerkannte Maßstäbe für die Abwägungsentscheidung praktisch leer laufen zu lassen: Ordnet der Staat seine Behördenstruktur so, dass die mit der Aufgabe der Strafverfolgung und der Anklage vor Gericht betraute Behörde tatsächlich nur das erhält, was die vorgeschalteten staatlichen Behörden im Zuge ihrer exekutiven Prüfung für angemessen halten, kann die nachgeschaltete justitielle Prüfung entwertet werden: Infolge der Möglichkeit, die Problemfälle zuvor "zu bereinigen", bliebe eine Betrachtung, die den Beweismittelbesitz zu einer rein faktischen Größe degradiert und nicht auch selbst normativ betrachtet, an einer entscheidenden Stelle fehlsam. Es wird mitnichten gesagt, dass die deutsche Rechtslage mit der Differenzierung nach Behördenaufgaben dieser Umgehungsmöglichkeit dienen sollte oder heute dient. Keineswegs ist zu einer solchen Erklärung des § 96 StPO greifen. Es ist jedoch ein Allgemeines und auch bei der Frage der Offenlegungspflicht zu bedenkendes Gebot, Maßstäbe der EMRK wirksam auszugestalten und nicht durch die Eröffnung von Umgehungsoptionen dem Leerlauf auszuliefern.[97] Gerade in einem Inquisitionsverfahren muss der staatliche Besitzanspruch hinsichtlich relevanter Beweismittel im Ausgangspunkt umfassend gedacht werden: Der "Nichtbesitz" erheblicher Beweismittel seitens der Strafverfolgungsbehörden und damit der Staatsanwaltschaft ist auch nach dem geltenden deutschen Strafverfahrensrecht (§ 95 StPO) rechtfertigungsbedürftig: § 96 StPO stellt sich als Ausnahme zur grundsätzlich bestehenden Verpflichtung dar, sich den Besitz derselben zu verschaffen.[98] Da gerade auch in den Judikaten zu Art. 6 EMRK bereits die Offenlegungspflicht auf die Beweismittel erstreckt worden ist, welche die Anklage prinzipiell hätte beiziehen können,[99] muss ein normatives Problem des Art. 6 EMRK auch dann erkannt werden, wenn bereits der faktische Besitz der Anklagebehörde eingeschränkt wird. Die EMRK richtet sich nicht allein an die nationalen Anklagebehörden, sondern an den gesamten Staat einschließlich der ihm zurechenbaren Funktionsträger[100] einschließlich der Behörden, die – an ihre eigene Aufgabe gebunden – nach der deutschen Rechtslage zusätzlich auch die Aufgabe der Herbeiführung eines fairen Verfahrens eigenständig bewältigen können sollen. Die Zurückhaltung möglicherweise entlastender Beweise stellt nicht nur dann ein Problem dar, wenn gerade die Anklagebehörde diese zurückhält: Der EGMR hat das Offenlegungserfordernis

nicht allein aus der Waffengleichheit, sondern auch aus dem Erfordernis des rechtlichen Gehörs abgeleitet, so dass die innerprozessuale Gegnerstellung nicht allein entscheidend sein kann. Die der Verteidigung durch andere staatliche Behörden entzogene Einflusschance im Verfahren hat hinsichtlich der Verfahrensfairness eigenes Gewicht.[101] Kann ein Staat hier die entwickelten prozeduralen Maßstäbe allein deshalb entbehrlich werden lassen oder eine Absenkung vornehmen, indem er schon den Zugriff seiner Anklagebehörde auf verfahrenserhebliche Informationen einschränkt?

Welche Entscheidung dieses Problem konventionsrechtlich im Ergebnis im Einzelnen zukünftig finden muss, soll und kann hier nicht mehr abschließend beurteilt werden. Dass der EGMR anhand neu vorgelegter Fallkonstellationen die Fairnessanforderungen mehr und mehr anhebt[102] und die einmal erkannten Anforderungen durch eine vor Umgehungen schützende Rechtsprechung ausdifferenzierend absichert, ist eine oft beobachtete Erkenntnis und eine oft geäußerte Erwartung. Drei Grundauffassungen scheinen – am Beispiel des deutschen Verfahrens gesprochen – möglich, die hier nur noch angedacht werden können. Erstens könnte die Problemstellung zurückgewiesen werden: Wird die Kenntnis der Anklagebehörde ausgeschlossen, ist sie nicht im Vorteil und wenn selbst nicht anklagende hochrangige Behörden ohne einen dargelegten Grund zur Annahme ihrer Befangenheit die Abwägung vornehmen, liegt ein für diesen Fall hinreichender Schutz vor. Zweitens lässt es sich erwägen, die Differenzierung nach den national zugewiesenen Aufgaben als legitimen Grund für die Nichtinbesitznahme der beweiserheblichen Schriftstücke durch die Staatsanwaltschaft bzw. zumindest als legitimen Grund für die Entziehung von der gerichtlich institutionalisierten Abwägungsentscheidung schlicht zu verwerfen: Auch das Gericht kann nach der Rechtsprechung des EGMR die gleichen Ausnahmen zulassen, die auch die Behörden einwenden können. Es würde so auch hier eine Institution entscheiden, die selbst dem Ausgleich der durch den Staat vertretenen öffentlichen Interessen und denen der Verteidigung dient.

Drittens ließe sich differenzierend erwägen, eine Entscheidung derjenigen Behörden anzuerkennen, die selbst weder rechtlich noch faktisch mit der Aufgabe der Strafverfolgung betraut sind und auch nicht betraut werden können. Diese Behörden ließen sich nicht mit dem Interesse an einer erfolgreichen Anklage in Verbindung bringen, das mit dem EGMR gegen die Befähigung zur Abwägungsentscheidung spricht. Wenn die Exekutivbehörden auch nicht die vom EGMR betonte intime Kenntnis des laufenden Strafverfahrens besitzen, so haben sie – zumal wenn die Behördenspitze die Entscheidung verantworten muss – doch in diesem Fall keinen Anlass, die Verteidigungsinteressen bei der Abwägungsentscheidung zu benachteiligen. Fehlt die Betrauung mit der Strafverfolgung ganz, könnte die behördliche Prüfung mit der anschließenden gerichtlichen Willkürprüfung als genügend betrachtet werden. Sobald es aber eine Betrauung mit der Strafverfolgung gibt oder geben kann, wäre die exekutive Verweigerung der Schriftstücke nicht legitim: Allein wegen der durch staatliche Organisationsentscheidungen entstehenden zusätzlichen Betrauung z.B. mit präventiven Aufgaben oder etwa wegen des Umstandes, dass der völkerrechtlich vollumfänglich verpflichtete Staat Bundesbehörden wie das zur Strafverfolgung beitragende Bundeskriminalamt nicht dem Zugriff der für die Anklage zuständigen Staatanwaltschaften unterstellt, werden Verletzungen der EMRK nicht per se ausgeschlossen.[103]

V. Fazit und Ausblick

Soweit nach der heutigen deutschen Verfahrenspraxis beweiserhebliche Schriftstücke, die im Zusammenhang mit der Strafverfolgung entstanden und der Kenntnisnahme durch die Staatsanwaltschaft nicht entzogen sind, ohne eine informierte gerichtliche Entscheidung zurückgehalten werden, ist Art. 6 I 1 EMRK verletzt. Deutschland muss ein Schutzverfahren entwickeln, das demjenigen prozessual äquivalent ist, welches der EGMR gegenüber Großbritannien eingefordert hat. Dabei ist die Fortentwicklung durch Edwards u. Lewis angesichts der deutschen Identität von verfahrensleitendem und erkennendem Gericht besonders zu beachten.

Darüber hinaus ist auch die staatliche Verweigerung der Inbesitznahme von Beweismitteln durch die Staatsanwaltschaft und der damit verbundene Ausschluss einer kenntnisgetragenen richterlichen Entscheidung über diese Beweise als Problem des Art. 6 EMRK auf den Prüfstand zu stellen. Die auch bei Unkenntnis der Staatsanwaltschaft durch die Zurückhaltung von Beweismitteln mögliche erhebliche Erschwerung des rechtlichen Gehörs muss bedacht werden. Der anklagende Staat kann das mit der EMRK völkerrechtlich an ihn herangetragene Fairnessproblem selbst nicht allein dadurch lösen, dass er sich innerlich gliedert und damit seine Anklage vom Makel der Zurückhaltung möglicherweise entlastender Beweise befreit. Das deutsche Strafverfahren wird die in ihm erfolgende Zurückhaltung möglicherweise entscheidungserheblicher Beweismittel, hinsichtlich des gebotenen prozeduralen bzw. institutionellen Menschenrechtsschutzes bei der Entscheidung über die Zurückhaltung überdenken müssen. Strafverfahrensrecht ist nicht nur

angewandtes nationales Verfassungsrecht. Strafverfahrensrecht verwirklicht Menschenrechte oder es verletzt sie, indem es etwa Verurteilungen ermöglicht, die den Anschein dulden, als sei die Verurteilung selbst Spielball in einem in erster Linie von der Exekutive gespielten Versteckspiel.[104]


* Der Autor ist wiss. Assistent am Lehrstuhl von Prof. Dr. Wolfgang Wohlers (Universität Zürich) und 2003/2004 visiting scholar der Faculty of Law Cambridge (Wolfson College). EGMR-Entscheidungen werden mit den Prozessgegnern bezeichnet. Die amtl. Sammlung wird nach Nr. (Serie A) oder Rep. zitiert. Wird das Datum genannt, ist auf die Datenbank Hudoc zurückzugreifen (www.echr.coe.int). Der Beitrag ist bestrebt, Bezüge zum englischen Strafverfahren zu erläutern. Für Fragen und Kommentare kann karsten.gaede@rwi.unizh.ch genutzt werden. Für Durchsichten der Abhandlung bedanke ich mich herzlich bei Ulf Buermeyer und Stephan Schlegel.

[1] Vgl. näher LR-Schäfer, 24. Aufl. (1986), § 96 Rn. 1 ff. und KK-Nack, 5. Aufl. (2003), § 96 Rn. 1 ff. Die eventuell besonderen §§ 96 S. 2, 54 StPO bleiben im Einzelnen ausgeklammert.

[2] Vgl. BGHSt GS 32, 115 ff., 125 f.; 29, 109, 112 ff.; BGH NStZ 2000, 265, 266; Meyer-Goßner, 46. Aufl. (2003), § 96 Rn. 9. Zur "Drei-Stufen-Theorie" beim Zeugenbeweis vgl. Renzikowski JZ 1999, 605, 606 ff.; Lesch StV 1995, 542 ff.

[3] Vgl. BGHSt 29, 109, 112 ff.; BGHSt 31, 148, 155 ff.; BGH StV 1982, 206, 207; KK-Nack (Fn. 1), § 96 Rn. 17.

[4] Vgl. BGHSt 38, 237, 245; KK-Nack (Fn. 1), § 96 Rn. 26, 28; Meyer-Goßner (Fn. 2), § 96 Rn. 2.

[5] Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 2), § 96 Rn. 7; Lesch StV 1995, 542; Renzikowski JZ 1999, 605, 608: "Plausibilitätskontrolle"; treffend KK-Nack (Fn. 1), § 96 Rn. 17: "eine detaillierte Begründung wird – weil schon dies die Geheimhaltung gefährden kann – nicht immer möglich sein. Es genügt dann der Hinweis auf diesen Sachverhalt und die Mitteilung des Ergebnisses der Ermessensentscheidung"; BGHSt 38, 237, 244 f.; 29, 109, 112; 31, 148, 155; BGH StV 1982, 206, 207; BGHSt GS 32, 115, 125: Keine vollständige Sachprüfung des Gerichts.

[6] Vgl. BGHSt GS 32, 115, 126; BGHSt 41, 36 f.; 31, 148, 155; Meyer-Goßner (Fn. 2), § 96 Rn. 2, 10; KK-Nack (Fn. 1), § 96 Rn. 17; m.w.N. Renzikowski JZ 1999, 605, 608.

[7] Vgl. m.w.N. KK-Nack (Fn. 1), § 96 Rn. 26, 28; SK-Rogall, 9. AufbLfg. 1994, Vor § 48 Rn. 84, 86, 91. Bezeichnend auch BGHSt 38, 237, 245: "Fälle denkbar" (Hervorh. Verfasser).

[8] Vgl. für diese Ansicht m.w.N. LR-Schäfer (Fn. 1) § 96 Rn. 4, 53; SK-Rudolphi, 10. AufbLfg. 1994, § 96 Rn. 8; zur h.M. KK-Nack (Fn. 1), § 96 Rn. 28; Meyer-Goßner (Fn. 2), § 96 Rn. 2; beim Fehlen der Sperrerklärung entschieden BGHSt 38, 237 ff.

[9] Vgl. am Beispiel des Zeugens vom Hörensagen BGHSt 17, 382, 384 ff.; BGH NStZ 1994, 502; BVerfG NStZ 1995, 43, 44; 600; KK-Nack (Fn. 1), § 96 Rn. 14.

[10] Vgl. BGH NStZ 2000, 265, 266 f.; zur zust. h.M. Meyer-Goßner (Fn. 2), § 96 Rn. 7. S. bereits BVerfGE 57, 250, 289.

[11] Zum Meinungsstand Meyer-Goßner (Fn. 2), § 110b Rn. 8 ff.

[12] Vgl. BVerfGE 63, 45, 65; BGHSt GS 32, 115, 123 f.; BGHSt 41, 36, 37 f.: entsprechende Anwendung des § 96 StPO bei V-Personen; Meyer-Goßner (Fn. 2), § 96 Rn. 10 ff.; a.A. SK-Rudolphi (Fn. 8) § 96 Rn 4; LR-Lüderssen, 25. Aufl. (2001) § 147 Rn 53 ff.; Lesch StV 1996, 542, 544.

[13] Vgl. mustergültig § 110b III 3 StPO; KK-Nack (Fn. 1), § 110b Rn. 16 ff.; einschr. Janssen StV 1995, 275 f.

[14] Zu diesem unstreitigen Befund Meyer-Ladewig HK-EMRK (2003), Art. 46 Rn. 3; Renzikowski JZ 1999, 605, 611.

[15] Für diese bestrittene h.M. vgl. m.w.N. BGHSt 46, 93, 97.

[16] Vgl. zum Folgenden bereits m.w.N. Renzikowski JZ 1999, 605, 611; Gaede StV 2004, 46, 49 ff.

[17] S. Art. 1 EMRK und Handyside v. Großbritannien (GB), Nr. 24, § 48; Kudla v. Polen § 152 = NJW 2001, 2694; Ovey/White, ECHR, 3. Aufl. (2002), S. 14; Gaede StV 2004, 46, 51.

[18] Vgl. auch bereits Gaede StV 2004, 46 f., 49 ff.; HK-EMRK (Fn. 14), Art. 46 Rn. 5: "normative Leitfunktion".

[19] Vgl. zur unmittelbaren Geltung etwa m.w.N. BGHSt 46, 93, 97; Gaede StV 2004, 46, 49.

[20] Vgl. Nack, Sonder. NJW G. Schäfer (2002), S. 46, 51: selbstverständl. Umsetzung der EGMR-Maßstäbe durch d. BGH; zur Letztentscheidungskompetenz Handyside v. GB, Nr. 24, § 49.

[21] Vgl. Airey v. Irland, Nr. 32, §§ 24, 32; Matthews v. GB [GC], Rep. 1999-I, § 34; Öcalan v. Türkei, 12.3.2003, § 153, bei www.hrr-strafrecht.de; Ovey/White (Fn. 17), S. 36; HK-EMRK (Fn. 14), Einl. Rn. 32; Villiger Handbuch EMRK, 2. Aufl. (1999), Rn. 164, 179 f.; Gaede StV 2004, 46 ff. Zum Anspruch der dt. Grundrechte auf effektive Verwirklichung vgl. etwa BVerfGE 100, 313 ff. = NJW 2000, 55, 57; Sachs, in: Sachs GG, 3. Aufl. (2003), Vor Art. 1 Rn 60.

[22] Vgl. BVerfGE 74, 358, 370; BGHSt 45, 321, 329; 46, 93 ff.; Weigend StV 2000, 384 ff.; m.w.N. zum einhellig zust. Schrifttum Gaede StV 2004, 46, 49 f.

[23] Vgl. BVerfGE 74, 358, 370; BVerfG NJW 2001, 2245, 2246; BVerfG 1 BvR 1965/02, Beschl. v 21. 11. 2002, Rn. 6 bei www.hrr-strafrecht.de; Limbach NJW 2001, 2913 (2915 f.), S. 2915; m.w.N. Gaede StV 2004, 46, 49 f.

[24] Gemeint sind dabei nach der EGMR-Rechtsprechung all jene, die für die jeweilige Anklage bzw. für die Verteidigung gegen diese von Bedeutung sein können und damit relevant sind, vgl. Edwards u. Lewis v. GB - § 57 = StraFo 2003, 360 ff. m. Anm. Sommer = HRRS 2003, 225; Atlan v. GB 19.6.2001, §§ 40 ff., 45 f. und Emmerson/Ashworth, Human Rights and Criminal Justice (2001), § 14-119a.

[25] Vgl. etwa Dowsett v. GB - §§ 40 ff. HRRS 2003, 171 f.

[26] Vgl. für diese Sicht exemplarisch Braum StV 2003, 576, 579; Meyer-Goßner (Fn. 2), MRK Art. 1 Rn. 1; Art. 6 Rn. 4; Schünemann StV 2003, 116, 121 f.

[27] Vgl. Engel u.a. v Niederlande (NL), Nr. 22, § 82; Villiger (Fn. 21), Rn. 162; Renzikowski JZ 1999, 605, 609.

[28] Vgl. etwa Goodwin v. GB, Rep. 2002-VI, § 74; Stafford v. GB [GC], Rep. 2002-IV, § 68; Villiger (Fn. 21), Rn 167; m.w.N. Gaede StV 2004, 46.

[29] Vgl. etwa die Erläuterungen bei HK-EMRK (Fn. 14), Art. 43 Rn. 7 EMRK: Vermeidung von Divergenzen.

[30] Vgl. Dowsett v. GB - §§ 41 ff. HRRS 2003, 171 f.; Edwards v. GB, Nr. 247-B, § 36; Fitt v. GB Rep. 2000-II, §§ 44 ff.

[31] Vgl. Dowsett v. GB - §§ 41 ff. HRRS 2003, 171 f.; Edwards v. GB, Nr. 247-B, § 36; Rowe u. Davis v. GB, Rep. 2000-II, §§ 60 ff. = StraFo 2002, 51 f. m. Anm. Sommer.

[32] Vgl. dazu Edwards u. Lewis v GB, Urt. v. 22.7.2003, §§ 31 ff., 39; Blackstone's Criminal Practice 2003, D 6.1 ff.; Kühne, Strafprozessrecht, 3. Aufl. (2003), Rn. 1177.

[33] Vgl. nur EKMR, Jespers v. Belgien (B), DR 27, 76 ff., § 58; vgl. auch Bendenoun v. Frankreich, Nr. 284, § 52.

[34] Vgl. Pesquié, in: Spencer, European Criminal Procedures (2002), S. 81, 84 ff., 114 f.

[35] Vgl. dazu eingehend m.w.N. LR-Lüderssen (Fn. 12) § 147 Rn 53 ff.; SK-Rudolphi (Fn. 8) § 96 Rn 4.

[36] Vgl. Welp, Peters-Festgabe (1984), S. 309; LR-Lüderssen (Fn. 12) § 147 Rn 4.

[37] Vgl. BGHSt 29, 99, 102; LR-Lüderssen (Fn. 12) § 147 Rn 1.

[38] Vgl. Rowe u. Davis v. GB, Rep. 2000-II, § 60 = StraFo 2002, 51 f. m. Anm. Sommer.

[39] Vgl. z.B. Dowsett v. GB - § 42, HRRS 2003, 171 f. mit Verweis auf Doorson v. NL, Rep. 1996-II, § 70; vgl. auch m.w.N. Waterman, Archbold News, Sept. 2003, 5, 6.

[40] Vgl. Emmerson/Ashworth (Fn. 24), § 14-114 ff. und Rowe u. Davis v. GB, Rep. 2000-II, §§ 61 ff. = StraFo 2002, 51 f.

[41] Vgl. für diese st.Rspr. m.w.N. nur Dowsett v. GB - § 42 f. HRRS 2003, 171 f. und Rowe u. Davis v. GB, Rep. 2000-II, §§ 61 ff. = StraFo 2002, 51 f. m. Anm. Sommer.

[42] Vgl. Dowsett v. GB - § 42 f. HRRS 2003, 171 f. (Hervorhebung des Verfassers); Atlan v. GB 19.6.2001, §§ 40 ff.; vgl. auch bereits Van Mechelen v. NL - §§ 53 ff. StV 1997, 617 ff.

[43] Vgl. die Grundsatzentscheidung Rowe u. Davis v. GB, Rep. 2000-II, §§ 62 ff., 63 = StraFo 2002, 51 f. m. Anm. Sommer; bestätigend etwa Dowsett v. GB - § 48 HRRS 2003, 171 f.

[44] Vgl. etwa m.w.N. Dowsett v. GB - § 48 HRRS 2003, 171 f.

[45] Im engl. Verfahren ist der Verfahrensrichter ab Straftaten mittlerer Schwere grundsätzlich nur für Rechts- und Verfahrensfragen, nicht hingegen für die – bei einem Unschuldsvotum des Angeklagten – der jury überlassene Tatfrage zuständig, vgl. Spencer (Fn. 34), S. 157 f., 183; Kühne (Fn. 32), Rn. 1160 f.; Edwards u. Lewis v. GB - § 56 StraFo 2003, 360, 362. Anzumerken bleibt, dass das streitige "Recht auf jury trial" vermehrt beschränkt wird und die Masse der Fälle von den magistrates (= Gerichten ohne diese Trennung) entschieden wird.

[46] Vgl. Rowe u. Davis v. GB, Rep. 2000-II, §§ 65 f. = StraFo 2002, 51 f. m. Anm. Sommer: "the prosecution's failure to lay the evidence in question before the trial judge and to permit him to rule on the question of disclosure deprived the applicants of a fair trial." (Hervorhebung des Verfassers).

[47] Vgl. Rowe u. Davis v. GB, Rep. 2000-II, §§ 65 f. = StraFo 2002, 51 f.; Emmerson/Ashworth (Fn. 24), § 14-122.

[48] Vgl. Jasper v. GB, 16.2.2000, §§ 55 ff.; Fitt v GB Rep. 2000-II, §§ 47 ff.; Waterman, Archbold News, Sept. 2003, 5, 6.

[49] Vgl. Fitt v. GB Rep. 2000-II, §§ 30 ff.; Edwards u. Lewis v GB, 22.7.2003, §§ 40 ff.; Emmerson/Ashworth (Fn. 24), § 14-116.

[50] Vgl. dazu die Argumentation der sechs (von acht) abweichenden Richter in Fitt v. GB Rep. 2000-II und Jasper v. GB, 16.2.2000, die zu den Möglichkeit der Verteidigung bemerken, es sei " purely a matter of chance whether they made any relevant points"; Emmerson/Ashworth (Fn. 24), § 14-121 f. Vgl. nun auch Edwards u. Lewis v. GB - § 58 f. StraFo 2003, 360 ff.

[51] S. Emmerson/Ashworth (Fn. 24), § 14-123; Waterman, Archbold News, Sept. 2003, 5, 6 ff.; Sprack, Emmins, 9. Aufl. (2002), S. 133.

[52] Vgl. Edwards u. Lewis v. GB, Urt. v. 22.7.2003, §§ 40 ff.; Waterman, Archbold News, Sept. 2003, 5, 7 f.; Sommer StraFo 2003, 363 f.

[53] Vgl. beispielhaft Artico v. Italien (IT), Nr. 37, §§ 32 ff.; Quaranta v. Schweiz, Nr. 205, §§ 30 ff.; s. im hiesigen Kontext auch Waterman, Archbold News, Sept. 2003, 5, 7 f.

[54] Vgl. Edwards u. Lewis v GB - §§ 57 ff. StraFo 2003, 360 ff. m. Anm. Sommer = HRRS 2003, 225; Waterman, Archbold News, Sept. 2003, 5 ff. Im Fall hatte der Verfahrensrichter zu entscheiden, ob der – ggf. strafausschließende – Einwand des entrapment (insbesondere Tatprovokation) zutreffend war, so dass er eine Sachentscheidung hätte vorweg nehmen können und zudem war – in einem der beiden Fälle – die Offenbarung belastenden Materials nachträglich bekannt gegeben worden.

[55] Vgl. Edwards u. Lewis v GB – §§ 57 ff. StraFo 2003, 360 ff. m. Anm. Sommer = HRRS 2003, 225; Waterman, Archbold News, Sept. 2003, 5, 7 f.; auch Janssen StV 1995, 275, 276 ff.

[56] Vgl. Information Note No. 59 - December 2003 (provisional version) auf der EGMR-Homepage. Vgl. auch Waterman, Archbold News, Sept. 2003, 5, 7 f.

[57] S. beispielgebend die jedenfalls methodisch mit ihrer isolierten Prüfung unzulängliche Entscheidung BGH NJW 2003, 2761, 2763; abl. Eisenberg/Zötsch NJW 2003, 3676, 3677 f.

[58] Vgl. etwa m.w.N. die einleitende Formulierung in Dowsett v. GB – § 40 HRRS 2003, 171 f.

[59] Vgl. Unterpertinger v. Österreich (AUT), Nr. 110, §§ 28 ff.; Barberà u.a. v. Spanien, Nr. 146, §§ 67 ff., 89; vgl. auch die Diskussionsbeiträge der Strafrechtslehrertagung 2003 in ZStW 115 (2003), 671, 692 f.

[60] Vgl. Allan v. GB, § 42, StV 2003, 257, 259; m.w.N. zusammenfassend Gaede StV 2004, 46, 49 f.

[61] Vgl. Unterpertinger v. AUT, Nr. 110, §§ 28 ff.; Barberà u.a. v. Spanien, Nr. 146, §§ 67 ff., 89.

[62] Vgl. zB Bönisch v. AUT, Nr. 92, §§ 29 ff.; Unterpertinger v. AUT, Nr. 110, §§ 29 ff., 33; Artner v. AUT, Nr. 242-A, § 19; Pullar v. GB, Rep. 1996-III, § 45; A.M. v. IT, Rep. 1999-IX, §§ 23 ff.; Lucca v. IT, 27.2.2001, §§ 37 ff.; Perna v. IT, 25.7.2001, §§ 26 ff.; P.S. v. Deutschland (D) - §§ 20 ff. NJW 2003, 2893.

[63] Vgl. Engel u.a. v. NL, Nr. 22, § 91; Bönisch v. AUT, Nr. 92, § 32; Vidal v. B, Nr. 235-B, § 33.

[64] Vgl. etwa Isgrò v. IT, Nr. 194-A, § 32; Artner v. AUT, Nr. 242-A, §§ 20 ff; Van Mechelen v. NL - §§ 53 ff. StV 1997, 617.

[65] Da der EGMR in Übereinstimmung mit der Wiener Vertragsrechtskonvention judiziert – vgl. m.w.N. Villiger (Fn. 21) Rn. 162 ff. – und das übrige Völkerrecht nach Art. 31 I III lit. c, 32 VRK einbezieht – vgl. nur Golder v. GB, Nr. 18, §§ 29 f.; Luedicke u.a. v. D, Nr. 29, § 39; Hans Adam II v. D. [GC], Rep. 2001-VIII, §§ 43 ff. – müssen die in einem konkreten Fall bestehenden Anforderungen im Lichte des Völkerrechts bestimmt werden, soweit Auslandszeugen betroffen sind.

[66] Vgl. etwa bereits Trechsel, ZStW 101 (1989), 819, 836 f.; die Diskussionsbeiträge der Strafrechtslehrertagung 2003 in ZStW 115 (2003), 671, 690 ff. und m.w.N. Gaede StV 2004, 46, 49.

[67] Vgl. Stavros, The guarantees for accused persons under Art. 6 ECHR (1993), S. 327 ff.; 336 ff.; differenzierend etwa Nelles und Trechsel ZStW 115 (2003), 671, 692 f.

[68] Vgl. zu dieser Konstellation bereits grundlegend Renzikowski JZ 1999, 605 ff., 609 ff. und Van Mechelen v. NL - §§ 49 ff. StV 1997, 617 ff. Auch für diese Konstellation dürften freilich Rückwirkungen entstehen, die BGH NStZ 2000, 265 ff. noch nicht bedacht hatte und – so man das passive Abwarten auf entsprechende Vorgaben aus Straßburg akzeptiert – mangels EGMR-Präzedenzfälle noch nicht bedenken konnte.

[69] Vgl. etwa den Fall Edwards u. Lewis v. GB §§ 57 ff. StraFo 2003, 360 ff. = HRRS 2003, 225; dazu, dass die entschiedene prozessuale Problematik keineswegs nur auf die Tatprovokation zu beziehen ist, s. Waterman, Archbold News, Sept. 2003, 5, 7.

[70] Vgl. etwa BVerfGE 57, 250, 288 ff.

[71] Vgl. BVerfGE 57, 250, 289 f.; BGHSt 35, 82, 86; Meyer-Goßner (Fn. 2), § 96 Rn. 8.

[72] Vgl. BVerfGE 57, 250, 288: verbindliche Entscheidung der Behörde. Vgl. auch § 110b III StPO; zur eventuellen Kenntnis des Gerichts vgl. Janssen StV 1995, 275, 276 ff.

[73] Vgl. bereits unter dem Gesichtspunkt des Art. 6 III lit. d EMRK Renzikowski JZ 1999, 605 ff., insbes. auch 612; Lesch StV 1996, 542, 544 ff. Im hiesigen Zusammenhang vgl. erwägend auch bereits Sommer in der Anmerkung zu Rowe u. Davis v. GB etc. in StraFo 2002, 51 ff. Für einen Verstoß bei der Sonderkonstellation der Identität von Ermittlungsrichter und Verfahrensrichter bereits Janssen StV 1995, 275, 276 ff.

[74] Dies soll hier umfassend verstanden sein, nicht nur den Verdeckten Ermittler erfassen.

[75] Vgl. insbesondere §§ 110b III, 160 I-II; vgl. auch bereits Janssen StV 1995, 275 ff.

[76] Vgl. §§ 160 I- II, 161 I (für präventiv-polizeiliche Auskünfte), 163 II und m.w.N. SK-Wohlers, 27. Lfg. 2002, SK § 161 Rn. 21; § 163 Rn. 3, 18 ff.

[77] Vgl. etwa zur Stellung des Innenministers als oberster Behörde etwa BGHSt 41, 36, 38 ff.

[78] Vgl. dazu eingehend und zu a.A. BGHSt 41, 36 ff.; zust. etwa Meyer-Goßner (Fn. 2), § 110b Rn. 8.

[79] Eben dies sieht und duldet BVerfGE 57, 250, 289 f. in der Hoffnung, mit der – sogleich wieder eingeschränkten – Transformation auf die behördliche Spitzenebene eine zureichende Minimierung des verbleibenden Problems zu bieten.

[80] Dass der Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo bei einer Zurückhaltung von Beweisen eine besondere Bedeutung zukommt, wird hier nicht bestritten. Wenn es aber um die Begründung der Zurückhaltung selbst geht, kann seine Anwendung gerade angesichts der EGMR-Vorgaben nicht hinreichen: Der Verweis auf die mindere und angesichts ihrer Subjektivität bzw. geringen Kontrollierbarkeit nachrangige "Lösung" ignoriert, dass der Entzug der Beweismittel gerade schon den Einfluss beschränkt, das Ergebnis der Beweisaufnahme im Sinne der Verteidigung mitzugestalten, welches erst dann unter Beachtung von in dubio pro reo zu würdigen ist.

[81] Vgl. zum summing up Blackstone's Criminal Practice 2003, D 16.10 ff.; Kühne (Fn. 32), Rn. 1192.

[82] Vgl. Fitt v. GB, Rep. 2000-II, §§ 14, 48 ff.

[83] Vgl. Dowsett v. GB - § 43 HRRS 2003, 171; Jasper v. GB, 16.2.2000, § 53; Rowe u. Davis v. GB, Rep. 2000-II, §§ 62 ff. = StraFo 2002, 51 f. m. Anm. Sommer; Edwards u. Lewis v. GB §§ 54 ff. StraFo 2003, 360 ff = HRRS 2003, 225.

[84] Vgl. etwa die an sich zutreffende Beschreibung bei BGHSt GS 32, 115, 124 "Sie [die zuständige Verwaltungsbehörde] darf nicht nur die von ihr wahrzunehmenden Aufgaben zur Grundlage ihrer Entscheidung machen"; ebenso BVerfGE 57, 250, 283 ff.; Lesch StV 1996, 542, 544: Deformation der Abwägung durch die aufgabenbezogenen Exekutivinteressen.

[85] Vgl. Dowsett v. GB - § 43 HRRS 2003, 171; Rowe u. Davis v. GB, Rep. 2000-II, §§ 62 ff. = StraFo 2002, 51 f. m. Anm. Sommer; zur stRspr. auch Edwards u. Lewis v. GB §§ 54 ff. StraFo 2003, 360 ff = HRRS 2003, 225.

[86] Vgl. für die Anerkennung der Maxime "justice must not only be done, it must also be seen to be done" bei Art. 6 EMRK Delcourt v. B, Nr. 11, § 31; Campbell u. Fell v. GB, Nr. 80, § 81; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (2002), S. 400; Stavros (Fn. 67), S. 215.

[87] Nur angemerkt sei hier, dass sich eine Unterschreitung der EGMR-Maßstäbe auch nicht deshalb rechtfertigen kann, weil die deutsche StPO keine Trennung zwischen Verfahrensrichter und Geschworenen kennt: Das Problem der Zurückhaltung entscheidungserheblicher Beweise wird allein dadurch, dass es keine Geschworenen gibt, nicht ausgeräumt. Auch der Berufsrichter ist beeinträchtigt, wenn er nur einen Ausschnitt der verfügbaren Beweise würdigen kann, BGHSt 38, 237, 245. Die Besonderheiten sind bei der Umsetzung einzubringen.

[88] Vgl. zur Staatsanwaltschaft insofern BVerfGE 63, 45, 63 f. aber auch 103, 142, 156; m.w.N. Beulke, Strafprozessrecht, 6. Aufl. (2002), Rn. 88 und SK-Wohlers 27. Lfg. 2002, SK § 160 Rn. 37 ff. Vgl. m.w.N. zur oft angesprochenen Verschiedenheiten von Prozessstruktur und der prozessualen Denkweise auch Renzikowski JZ 1999, 605, 612 f.

[89] Vgl. Artico v. IT, Nr. 37, §§ 32 ff.; Quaranta v. Schweiz, Nr. 205, §§ 30 ff.; vgl. auch Borgers v. B, Nr. 214-A, §§ 24 ff.: Die lange Tradition einer auf das nationale Prozessmodell bezogenen Praxis hindert die Annahme einer Verletzung nicht.

[90] Vgl. Borgers v. B, Nr. 214-A, §§ 24 ff.; auch Jespers v. B, DR 27, 76 ff., §§ 56 ff. S. dazu, dass diese Rechtsprechung auch für die dt. StPO schlicht den prozesswissenschaftlich herausgearbeiteten Erkenntnissen beisteht die Ausführungen von Wohlers, in SK 27. Lfg. 2002, SK § 160 Rn. 40 m.w.N.

[91] Vgl. m.RS-N. Ashworth, Criminal Process (1998), S. 69 f.; 87 f., 302; Dennis, Evidence, 2. Aufl. (2002), S. 431 f.; Sprack (Fn. 51), S. 68 f.; Blake/Ashworth Crim LR 1998, 16 ff.; knapp auch Kühne (Fn. 32), Rn. 1170. Einführend zu Entstehung und Ausgestaltung des CPS Sprack (Fn. 51), S. 56 ff.; Blackstone's Criminal Practice 2003, D 2.33, 2.38. Das Problem in der Reformdiskussion bleibt – auch – im englischen Verfahren das Ermittlungsverfahren, da der Anklagbehörde die Untersuchung selbst nicht voll unterstellt ist, vgl. Uglow, Criminal Justice, 2. Aufl. (2002), S. 178 ff.; zur dt. Praxis vgl. zudem SK-Wohlers 27. Lfg. 2002, SK § 160 Rn. 9 ff.

[92] Grundsätzlich erkennt das – durch die BGH-Rechtsprechung insgesamt noch nicht zureichend gelöste – Problem auch bereits BGHSt 38, 237, 245: "unmittelbaren Einfluß auf den Gang des ausschließlich der Rechtsprechung vorbehaltenen Strafverfahrens nehmen könnte". Eben diesen Einfluss hat die Exekutive jedoch, da sie – in eigene Aufgaben eingebettet – über justitielle Fragen entscheidet und nur einer formalen gerichtlichen Kontrolle unterworfen ist.

[93] M.w.N. KK-Nack (Fn 1), § 96 Rn 17; BVerfGE 57, 250, 288.

[94] Wie der EGMR jüngst wieder am Beispiel des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung entschieden hat, schließt allein eine möglicherweise erforderliche Gesetzesänderung die Verletzung nicht aus, vgl. Kitov v. Bulgarien, 3.4.2003, § 73.

[95] Vgl. nur für diesen Grundsatz LR-Lüderssen (Fn. 12) § 147 Rn 53 ff.; vgl. aber auch bereits Fn. 12.

[96] Vgl. LR-Schäfer (Fn. 1) § 96 Rn. 1: Amtshilfe; KK-Nack (Fn. 1), § 96 Rn. 1: Unterfall des § 95. Weitere Fälle wie § 54 StPO werden hier nicht spezifisch behandelt.

[97] Vgl. allgemein bereits Fn. 21 und Goodwin v. GB, Rep. 2002-VI, §§ 74 ff.: "crucial importance"; zur Vermeidung eines Leerlaufs / von Umgehungen vgl. Golder v. GB, Nr. 18, §§ 26 ff., 34; Allan v. GB - §§ 42 ff. StV 2003, 257 ff.; M.M. v. NL - §§ 36 ff. StV 2004, 1 ff. und Gaede StV 2004, 46, 51 ff.

[98] Vgl. nur KK-Nack (Fn. 1), § 96 Rn. 1 und allgemein SK-Wohlers, 27. Lfg. 2002, SK § 161 Rn. 25 ff.

[99] Vgl. etwa Jespers v. B, DR 27, 76 ff., § 58, vgl. dort auch § 56: "it matters little … under whose authority they [investigations] are carried out".

[100] Vgl. Irland v. GB, Nr. 25, § 239; Martins Moreira v. Portugal, Nr. 143, § 60; Moreira de Azevedo v. Portugal, Nr. 189, § 73; Wille v. Liechtenstein, Rep. 1999-VII, § 46; HK-EMRK (Fn. 14), Art. 1 Rn. 4; Villiger (Fn. 21), Rn. 64, 124; zur möglichen Zurechnung von Privatpersonen Gaede StV 2004, 46, 50 ff.

[101] Vgl. auch nur Art. 6 III lit. b EMRK.

[102] Vgl. m.w.N. Borgers v. B, Nr. 214-A, §§ 24 ff.; vgl. auch Kudla v. Polen [GC] Rep. 2000-XI, §§ 152 ff. = NJW 2001, 2694 ff.; Schermers, Preface Stavros (Fn. 67); Stavros (Fn. 67), S. 344, 359; Harris/O'Boyle/Warbrick, Law of the ECHR (1995), S. 273: "there remain aspects of the trial process, particularly in criminal cases, in which recognised standards of procedural justice have yet to be fully imposed by the Court" (Neuauflage angekündigt); Villiger (Fn. 21), Rn. 470. Zum Verständnis der Konvention als "living instrument" vgl. Gaede StV 2004, 46, 51.

[103] Vgl. zur Pflicht, die Justiz konventionskonform zu organisieren, jüngst wieder Hennig v. AUT, 3.10.2003, § 38, bei www.hrr-strafrecht.de (demnächst wistra 2004, Heft 4 o. 5); Eckle v. D., Nr. 51, § 84 = EuGRZ 1983, 371 ff.

[104] Vgl. zur auch vom EGMR zu Art. 6 EMRK mehrfach anerkannten Maxime "justice must not only be done, it must also be seen to be done" bereits Fn. 86. In der englischen Literatur – vgl. etwa Sprack (Fn. 51), S. 276; Clayton/Tomlinson, The Law of Human Rights (2000), § 11.67, wird diese Maxime auf LJ Hewart in R. v. Sussex Justices, ex parte McCarthy (1924) K.B. 256, 259 zurückgeführt. Sie lautet dort im Original: it is "of fundamental importance that justice should not only be done but should manifestly and undoubtedly be seen to be done"