HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2004
5. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

BGH 5 StR 458/03 - Urteil vom 16. Dezember 2003 (LG Göttingen)

Tötungsvorsatz (Totschlag; Eventualvorsatz; Indiz der äußerst gefährlichen Handlung: auf der Hand Liegen des Vorsatzes, Strangulieren; voluntatives Vorsatzelement: fehlsamer Beleg einer Grundlage für das Vertrauen auf das Ausbleiben des tatbestandlichen Erfolges; Beweiswürdigung); Abgrenzung Beihilfe und Mittäterschaft.

§ 212 StGB; § 15 StGB; § 25 Abs. 2 StGB; § 27 StGB; § 261 StPO

1. Bei einer objektiv äußerst gefährlichen Handlung, wie es etwa das Strangulieren des Tatopfers unzweifelhaft darstellt, liegt die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes nahe. Das Tatgericht hat dabei diesem Indiz das sich aus den Tatumständen gegebenenfalls ergebende gesteigerte Gewicht beizumessen (hier: außerordentlich lange Dauer des Strangulierens). In einer solchen Fallkonstellation kann (zumindest) bedingter Tötungsvorsatz auf der Hand liegen, ohne dass es dafür besonderer Anforderungen an die Darlegung der inneren Tatseite in den Urteilsgründen bedarf (vgl. BGH NStE Nr. 27 zu § 212 StGB).

2. Zum voluntativen Vorsatzelement: fehlerhafter indizieller Beleg einer Grundlage für das Vertrauen auf das Ausbleiben des tatbestandlichen Erfolges.

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

BGH 3 StR 120/03 - Urteil vom 11. Dezember 2003 (LG Kiel)

BGHSt; Privilegierung (privilegierende Spezialität; Verabreichen von Betäubungsmitteln; Körperverletzung mit Todesfolge; eigenverantwortliche Selbstgefährdung; Fremdgefährdung; Täterschaft; Teilnahme; Akzessorietät; Tatherrschaft); Sittenwidrigkeit der Einwilligung in eine Körperverletzung (Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden; Allgemeinkundigkeit; gute Sitten; anderweitige Strafbarkeit; Konsum harter Drogen; Lebensgefahr; Bedeutung der Verletzung von Universalrechtsgütern).

§ 227 StGB; § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG; vor § 13 StGB; § 27 StGB; § 228 StGB; Art. 103 Abs. 2 GG

1. § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG in der Tatvariante des Verabreichens von Betäubungsmitteln mit Todesfolge steht zu § 227 Abs. 1 StGB nicht im Verhältnis privilegierender Spezialität. (BGHSt)

2. Zur Rechtswidrigkeit einer Körperverletzung, die durch das einverständliche Verabreichen illegaler Betäubungsmittel bewirkt wird. (BGHSt)

3. Privilegierende Spezialität als besondere Form der Gesetzeskonkurrenz liegt vor, wenn ein Strafgesetz alle Merkmale einer anderen Strafvorschrift und wenigstens noch ein weiteres Merkmal enthält, das den in Frage kommenden Sachverhalt unter einem spezielleren Gesichtspunkt erfasst und der Täter durch die Spezialvorschrift privilegiert werden soll. In diesem Fall ist ein Rückgriff auf das allgemeinere Delikt ausgeschlossen, da hierdurch die Privilegierung beseitigt würde (vgl. BGHSt 30, 235, 236). Ob die speziellere Vorschrift den Täter begünstigen soll, ist anhand des Zwecks dieser Vorschrift, des inneren Zusammenhangs der miteinander konkurrierenden Bestimmungen und des Willens des Gesetzgebers zu prüfen (BGHSt 19, 188, 190; 24, 262, 266). (Bearbeiter)

4. Nicht jede Betäubungsmittelgabe führt zwingend zu einer Gesundheitsschädigung. Insbesondere beim Konsum leichter Drogen in geringer Dosis müssen die normalen Körperfunktionen nicht derart nachteilig beeinflusst werden, dass von einem pathologischen Zustand (vgl. BGHSt 43, 346, 354 m. w. N.) gesprochen werden kann. Wer bei der Verabreichung von Betäubungsmitteln nur derartige Wirkungen billigend in Kauf nimmt, macht sich daher nicht der vorsätzlichen Körperverletzung schuldig. (Bearbeiter)

5. Daher beinhaltet auch nicht jede Verabreichung von Betäubungsmitteln mit Todesfolge notwendig eine vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge. Beide stehen trotz des im Vergleich zu § 227 Abs. 1 StGB für die Todesfolge in § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG geforderten erhöhten Grades der Fahrlässigkeit bei gleichzeitig niedrigerer Strafrahmenuntergrenze nicht im Verhältnis der privilegierender Spezialität. (Bearbeiter)

6. Die eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung erfüllt grundsätzlich nicht den Tat-

bestand eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts, wenn sich das mit der Gefährdung vom Opfer bewusst eingegangene Risiko realisiert. Wer eine solche Gefährdung veranlasst, ermöglicht oder fördert, nimmt lediglich an einem Geschehen teil, welches - soweit es um die Strafbarkeit wegen Tötung oder Körperverletzung geht - nicht tatbestandsmäßig und damit nicht strafbar ist (grundlegend BGHSt 32, 262 und ständig, zuletzt BGH, Urteil vom 20. 5. 2003 - 5 StR 66/03 = NJW 2003, 2326). (Bearbeiter)

7. Maßgebliches Abgrenzungskriterium zwischen strafloser Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung und einer Fremdgefährdung ist die Trennungslinie zwischen Täterschaft und Teilnahme. Liegt die Tatherrschaft über die Gefährdungshandlung nicht allein bei dem Gefährdeten, sondern zumindest auch bei dem sich hieran Beteiligenden, so begeht dieser eine eigene Tat. (Bearbeiter)

8. Nach dem Wortlaut des § 228 StGB ist entscheidend, ob die Tat gegen die guten Sitten verstößt. Unerheblich ist daher, ob dieser Makel - auch oder nur - der Einwilligung anhaftet (BGHSt 4, 88, 91; BGH NStZ 2000, 87, 88). (Bearbeiter)

9. Um dem Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) standzuhalten, muss der Begriff der guten Sitten im Sinne des § 228 StGB auf seinen Kern beschränkt werden. Dies bedeutet, dass ein Verstoß der Körperverletzungstat gegen die guten Sitten nur angenommen werden kann, wenn sie nach allgemein gültigen moralischen Maßstäben, die vernünftigerweise nicht in Frage gestellt werden können, mit dem eindeutigen Makel der Sittenwidrigkeit behaftet ist. In diesem Sinne ist eine Körperverletzung trotz Einwilligung des Geschädigten dann sittenwidrig, wenn sie gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt (vgl. BGHSt 4, 24, 32; 4, 88, 91). (Bearbeiter)

9. Die allgemein gültigen, vernünftigerweise nicht anzweifelbaren sittlichen Wertmaßstäbe sind allgemeinkundig. Sie stehen daher der Kenntnisnahme durch das Revisionsgericht offen, ohne dass es ihrer Darlegung im tatrichterlichen Urteil bedarf (vgl. BGHSt 6, 292, 296). (Bearbeiter)

10. Der Senat vermag nicht zu erkennen, dass der Konsum illegaler Drogen nach heute allgemein anerkannten, nicht anzweifelbaren Wertvorstellungen generell noch als unvereinbar mit den guten Sitten angesehen wird. Hierfür reicht allein auch das Verabreichen harter Drogen nicht aus. Maßgeblich ist vielmehr, ob und in welchem Grad durch die konkrete Tat Gesundheits- bzw. Suchtgefahren begründet oder verstärkt werden. Nach allgemeinem sittlichen Empfinden ist die Grenze moralischer Verwerflichkeit dann jedenfalls dann überschritten, wenn bei vorausschauender objektiver Betrachtung aller maßgeblichen Umstände der Betroffene durch das Verabreichen des Betäubungsmittels in konkrete Todesgefahr gebracht wird. (Bearbeiter)

11. Aus dem strafrechtlichen Schutz von Universalrechtsgütern lässt sich, auch wenn sie mittelbar den Schutz von Individualrechtsgütern mitbewirken (s. BGHSt 23, 261, 264; 37, 179, 182), nichts für die Beantwortung der Frage ableiten, ob im konkreten Einzelfall die Einwilligung des Geschädigten in die Verletzung des Individualrechtsguts seiner körperlichen Unversehrtheit mit allgemein anerkannten sittlichen Wertvorstellungen unvereinbar ist (vgl. BGHSt 6, 232, 234). (Bearbeiter)


Entscheidung

BGH 5 StR 308/03 - Urteil vom 4. Dezember 2003 (LG Potsdam)

Betrug (Täuschung; Irrtumserregung: Rechnung, Offerte, Zahlungspflicht, Besonderheiten bei Kaufleuten); Beweiswürdigung (Widerspruchsfreiheit); Überzeugungsbildung; Urteilsgründe (Freispruch: Erörterung der gegen den Angeklagten sprechenden Umstände, Gesamtwürdigung); Tateinheit; Tatmehrheit; Kognitionspflicht.

§ 263 Abs. 1 StGB; § 52 StGB; § 53 StGB; § 264 Abs. 1 StPO; § 261 StPO; § 267 StPO

1. Leichtgläubigkeit oder Erkennbarkeit der Täuschung bei hinreichend sorgfältiger Prüfung schließen die Schutzbedürftigkeit des potentiellen Opfers und damit gegebenenfalls eine Täuschung im Sinne von § 263 Abs. 1 StGB nicht aus (vgl. BGHSt 34, 199, 201; BGH NStZ 2003, 313, 314).

2. Eine - regelmäßig konkludente - Täuschung kann auch gegeben sein, wenn sich der Täter isoliert betrachtet wahrer Tatsachenbehauptungen bedient. In solchen Fällen wird ein Verhalten dann zur tatbestandlichen Täuschung, wenn der Täter die Eignung der inhaltlich richtigen Erklärung, einen Irrtum hervorzurufen, planmäßig einsetzt und damit unter dem Anschein "äußerlich verkehrsgerechten Verhaltens" gezielt die Schädigung des Adressaten verfolgt, wenn also die Irrtumserregung nicht die bloße Folge, sondern der Zweck der Handlung ist (vgl. BGHSt 47, 1; BGH wistra 2001, 386).

3. Der Beschluss des Senats vom 27. Februar 1979 - 5 StR 805/78 - (veröffentlicht in NStZ 1997, 186) darf nicht dahin missverstanden werden, dass eine vorsätzliche Täuschung von Kaufleuten in Fällen vergleichbarer Art regelmäßig zu verneinen wäre.


Entscheidung

BGH 4 StR 250/03 - Urteil vom 20. November 2003 (LG Dresden)

Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (zeitliche Verknüpfung: Beschränkung der Opfer auf aktuelle Führer oder Mitfahrer eines Kraftfahrzeuges; Angriff auf die Entschlussfreiheit; teleologische Auslegung).

§ 316a StGB

1. Der Tatbestand des § 316 a StGB setzt nach seinem Wortlaut eine zeitliche Verknüpfung dergestalt voraus, dass im Tatzeitpunkt, d.h. bei Verüben des Angriffs, das Tatopfer (noch) "Führer" oder "Mitfahrer" eines Kraftfahrzeugs ist (im Anschluss an BGH 4 StR 150/03 v. 20. November 2003; Aufgabe von BGHSt 13, 27 ff).

2. Ein Angriff auf die Entschlussfreiheit ergibt sich auch nicht allein aus dem Umstand, dass sich der Wille des Geschädigten auf eine Fahrt zu seiner Wohnung bezog, während die Angeklagten ihn an einen entlegenen Tatort bringen.


Entscheidung

BGH 4 StR 427/03 - Beschluss vom 11. Dezember 2003 (LG Dortmund)

Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (zeitliche Verknüpfung: Beschränkung der Opfer auf aktuelle Führer oder Mitfahrer eines Kraftfahrzeuges; Genügen einer Beschäftigung mit dem Fahrzeug trotz Anhaltens).

§ 316a StGB

Auch nach den Maßstäben der geänderten Rechtsprechung des Senats genügt es für die geforderte zeitliche Verknüpfung (Eigenschaft als Führer eines Kraftfahrzeugs), wenn die / der Geschädigte das Fahrzeug zur Überprüfung anhält.


Entscheidung

BGH 5 StR 457/03 - Urteil vom 4. Dezember 2003 (LG Cottbus)

Heimtückemord (Ahnungslosigkeit und Wehrlosigkeit: Grenze der einschränkenden Auslegung über die subjektive Komponente bei schlafenden Opfern).

§ 211 StGB

Wer ein Opfer tötet, das, wie er bemerkt oder auch nur für möglich hält, schläft, weiß selbstverständlich um die aus dem wahrgenommenen Zustand folgende Arglosigkeit und die hierdurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers, die er mit Vornahme der konkreten Tötungshandlung in der erkannten Situation seines Opfers bewusst ausnutzt. Anders als bei anderen Fallkonstellationen der Heimtücke ist dieser klare Befund durch eine noch so heftige Gemütsbewegung des Täters nicht in Frage zu stellen. Dass dieser seinen Tötungsentschluss in gleicher Weise in die Tat umgesetzt hätte, wenn er das Opfer nicht im Zustand der Ahnungs- und Schutzlosigkeit angetroffen hätte, stellt die Erfüllung des Mordmerkmals nicht in Frage.


Entscheidung

BGH 4 StR 275/03 - Beschluss vom 16. Oktober 2003 (LG Stralsund)

Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr (Fahrzeugführer; Pervertierung des Verkehrsvorgangs; Schädigungsvorsatz); Diebstahl (Vollendung; Beendigung); räuberischer Diebstahl (Beutesicherungsabsicht).

§ 315 b StGB; § 242 StGB; § 252 StGB

Ein vorschriftswidriges Verkehrsverhalten wird nur dann von § 315 b StGB erfasst, wenn der Fahrzeugführer das von ihm gesteuerte Fahrzeug in verkehrsfeindlicher Einstellung bewusst zweckwidrig einsetzt, er mithin in der Absicht handelt, den Verkehrsvorgang zu einem Eingriff in den Straßenverkehr zu "pervertieren", und es ihm darauf ankommt, durch diesen in die Sicherheit des Straßenverkehrs einzugreifen (st. Rspr., vgl. nur BGHSt 41, 231, 234; BGHR StGB § 315 b Abs. 1 Nr. 2 Hindernisbereiten 3 m.w.N.). Nach der neueren Rechtsprechung des Senats muss zu dem bewusst zweckwidrigen Einsatz eines Fahrzeugs in verkehrsfeindlicher Einstellung hinzukommen, dass das Fahrzeug mit (mindestens bedingtem) Schädigungsvorsatz eingesetzt wird (vgl. BGH NStZ 2003, 486 f.). Damit scheidet in Fällen, in denen der Täter sein Fahrzeug als Fluchtmittel benutzt und dabei (lediglich) verkehrswidrig fährt, die Anwendbarkeit des § 315 b StGB jeweils dann aus, wenn er nur mit Gefährdungsvorsatz handelt.